Familien unter Druck

Drei Herausforderungen an die Gesellschaft

«Das klassische Familienmodell hat zurzeit keine Zukunft.» So drastisch sagt es der Soziologe und Familienforscher Hans Bertram, emeritierter Professor an der Berliner Humboldt-Universität. Er sieht die Gesellschaft vor eine dreifache Herausforderung gestellt. 
Der Soziologe und Familienforscher Hans Bertram

Die Familie als Gemeinschaft von «Vater, Mutter und Kind(er)» gibt es seit dem 19. Jahrhundert. Bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhundert galt eine klassische Arbeitsteilung. Der Vater verdiente das Einkommen, die Mutter besorgte den Haushalt und die Erziehung und erbrachte damit eine mindestens ebenso grosse Arbeitsleistung wie der Vater. Noch nach dem Zweiten Weltkrieg arbeitete eine Mutter rund 80 Stunden pro Woche und verbrauchte ebenso viele Kalorien wie ein Stahlarbeiter, gibt Bertram zu bedenken.

Zeitbedürfnisse der Kinder und der Wirtschaft im Konflikt

Während damals auch ein Arbeiter einen Familienlohn verdiente, reicht heute ein Einkommen häufig nicht mehr für den Unterhalt einer Familie aus. Zudem werden die gut ausgebildeten Frauen von der Wirtschaft mehr denn je gebraucht. Doch die Berufswelt nimmt immer noch wenig Rücksicht auf die Bedürfnisse der Familie, stellte Bertram an einer Fachtagung zum Thema «Wer darf Eltern sein?» an der Universität Fribourg am 17. Juni 2016 fest. Denn «Eltern müssen ihre Zeit nach der Zeit der Kinder ausrichten.» Kinder können sich nicht an die Arbeitszeiten der Eltern anpassen. Bertram sagt es drastisch: «Die Berufswelt bestraft das Kinderhaben und die Fürsorglichkeit.»

Drei Herausforderungen für die Gesellschaft

Die Gesellschaft steht somit laut Bertram vor drei Herausforderungen: Erstens muss sie die Frage klären «Wie sieht eine berufsbegleitete Elternschaft aus?» Heute muss sich eine Familie der Berufswelt anpassen. Es müsste aber umgekehrt sein, fordert Bertram. Er kann sich vorstellen, dass eine Firma oder ein Konzern ein bestimmtes Mass an Fürsorglichkeit bzw. soziales und familiäres Engagement von leitenden Mitarbeitenden verlangt. Zudem könnte die Berufswelt auch temporäre Ausstiegsmöglichkeiten ohne Nachteile für die Laufbahn schaffen.

Nachteile der Familienarbeit kompensieren

Zweitens müssen Politik und Wirtschaft die Frage klären: Wie kann die (berufliche) Benachteiligung, die aus der Kinderbetreuung entsteht, kompensiert werden? Heute erleiden Eltern, die sich in hohem Mass für die Familienarbeit entscheiden, Nachteile namentlich im Beruf (Karriere) und bei der finanziellen Absicherung im Alter. Und dies, obwohl sie wichtige Leistungen zugunsten der Gesellschaft erbringen.

Somit stellt sich auch die Frage: Welchen (finanziellen) Beitrag leisten diejenigen an die Fürsorglichkeit, die sich nicht für Kindern entscheiden? Hier tut sich die Politik besonders schwer, wie das Beispiel Deutschland zeigt, wo das Verfassungsgericht eine Kompensation verlangt, die von Regierung und Parteien aber nach wie vor ignoriert wird.

Zur Webseite:
Schweizerischen Stiftung für die Familie (SSF)

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Datum: 03.07.2016
Autor: Fritz Imhof
Quelle: Livenet / SSF

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