Kurswechsel für "Öltanker Erde"?

Wir vergessen leicht, dass auch Europa und die USA jedes Jahr mehr Öl konsumieren.
Renaissance der Atomkraft?
Stefan Schmidheiny
Den Stromverbrauch in den nächsten 14 Jahren um 20 Prozent zu senken, wäre gemäss VCS möglich.
Dieter Imboden

In den letzten Jahren spürte die Welt wie selten zuvor, dass die Energievorräte endlich sind, dass die Nachfrage höher als das Angebot ist und die Auswirkungen des Energiekonsums unsere Existenz bedrohen. Einige Szenarien.

23. Mai 2006 – der 20. Jahrestag der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl. „Nie wieder!“ pochte es in Schlagzeilen, Kommentaren und Interviews. Doch gleichzeitig erfuhren wir, dass die Atomkraft ein unerwartetes Comeback erlebte, insbesondere in Amerika, Russland und in osteuropäischen Ländern.
Die Atomkraft scheint einen grossen Vorteil zu bieten, der heute ins Gewicht fällt: Sie emittiert relativ wenig CO2, sofern man den Unterhalt und den Abbau der Anlagen nicht berücksichtigt. Somit scheint Atomkraft in einer Zeit der absehbaren Verknappung von Elektrizität und Erdöl ein Ausweg zu sein.

Wir alle konsumieren mehr Erdöl

Doch letztes Jahr plagte den Konsumenten vor allem der Preisanstieg des Erdöls und der Treibstoffe, verursacht durch die massiv gesteigerte Nachfrage aus China und Indien. Dabei vergessen wir leicht, dass auch Europa und die USA jedes Jahr mehr Öl konsumieren.
Das ist nicht nur die Folge von grösseren Autos, sondern eine direkte Auswirkung der Globalisierung, wie der bekannte Physiker Ernst Ulrich von Weizsäcker betont. Die globalen dezentralen Produktionsmethoden sowie die Verlagerung der Produktion in Billigländer brächten mehr Verkehr und damit mehr Energieverbrauch, aber auch weniger Umweltschutz.

Atomstrom – saubere Alternative zum Öl?

Nun bahnt sich vor dem Hintergrund der Energieknappheit also eine Renaissance der Atomkraft an: Vor allem in Asien gehen jährlich mehrere neue AKWs in Betrieb, und mit Finnland hat erstmals wieder ein EU-Land einen Neubau begonnen.

Vorerst werden bestehende Typen weiterentwickelt; geforscht wird aber auch an Modellen, die von der Konstruktion her unfallsicher sein sollen und daher noch raffiniertere Sicherheitssysteme aufweisen. Ungelöst ist jedoch das Abfallproblem: Endlager sind bestenfalls geplant, aber noch nirgendwo fertig gebaut, denn nur relativ wenige Menschen sind bereit, in der Nähe von Endlagerstätten zu leben.

In den USA denkt man gar an eine Verdreifachung des Bestandes heutiger AKWs, wie Präsident Bush bekannt gab. Auch dort liegt der schwere AKW-Unfall von Harrisburg schon länger zurück. Der grosse Energiehunger von Wirtschaft und Privaten scheint nur so gestillt werden zu können.

Verheissungsvolle Ansätze, aber …

Die Erdölkrise in den 70er-Jahren und die Nachhaltigkeits-Kampagne des Schweizer Unternehmers Stefan Schmidheiny haben für das Energieproblem sensibilisiert und zahlreiche Anstösse vermittelt. Die drohende Klimaveränderung hat den Bemühungen zusätzlichen Schub verliehen.
Andererseits ist das Verantwortungsbewusstsein für die „Umwelt“ seit den 90er-Jahren in der Politik in den Hintergrund getreten. Projekte wie zum Beispiel die Ausbildung von Fachleuten für Alternativenergien wurden gestrichen. Ebenso wurden im Rahmen von Sparübungen Kürzungen bei den zuständigen Ämtern verfügt. Das Problem der Sicherung der sozialen Sicherheit und der wirtschaftlichen Zukunft hat die Sorge für unsere ökologischen Lebensgrundlagen verdrängt.

... keine griffigen Massnahmen

Der Versuch, griffige gesetzliche Massnahmen durch freiwillige Vereinbarungen der Wirtschaft mit dem Bund zu ersetzen, muss schon heute als gescheitert betrachtet werden. Die Autoimporteure haben zum Beispiel angeboten, Flotten mit niedrigerem Durchschnittsverbrauch anzubieten und so zur Verringerung des CO2-Ausstosses beizutragen.

Doch nun bieten die meisten Autofirmen immer grössere, schwerere und stärkere Fahrzeuge an und berufen sich dabei auf die Konsumentenwünsche. Diese Fahrzeuge neutralisieren durch höheren Treibstoffverbrauch die Erfolge der Techniker bei der Produktion von energieeffizienteren Motoren, sodass das angestrebte Ziel, die CO2-Emmissionen bis 2010 auf den Stand von 1990 zu senden, wie es die Schweiz im Kyoto-Protokoll versprochen hat, wahrscheinlich utopisch geworden ist.

... und fehlende Anreize

Eine ähnliche Entwicklung hat sich im Büroalltag gezeigt. Weil die Strompreise nach wie vor relativ günstig sind, fehlt es an Anreizen, den Verbrauch energisch zu senken. Ein Anreiz könnte darin bestehen, die Strompreise für die Wirtschaft durch Abgaben zu belasten und gleichzeitig die Lohnnebenkosten zu senken, wie zum Beispiel die Evangelische Volkspartei (EVP) vorschlägt.

Noch fehlt es neben genügender medialer Sensibilität auch am politischen Willen, wirksame Massnahmen zur Energiereduktion zu beschliessen. Ein Beispiel dafür ist eine Pressekonferenz vom 8. Mai 2006 im Berner Bundeshaus, in der die EVP ankündigte, die drohende Erdölverknappung zum Anlass für insgesamt elf parlamentarische Vorstösse zu nehmen.
Der Energiefachmann und Berner Grossrat Josef Jenni belegte anhand von Zahlen und Fakten, dass die Verknappung zunehmen wird und dass der Höhepunkt der weltweiten Erdölförderung bald überschritten sein dürfte. Das mässige Interesse an der Medienkonferenz zeigte indessen, dass das Problem zurzeit noch an den Rand gedrängt wird.

Die Technik wäre vorhanden

Der VCS hat in seiner Mitgliederzeitung im April 2006 darauf hingewiesen, dass es bereits mit heutiger Technik zum Beispiel möglich wäre, den Stromverbrauch in den nächsten 14 Jahren um 20 Prozent zu senken. Das gleiche wäre bei Treibstoffen möglich – bei einem unverminderten Lebensstandard.
Die von der Atomlobby beschworene Perspektive, dass uns 2020 die Lichter ausgehen, wenn nicht neue AKWs gebaut werden dürfen, ist also nicht zwingend. Doch die Politik müsste die entsprechenden Rahmenbedingungen beschliessen. Der Freizeitverkehr und die Arbeitspendlerstrecken dürften nicht weiter wachsen.

Eine Korrektur unseres Mobilitätsverhaltens wäre sicher sinnvoller, als der Vorschlag eines Energiefachmanns, den die NZZ am Sonntag am 23. April 2006 präsentierte. Dieser forderte die Erdölindustrie auf, Atomreaktoren zur Produktion von billigem Dampf einzusetzen, um die Erdölquellen effizienter auszubeuten. Über die Risiken solcher Technik schwieg sich der Fachmann aus.

Ungeliebte Alternativen

Hinter solchen Vorschlägen gerät eine ganze Reihe von alternativen Vorschlägen in Vergessenheit. Ein Beispiel: Im Dezember 2004 beschrieb die NZZ am Sonntag unter dem Titel „Ökopower aus heisser Wüstenluft“ einen Plan, in der südaustralischen Wüste mit hohlen Türmen den Auftrieb heisser Luft für die Stromproduktion zu nutzen.
Die Anlage würde mit 200 Megawatt etwa einen Fünftel der Leistung eines AKW erreichen. Ob sie allerdings gebaut wird, ist noch ungewiss, da sie erst nach rund 20 bis 30 Jahren rentieren würde. Der Clou bei der Sache: Bereits die BBC hat vor Jahrzehnten in Spanien eine entsprechende Versuchsanlage aufgebaut. Doch die ABB hat den Abbau befohlen. Hatte man Angst, mit dem Projekt die eigenen favorisierten Produkte zu konkurrenzieren?

Klar ist: Die Erde erfordert einen Schwenker hin zu erneuerbaren Energien, eine deutliche Senkung des Verbrauchs fossiler Energien und ein neues Bewusstsein für die Auswirkungen unseres Energieverbrauchs auf unsere Lebensgrundlagen.

Der ETH-Professor und heutige Präsident des Forschungsrats des Nationalfonds, Dieter Imboden, gibt zu bedenken, ein solcher Umbau erfordere wohl zwei bis drei Generationen. Er schreibt dazu: „Wenn wir Glück haben, gewähren uns das Klima und die zur Verfügung stehenden fossilen Energieressourcen diese Zeitspanne, vielleicht aber ist die Zeit für den Kurswechsel jetzt schon knapp geworden, auch wenn der Öltanker ‚Erde’ scheinbar noch ruhig und ungestört durch die Wellen pflügt.“

Fast beschwörend stellt er fest: „Was tut der gute Kapitän, wenn er dem Signal auf dem Radarschirm nicht traut? Er macht sich Gedanken über seinen Bremsweg oder über die Zeit, die er für einen Kurswechsel braucht.“

Artikel zum Thema:
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Kommentar: Zukunft Kernkraftwerke – wirklich?

Datum: 31.01.2007
Autor: Fritz Imhof
Quelle: Bausteine/VBG

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