Kirchenräume als Kult- und Offenbarungsstätte über die Jahrhunderte

Prager Basilika
Schematische Ansicht einer Basilika
Gotische Kirchenfassade

Der Geisteswissenschafter Johannes Corrodi und der Künstler Andreas Widmer haben sich zur Vielfalt der architektonischen Formen kirchlicher Gebäude Gedanken gemacht und dazu gemeinsam ein Seminar in Zürich durchgeführt. Der Anlass vermittelte spannende Anregungen.

Religiöse Gebäude und Kultstätten sind ein Hinweis auf die Mitte der betreffenden Religion. "Im Christentum ist die Selbstoffenbarung des Schöpfergottes in Jesus Christus übereinstimmend mit dieser Mitte", betonte der Religionsphilosoph Johannes Corrodi, Mitarbeiter des VBG-Instituts, am 29. März in Zürich. Der Gekreuzigte und Auferweckte lebt in seinem Leib, der Kirche, weiter. Seine Gegenwart ist dabei weder auf ein Gebäude noch auf bestimmte Orte beschränkt. Gott ist allgegenwärtig und nicht nur einem bestimmten Volk zugänglich. Kann ein solcher Glaube sich überhaupt in Gebäuden, Formen und Riten ausdrücken und sich mit architektonischen Formen verbinden? Gerade weil diese Glaubensmitte immer nur konkret, also raum-zeitlich fassbar ist, muss sich der Glaube auf bestimmte "Details" und ganz unterschiedliche Formen konzentrieren, schliesst Corrodi. Denn: Was in den Verstand kommt, muss über die Sinne gehen.

Zwei Haupttypen: Basilika und Zentralbau

Der Künstler Andreas Widmer vermittelte einen Abriss sakraler Architekturgeschichte. Er unterschied zwei Haupttypen christlicher Architektur: die Basilika - nach dem Muster der Synogoge - sowie den meist runden oder achteckigen Zentralbau mit einem Altar in der Mitte. Die Basilika war eine Weiterentwicklung der römischen Markthalle, oft ergänzt mit einer mit Säulen umgebenen Vorhalle, einem Altar und einem Taufbecken. Sie ist nach dem Kirchenbau-Theoretiker Rudolf Schwarz eine Weg-Kirche. Die sich auf dem Weg befindliche Gemeinde ist nach vorne ausgerichtet, wo das Wort verkündigt wird. Die Gemeinde antwortet darauf, indem sie sich zur Eucharistie nach vorne bewegt.

Der Zentralbau betont dagegen die Gemeinschaft und Ruhe. Sein Nachteil: Er kann zur Bildung einer sich abschliessenden Gemeinschaft verleiten. Die christliche Kirche muss aber offen bleiben für andere Menschen und zur Welt. In neuerer Zeit wurde der Rundbau wieder angewandt, um die Abkehr von der Priesterkirche zu demonstrieren und dem Bedürfnis entgegen zukommen, Gemeinschaft zu erleben. Interessant ist eine Kombination beider Formen: Die Christophorus-Ovalkirche auf Sylt. Ihre elliptische Form erlaubt gleichzeitig Längsausrichtung nach vorne (Altar und Lesepult befinden sich dabei auf einander gegenüberliegenden Seiten) und sie erlaubt die gemeinschaftliche Sitzanordnung.

Der Wandel der Sakralen Bauten über die Jahrhunderte

Sakrale Bauten des Mittelalters visualisierten den unsichtbaren Schöpfer, der sich in der Schöpfung erkennen lässt. Alles was ist, ist schön, weil es von Gott gemacht ist. Auch das weniger Schöne, das Hässliche, ist von Gott gemacht. Weil es weniger Schönheit enthält, löst es in uns den Wunsch nach Vollkommenheit aus. "Hässliche" Fratzen an romanischen und gotischen Kirchen sind laut Widmer aus dieser Sicht heraus zu verstehen. Die Schönheit der Schöpfung ist dagegen im Kircheninnern zu finden.

Die Antike symbolisierte das Höchste und Ewige mit Licht. Ebenso sind in romanischen Kirchen die Wände mit lichthaltigem Material ausgestattet. Sie verweisen auf die Qualität von Gottes Schöpfung. Die Säulen symbolisierten den Menschen, aber auch das Tragende und Wachsende. Die Kirchen sind meistens als Kreuz gestaltet, in Anlehnung an das Kreuzesgeschehen.

In der Gotik bilden Glasfenster eine Weiterentwicklung der Wandmalerei. Sie machen die Aspekte des Lichts anschaulich. Die Säulen entwickeln sich zu Bäumen. Die gotische Kathedrale wird zum Treibhaus des Steins. Das Vergängliche nimmt am Ewigen teil. Die Gotik wollte nicht den Raum erleuchten und das Licht zelebrieren, sondern seine Wirkung darstellen und die wichtigsten Eigenschaften der Schöpfung sichtbar machen.

In der Renaissance dominiert die gesetzmässige Anordnung aller Teile. Sie fügen sich gemäss einer Zahl, Proportion und Ordnung zu einem Ganzen. Die Vollkommenheit ist jetzt eine mathematische, wobei die schönste Zahl die 1 ist. Die Wände waren meistens weiss - und damit eigentlich nicht existent. Die Wirklichkeit als Ganze wird als homogener, berechenbarer Raum gesehen.

Seit der Reformation und Barock gibt es die grosse Ratlosigkeit im Kirchenbau, wie es auch ein theologische Ratlosigkeit gibt. Der Glaube inkarniert sich nicht mehr im Kirchenbau. Ganz auserlesene Beispiele bilden dazu eine Ausnahme wie etwa die Kirche aus Holz und Bachstein sowie einer Glasfront im finnischen Otaniemi bei Helsinki. In gewisser Weise verkörpert dieser Bau eine "entmaterialisierte" Kirche - die Nicht-Verbindung von Gott und Raum.

Datum: 14.09.2003
Autor: Fritz Imhof
Quelle: VBG

Publireportage
Werbung
Livenet Service
Werbung