«Lange Zeit führte ich ein Doppelleben»

Anatolij Ivanovich Cherkassov
Sowjetunion
Poster

Sein Leben stand während Jahrzehnten unter dem Zeichen von Hammer und Sichel: Anatolij Cherkassov, Professor an der staatlichen Universität Moskau, Oberst und Leiter des Politkommissariats der Luftwaffe, war überzeugter Atheist und Kommunist – bis seine grosse Wende kam.

Russland ist immer für Überraschungen gut. Knapp drei Wochen vor der Präsidentenwahl hat Präsident Wladimir Putin Ministerpräsident Michail Kasjanow und dessen Kabinett entlassen. Um die Mentalität in Russland besser einschätzen zu können, ist das Interview von Thomas Feuz mit einem frühern Insider, Anatolij Ivanovich Cherkassov, sehr aufschlussreich.

Thomas Feuz: Sie lebten in einem System, das sich die Eroberung der Welt zum Ziel gesetzt hatte.
Anatolij Cherkassov: Unsere Propaganda sagte damals, dass Amerika, Deutschland und die Nato unser grösster Feind war. Man warnte uns, nach 1918 und 1941 würden weitere Angriffe folgen. In meinem persönlichen Umfeld verloren 76 Menschen aus teils hohen Positionen ihr Leben. Von Kindheit an sagte man mir, ob ich wollte, dass so etwas nochmals geschieht.

Glaubten Sie in Ihrem Innersten an den Sieg der sozialistischen Internationale?
Ich habe von ganzem Herzen geglaubt, dass der Westen unser grösster Feind ist. Früher oder später musste jedoch irgend etwas passieren! Gott hat die Situation verändert, damit die Menschen einander von Angesicht zu Angesicht sehen können. Wenn man mir das früher erzählt hätte, hätte ich wohl gedacht, dass das ein Alptraum ist: Dass ich, ein Politkomissar, mit meinen schlimmsten Feinden im gleichen Büro sitzen würde! Ich hätte mich wohl sofort erschossen. Doch das ist Gottes Verdienst! Er hat meine falsche Prägung wie ein Tuch von meinen Augen genommen.

1979 sass ich mit meiner Frau in der Küche und wir freuten uns, in einem so wunderbaren kommunistisch-sozialistischen Land leben zu dürfen. Heute finde ich es lächerlich, dass ich ein solcher Fanatiker gewesen bin.

Dafür haben Sie die besten Jahre Ihres Lebens eingesetzt?
Eigentlich müsste man den Blick verändern und versuchen, der Jugend andere Wege aufzuzeigen. Bis zur Demokratie sind wir noch weit entfernt. Seit wir uns ihr nähern, erkennen wir, dass wir eigentlich gar keine Feinde besitzen. Seit Glasnost und Perestrojka sind bereits viele Jahre vergangen. Aber das Leben der älteren Generation ist stehengeblieben. Sie sind meist sehr arm, haben keine Visionen und auch keine Möglichkeiten, sich vom wirklichen Zustand der Welt zu überzeugen. Die neue Generation betrachtet den Westen, seine Wirtschaft und Kultur objektiv und denkt anders.

Die politische Wende kam 1989/90. Doch Ihr Leben erfuhr schon vorher eine grosse Veränderung.
Das war ein langer Weg voller Zweifel und Tränen. Es war für mich sehr schwierig, diese beiden Richtungen auszuleben zwischen dem Gewissen und der alltäglichen Realität. In Worten kann man das nur schwer ausdrücken. Ich fand bereits im Militär zum Glauben an Jesus Christus, lebte aber während langer Zeit ein Doppelleben. Ich hatte oft das Gefühl des Erstickens, weil ich von von zwei verschiedenen Seiten einen grossen Druck verspürte. Ich versuchte oft, mit meinen Offizieren und Soldaten über Gott zu reden, wurde aber nur komisch angeschaut. Doch Gott hat mich die ganze Zeit über beschützt und bewahrt. Heute bezeichne ich es als ein Wunder, dass ich als Christ an einer solch hohen Position überleben konnte. Wenn ein hoher Offizier etwas Positives zum Thema Glauben sagte, war er meist innert 24 Stunden verschwunden.

Sie haben Ihre Zeit und Ihre Kräfte ganz in den Dienst des Evangeliums von Jesus Christus gestellt. Warum?
Mein Leben gehört nun einem anderen Herrn. So bin ich einerseits Evangelist und Prediger, aber auch juristisch tätig, Chefredaktor einer christlichen Zeitschrift und Sekretär des Vereins Christlicher Kriegsveteranen und Direktor des Hilfswerks „Haus der Hoffnung und Barmherzigkeit“.

Wird die Sowjetunion wieder erstarken?
Eigentlich will die Masse der Bevölkerung das alte System gar nicht mehr. Die Jugend schaut nach vorne – und nach Westen. Meine Generation lernt langsam umzudenken. Russland wird hoffentlich eine starke Demokratie werden und davon werden alle profitieren können. Doch unsere Tradition war immer totalitär geprägt. Dieses Gedankengut zu ändern, braucht lange Zeit. Die neue Generation muss erst umerzogen und Barrieren müssen abgebaut werden. Wenn wir das Positive des Westens übernehmen und hart arbeiten, werden wir den Anschluss schaffen.

Trotzdem: Militär und insbesondere Geheimdienste sind nie nachhaltig umgebaut worden.
Ich bin erfreut über Ihre differenzierten Fragen, aber dem ist nicht so. Diese Blöcke arbeiten für sich und sind unabhängig voneinander. Es ist eine grosse Tragödie, dass wir zwar Gesetze haben und grosse Bevölkerungsteile Polizisten sind, aber niemand die Gesetze befolgt. Ich bin erstaunt darüber, dass Menschen hier im Westen Gesetze befolgen. So bin ich erstaunt, dass ich im Westen so wenig Polizisten sehe. Bei uns funktioniert das noch gar nicht. Mit dem Gesetz hängt sehr viel zusammen: der Kulturwandel, die Ideologie, die Möglichkeiten, Leben zu gestalten. Westliche Staaten setzen auf Verfassungen und Gesetze und daraus oder darauf entwickelte sich alles. Das ist ein langer Prozess.

Welche Person hat die Weltgeschichte am meisten verändert?
Ich habe in Petrosawodsk Geschichte und in Leningrad kulturelle Angelegenheiten studiert und bin ein grosser Geschichtsfan. Meine Erkenntnis: Gott erwählt Leute, damit sie die Welt verändern können. Ich liebe die Germanistik sehr und lese die grossen deutschen Dichter sehr gerne, die auch Russland beeinflusst haben.

Ich könnte viele Persönlichkeiten nennen, beschränke mich aber auf folgende: Konrad Adenauer, Kanzler Helmut Kohl, Michail Gorbatschow und Deng-Xiao-Ping. Das sind Persönlichkeiten, die wirtschaftlich und politisch auf der Welt sehr viel verändert haben.

Welche Person bedeutet Ihnen persönlich am meisten?
Ganz klar: Jesus Christus. Dann aber auch meine Schwiegermuter, die mich zu Jesus geführt hat. Ich bin Gott sehr dankbar, dass ich ihre Liebe erfahren durfte und er diese Frau benutzt hat, um auf diese Weise «Geschichte zu schreiben».

Was bedeutet Ihnen Liebe?
Sehr viel! Ohne Liebe könnte es gar kein Leben geben, wäre Leben undenkbar. Seit einigen Jahren weiss ich: Die Quelle der Liebe ist Gott. Und damit ist eigentlich alles gesagt.


Unsere Welt ist voll Misstrauen, Angst und Hass. Wie kann man das ändern?

Die Frage ist schwierig. Ich möchte sie von der Bibel her beantworten. Die Tragödie ist eigentlich die, das die Menschheit nicht nach der Bibel lebt. Man will die Menschheit mit eigenen Kräften verändern. Aber Gott hat die Übersicht übers Ganze und hält die Welt in der Hand. Und die Menschen, die Gott kennen, und die Gottes Liebe ausleben, bilden das Positive und haben einen guten Einfluss. Doch 90 Prozent der Bevölkerung haben Gottes Absichten nicht verstanden. Viele haben sie akzeptiert, aber setzen sie nicht in die Praxis um. Sie verändern sich selber nicht, erwarten dies aber von den andern. Zum Vergleich: Wenn ich etwas von meiner Familie erwarte, aber nicht Vorbild bin, dann bin ich letztlich unglaubwürdig. Oft ist unser Einfluss in unserer Welt sehr klein, weil wir Theoretiker und nicht Praktiker sind.


Haben Sie einen Leitspruch, der über Ihrem jetzigen Leben steht?

Ich könnte viele gute Ideen von Philosophen erwähnen. Aber mir ist folgender Gedanke wichtig: Ich möchte mit Jesus Christus zusammen meinen Weg gehen und mich von ihm führen lassen, ihn an der Hand halten. So können auch schwache Hände stark werden und in einer finstern Welt etwas erreichen.

Datum: 26.02.2004

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