1,37: Was hilft Schweizer Familien wirklich?

Nicht nur Geburten: Auch die Zahl der Trauungen ist 2003 weiter gesunken.
Einseitig: Die Medien rechnen immer wieder vor, was ein Kind kostet.
Kinder fordern – und geben viel

Die durchschnittliche Anzahl Kinder, die eine Frau im Lauf ihres Lebens zur Welt bringt, ist in der Schweiz letztes Jahr auf ein Rekordtief von 1,37 gesunken. „Wer sich heute für Nachwuchs entscheidet, muss sich auf ein Leben zwischen Armut und Dauerstress gefasst machen“, schreibt ‚Die Weltwoche’ in einem Artikel, der sich auf die neuen Geburtenzahlen des Bundesamtes für Statistik bezieht.

Die Weltwoche beleuchtet die demografische Situation vor allem aus dem Blickwinkel des Mittelstands. Zulange hätten arme Familien und die Situation der Alleinerziehenden die familienpolitische Debatte geprägt, bemängelt Autor Markus Somm. Er macht deshalb Vorschläge, die vor allem mittelständische Familien unterstützen sollen.

Laut Somm sind dringende Massnahmen nötig, wenn wir nicht auf Kosten der Zukunft des Sozialstaates leben wollen. Er bestätigt damit auch eine Beobachtung der Schweiz. Stiftung für die Familie, wenn er schreibt: „Das Trittbrettfahrerproblem ist akut: wer keine Kinder auf die Welt stellt, macht heute eine klügere Rechnung.

Sozialstaat gegen Kinder

Kinder erfordern unheimlich hohe private Investitionen – den Gewinn daraus beziehen die Eltern aber nicht wie früher selbst, sondern alle, die einst von diesen kommenden Beitragszahlern an den Sozialstaat profitieren. Man müsse sich bewusst sein, dass der heutige Sozialstaat jeden Anreiz beseitigt habe, Kinder auf die Welt zu stellen. Kinder seien heute, streng ökonomisch gesehen, eine Verlustrechnung, die man nur aus emotionalen Gründen auf sich nimmt.

Eigenartigerweise fordert Somm aber nicht Konsequenzen aus dieser Tatsache, sprich eine breitere Solidarität zwischen Kinderlosen und Erziehenden, sondern lediglich bessere Rahmenbedingungen für mittelständische Eltern. Wenn gebildete Eltern keine Kinder hätten, werde die Schweiz letztlich dümmer, und wenn solche Eltern nur Teilzeit arbeiten könnten, um ihre Kinder zu erziehen, gehe der Wirtschaft zu viel Talent verloren.

Schweizer Perfektionismus

Somm fordert insbesondere günstigere Möglichkeiten für die Kindesbetreuung. Kinderkrippen seien heute zu teuer und könnten eine Familie mit zwei Kindern rund 40'000 Franken im Jahr kosten, wenn sie keinen Anspruch auf Subventionen habe. Die hohen Kosten seien zum Teil eine Folge des schweizerischen Perfektionismus, der beispielsweise nur gut ausgebildetes Personal in den Krippen zulasse.

Die Weltwoche fordert zwei Hauptmassnahmen: Erstens solle das vom ehemaligen Bildungsdirektor Ernst Buschor in Zürich vorgeschlagene Modell realisiert werden: eine Mischung von Kindergarten und erster Klasse. Wenn die Kinder mit drei Jahren eingeschult würden, müsse man die Kinderkrippen bloss für eine kurze Zeit nutzen.

Tagesschulen gefordert

Zweitens sollten die Gemeinden Tagesschulen nach dem Vorbild der Zürcher Pläne einrichten. Also keine ganztägige Betreuung rund um die Uhr, die kein Staat bezahlen kann, sondern eine garantierte ununterbrochene Schulzeit von 8.00 bis 16.00 Uhr. Allerdings dürfe dieses Modell nicht gratis sein, damit Familien, die sich anders – traditionell – organisieren, nicht benachteiligt würden.

Um einen solchen Ausbau der Schulen finanziell verkraften zu können, sollten die Lehrer länger arbeiten, und z. B. einen Tag in der Woche über Mittag in der Schule bleiben, um einen Topf Spaghetti zu kochen. Zum anderen könne auch Geld von den Universitäten an die Volksschule verschoben werden. Die Unis könnten das Loch stopfen, indem sie die Studiengebühren entsprechend erhöhten.

Ob alle diese Massnahmen die Geburtenrate hochtreiben, sei allerdings offen, so Somm. Heute litten jedoch zu viele Leute unter einem Übergangsregime, das Nerven koste und viel Geld verschlinge. „Wer glaubt, dass Familien nach wie vor die effizientesten Zellen einer Gesellschaft sind, wo ‚Eigenverantwortung’ am besten gelernt werden kann, muss ein Interesse daran haben, dass die Menschen auf die Familie setzen und Kinder zur Welt bringen.“ Dazu müsse der Staat die Familien nicht mit Geld überschwemmen, sondern bloss ein paar intelligente Anpassungen vornehmen, die keine Familien benachteiligen.

Kommentar

Markus Somm setzt mit seinen Vorschlägen auf die aktuellen politischen Trends, die verhindern, dass für eine Verbesserung der Familiensituation mehr staatliches Geld fliesst. Er fordert billigere Lösungen für die Kindesbetreuung, insbesondere auch ein verstärktes Engagement der Wirtschaft auf diesem Gebiet. Ausserdem verlangt er von den eh schon gestressten Lehrkräften höhere Leistungen. Eltern dürften allerdings von diesen Massnahmen nur bedingt entlastet werden. Wenn beispielsweise die Studiengebühren steigen, sind in der Regel wiederum die Eltern stärker belastet.

Eigenartig scheint uns vor allem, weshalb Somm nicht eine breitere Solidarität im Blick auf die Kinderlasten fordert. Es liegt auf der Hand, dass auch diejenigen sich an den Kinderkosten beteiligen müssten, die einmal von den Kindern der andern profitieren werden. Dies könnte zum Beispiel mit erhöhten Gutschriften von Eltern für die AHV gelöst werden. Oder mit der Befreiung vom Prämien für eine allfällige Pflegeversicherung. Vielleicht fürchtet Somm hier zu Recht die hohen politischen Hürden bei der Durchsetzung solcher Vorschläge.

Letztlich setzt auch Somm auf das moderne, aber fragwürdige Paradigma, dass grundsätzlich beide Elternteile sich während der Zeit der Kindererziehung möglichst zu 100 Prozent am Erwerbsleben beteiligen und ihre Kinder fremdbetreuen lassen. Ist es sinnvoll, dass unser Kinder vor allem von aussenstehenden Bezugspersonen erzogen werden? Wachsen so die wirklich tragfähigen Glieder der zukünftigen Gesellschaft heran? Hier hat der Publizist Beat Kappeler mit seiner Idee einer flexiblen Teilzeitarbeit von Vater und Mutter einen humaneren Vorschlag gemacht.

Bevölkerungsentwicklung 2003:
www.bfs.admin.ch/news/pm/0350-0406-80.pdf

Quelle: Schweiz. Stiftung für die Familie

Datum: 13.07.2004
Autor: Fritz Imhof

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