Scheidung

«In den Gemeinden ist ein Schutzwall gebrochen»

Die Scheidungsraten steigen weiter. Das spürt auch eine Freikirche wie die Vereinigung Freier Missionsgemeinden (VFMG). Doch Geschiedene werden hier nicht mehr getraut. In keinem Fall. Ein idea-Gespräch mit VFMG-Vorsteher Paul Beyeler.
Paul Beyeler
Brautpaar
Eheringe 2008
Wandern Ehepaar

idea: 52,7 Prozent der Schweizer Ehen gehen laut Bundesamt für Statistik in die Brüche. Wie stark sind die Freien Missionsgemeinden betroffen?
Paul Beyeler: Bei der VFMG gibt es keine Statistik, die eine bestimmte Scheidungsrate ausweisen würde. Aus meinen Erfahrungen und meinem Gefühl heraus muss ich aber sagen, dass die Ehescheidungen auch bei uns leider deutlich zunehmen. Von 50 Prozent aber sind wir glücklicherweise sehr weit weg. Es sind auch heute noch Einzelfälle.

Wie verlief die Entwicklung in den letzten fünf Jahren?
Mir scheint, dass Scheidungen oder Trennungen bei uns in den letzten zwei, drei Jahren signifikant zugenommen haben.

Auch unter Predigern und Ältesten?
Unter den Predigern haben wir Gott sei Dank noch keine Scheidungen erlebt. Bei Ältesten gab es einzelne Fälle, meist aber erst nach dem Rücktritt. Wir können nur hoffen und beten, dass wir davon weiterhin verschont bleiben, denn Prediger sind in Gemeinde und Öffentlichkeit besonders exponiert.

Wie viele Ihrer Gemeinden sind von Scheidungen betroffen?
Ich will vorsichtig sein, aber betroffen sind einige Gemeinden. Ich kenne auch Gemeinden, in denen es eine Häufung gegeben hat. In einem Fall gab es in den letzten fünf Jahren gleich mehrere Scheidungen.

Was bedeuten so gehäufte Scheidungen für eine Gemeinde?
Das bedeutet grundsätzlich eine Schwächung der Gemeinde und löst Verunsicherung aus. Es stellen sich Fragen nach den Ursachen. Ist es Ausdruck einer geistlichen Not? Ist es Ausdruck von massiven Angriffen im geistlichen Bereich? Eine eindeutige Antwort habe ich bis jetzt nicht.

Ging die Scheidung meist vom Mann oder von der Frau aus?
In den mir bekannten Fällen meistens von der Frau. Damit bestätigt sich bei uns die gesellschaftliche Tendenz.

Gibt es ein kritisches Alter?
Geschieden wurde im Alter von 30 bis 60 Jahren. Die kritischste Zeit für eine Ehe ist die Phase, in denen die Kinder die obligatorische Schulzeit abschliessen. Man bleibt zusammen, solange die Kinder daheim sind, und zieht dann die Konsequenzen.

Warum bieten der Glaube und das christliche Umfeld nicht mehr Schutz?
Glaube und Gemeinde bieten Schutz! Nach wie vor liegt die Scheidungsrate bei uns sehr viel tiefer als im gesellschaftlichen Schnitt. Aber gesellschaftliche Trends dringen auch in unsere Gemeinden ein. Der Wunsch nach dem persönlichen Wohlergehen in einer Wohlfühlatmosphäre hat auch unsere christlichen Kreise erfasst. Damit ist ein Schutzwall gebrochen. Man will nicht mehr wahrhaben, dass das Leben nicht nur Schönes, sondern auch Schweres beinhaltet. Dietrich Bonhoeffer sagte, bei der Aufarbeitung der Vergangenheit gehe es nicht darum, zu vergessen, sondern zu überwinden. Diese Haltung ist uns heute fast fremd geworden. Als Folge der gesellschaftlichen Tendenzen nimmt auch bei uns die Akzeptanz von Scheidungen zu.

Also drückt auch eine Freie Missionsgemeinde beide Augen zu, wenn geschieden wird?
Keineswegs! Die Akzeptanz einer Scheidung hat vor allem bei den Betroffenen zugenommen. In der Gemeinde selber wird eine Scheidung überhaupt nicht als Normallfall angesehen, glücklicherweise. Jede Freie Missionsgemeinde wird darunter leiden.

Welche Hilfen bieten Sie heute Ehepaaren in Krisen an?
Tatsache ist leider, dass Krisen häufig zu spät bemerkt werden. Oft wird ein Hilfsangebot dann als nicht mehr erwünscht oder gar als aufdringlich abgewiesen. Häufig kommt es auch vor, dass Krisen verleugnet werden. Suchen gefährdete Eheleute aber Hilfe, ist es Sache der Gemeindeleitung oder des Predigers, sich intensiv um sie zu bemühen.

Wie stark werden Ehefragen in VFMG-Gemeinden zum Thema gemacht?
Ehe, Familie und Erziehung haben in den letzten Jahren viel mehr Bedeutung gewonnen. Heute ist das mehrteilige Ehevorgespräch meist eine Vorbedingung für eine Trauung. Viele Prediger haben dazu einen Kurs beim Weissen Kreuz besucht. Viele Gemeinden bieten heute in Zusammenarbeit mit «Family Life» Ehekurse an, die stark genutzt werden. Und für Erziehungskurse in Gemeinden haben wir ein Ehepaar teilweise freigestellt.

Bleiben die Geschiedenen in der Gemeinde?
Leider verlassen heute meist beide Teile die Gemeinde. Es ist verständlich, dass nicht beide in der gleichen Gemeinde bleiben wollen. Doch dass «gäng» beide gehen, ist auch bedenklich. Es zeigt, dass wir als Gemeinde im Umgang mit dieser Problematik noch einiges zu lernen haben. Es ist auch so, dass Scheidungen in einer Gemeinde zu Gruppenbildungen führen können. Man solidarisiert sich aufgrund von Sympathien oder Antipathien mit der einen oder andern Seite, was für alle nicht gut ist.

In welchen Funktionen ist eine aktive Mitarbeit nach einer Scheidung nicht mehr denkbar?
Grundsätzlich könnten Geschiedene in jeder Funktion mitarbeiten. Ob das klug ist, schon wegen der Vorbildfunktion, ist eine andere Frage. Doch von der Lehre her sehen wir da keine Hindernisse. Wer geschieden ist und wieder heiratet, kann aber nicht Prediger oder Ältester werden.

Wie begründen Sie das?
Paulus spricht vom «Mann einer Frau». Nach unserem Verständnis ist ein Wiederverheirateter «Mann zweier Frauen».

Ein geschiedener Prediger aber ist denkbar?
Theoretisch ja. Aber es ist noch nie vorgekommen, Gott sei Dank.

Ist eine Mitarbeit für Menschen, die im Konkubinat leben, denkbar?
Nein, grundsätzlich nicht. Manchmal ist es natürlich schwer zu entdecken und Konsequenzen durchzusetzen. Doch der Fall ist klar.

Wie halten es die Freien Missionsgemeinden mit der Wiederheirat von Geschiedenen?
Bei uns gilt die Regel, dass wir im Fall einer Zweitheirat von Geschiedenen keine Trauungen oder Segnungen durchführen. Wir gehen davon aus, dass die Ehe unauflöslich ist. Wir verurteilen aber niemanden, der persönlich zur Über-zeugung kommt, er könne es vor Gott verantworten, wieder zu heiraten. Wir fühlen uns aber nicht kompetent oder autorisiert, eine Trauung abzuhalten und ein Treuegelöbnis abzunehmen, während die erste Ehe eigentlich noch existiert.

Gilt das auch dann, wenn eine Person eindeutig unschuldig geschieden ist?
Ja, wir kennen keine Ausnahmen.

Und wenn die 30-jährige, unschuldig geschiedene Frau wieder einen Vater für ihre Kinder wünscht?
Menschlich gesehen verstehe ich diesen Wunsch natürlich. Eine Wiederheirat kann dann die bessere Notlösung sein. Wir würden auch niemanden ausschliessen, der wieder heiratet. Es gibt auch bei uns sicher viele Leute, die in einer Zweitehe leben, vor allem solche, die erst später gläubig geworden sind. Doch bei uns ist eine Trauung bei Wiederheirat einfach nicht möglich. Wir empfehlen dann nur, eine Ziviltrauung durchzuführen.

Kommt es wegen dieser konsequenten Haltung zu Gemeindeaustritten?
Ja, die hat es schon gegeben. Es ist auch schon vorgekommen, dass sich ein Paar auswärts trauen liess und trotzdem in einer unserer Gemeinden geblieben ist. Wir verbieten niemandem die Wiederheirat. Aber wir empfehlen sie nicht und praktizieren sie nicht.

Ist eine Änderung dieser Praxis überhaupt kein Thema?
Es gab schon Änderungsanträge an unsere Leitung, doch wir sehen im Moment keinen Grund zum Handeln. Einem grossen Bedürfnis entspricht eine andere Praxis nicht.

Wird diese Haltung an evangelikalen Seminaren so gelehrt?
(stutzt einen Moment) Wir haben Prediger von ganz unterschiedlichen Ausbildungsstätten. Von daher kann es unterschiedliche Haltungen geben. Zu Ehescheidung und Wiederheirat von Geschiedenen haben wir ein Positionspapier aus dem Jahr 1995, an das wir uns halten.

Ist eine Scheidung für Sie in keinem Fall vertretbar?
Doch, biblisch gibt es zwei mögliche Gründe: Erstens wenn nur der eine Teil gläubig ist und sich der ungläubige Teil scheiden lassen will. Und zweitens wenn ein Ehepartner in fortgesetzter Untreue lebt. Dann ist Scheidung nach dem Neuen Testament zulässig. Nach unserem Verständnis heisst das aber nicht, dass eine Wiederheirat in diesen Fällen zulässig wäre.

Befasst sich der VFG, der Verband der Freikirchen und Gemeinden, mit dem Thema?
Nein, daran kann ich mich nicht erinnern.

Wäre eine gemeinsame Praxis innerhalb des VFG denkbar und sinnvoll?
(denkt länger nach) Es wäre natürlich schön, wenn sich der VFG in einer so kritischen Frage zu einer einheitlichen Praxis durchringen könnte. Vermutlich würde es aber höchstens eine mehrheitlich akzeptierte Formulierung geben, die keine gemeinsame Praxis zur Folge hätte. Ich gehe davon aus, dass alle im VFG der Ehe einen hohen Wert beimessen und Scheidungen verhindern wollen. Doch eine gemeinsame Stellungnahme zur Trauung von Geschiedenen könnte kaum einstimmig beschlossen werden.

Wie oft wird Ihnen wegen Ihrer Haltung mangelnde Barmherzigkeit vorgeworfen?
Solche Vorwürfe hören wir vereinzelt: Wir seien konservativ, weltfremd oder eben unbarmherzig. Doch im Neuen Testament gibt es gewisse Grenzen, die teilweise bis auf Gottes Schöpfungsordnung zurückgehen. Zu diesen Grenzen stehen wir.

Sollten Christen also doch besser allein und enthaltsam leben, wie es der Apostel Paulus propagierte?
So allgemein würde ich es nicht sagen. In gewissen Lebensentwürfen kann es besser sein, allein zu bleiben. Doch Ehe und Familie sind auch biblisch ein erstrebenswertes Ziel - für die meisten, aber nicht für alle.

Warum hält Ihre Ehe auch nach 29 Jahren noch?
(schmunzelt) Das ist für uns ganz normal. Wir sind von Anfang an davon ausgegangen, dass unsere Ehe unauflöslich ist. Wir haben schöne und auch schwierige Zeiten zusammen durchgestanden. Für uns gibt es keinen Grund, warum wir nicht zusammen bleiben sollten. Und meine Frau und ich haben uns nach wie vor gern.

Paul Beyeler

Jahrgang 1948, verheiratet mit Ingeborg, drei erwachsene Söhne, wohnhaft in Langenthal. Nach dem Studium der Chemie und einem Nachdiplomstudium in Betriebswirtschaft von 1977-2003 in verschiedene Positionen in der Chemischen und Pharmazeutischen Industrie tätig, zuletzt in leitender Stellung im internationalen Management in einem amerikanischen Pharmaunternehmen. Seit der Gründung in der Vereinigung Freier Missionsgemeinden (VFMG) aktiv, seit Anfang 2003 als Vorsteher im vollzeitlichen Dienst.

Die VFMG

1967 gegründet. Entstand aus einer Abspaltung vom Evangelischen Brüderverein. Heute 45 Gemeinden mit rund 4000 Mitgliedern, 35 Predigern und Jugendarbeitern. 40 eigene und 100 unterstützte Missionare im Ausland. Von einem achtköpfigen Vorstand geleitet. Pflegt eine besondere Partnerschaft mit der FEG und mit Chrischona.

Datum: 21.01.2008
Autor: Andrea Vonlanthen
Quelle: ideaSpektrum Schweiz

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