Was würden höhere Kinderzulagen bringen?

Martin Flügel

Martin Flügel gilt als geistiger Vater der familienpolitisch ausgerichteten "Eidgenössischen Volksinitiative für fairere Kinderzulagen", die in absehbarer Zeit in den parlamentarischen Prozess gelangt. Er verantwortet das Dossier Sozialpolitik bei der Gewerkschaft Travail.Suisse (früher CNG).
Im folgenden Interview stellt sich Flügel den Fragen der Schweiz. Stiftung für die Familie (SSF)

SSF: Herr Flügel, Ihre Gewerkschaft hat sich mit der Volksinitiative für höhere Kinderzulagen ausschliesslich auf eine Säule der Familienunterstützung konzentriert. Weshalb?
Dr. Martin Flügel: Kinderzulagen sind das Instrument, das allen Familien zugute kommt. Steuererleichterungen sind wegen der Steuerprogression vor allem bei hohen Einkommen wirksam. Bei Ergänzungsleistungen für Familien, die ja auch viel diskutiert werden, muss eine Familie zuerst arm werden, bevor sie von der Gesellschaft die nötige Unterstützung erhält. Und die
Förderung familienexterner Kinderbetreuung kommt nur jenen Familien zugute, die das nötig haben. Mit Kinderzulagen wird sehr gezielt der Mittelstand unterstützt, egal welche Rollenteilung eine Familie wählt.

Denken Sie, dass diese Unterstützung genügt? Kinder kosten ja viel mehr als 450 Franken im Monat. Genügt das, um das Armutsrisiko durch Kinder abzufangen?
Der Initiative geht es eben nicht in erster Linie darum, das Armutsrisiko abzufangen. Mit anständigen und einheitlichen Kinderzulagen soll die Gesellschaft ihre Anerkennung der grossen Leistungen, die in Familien erbracht werden, auch finanziell zum Ausdruck bringen. Dort, wo dann auch höhere Kinderzulagen eine Familie nicht aus der Armut heben können, sind beispielsweise Ergänzungsleistungen für Familien ein sehr gutes Mittel.

Welche familienpolitischen Massnahmen unterstützt "Travail.Suisse" sonst noch? Gibt es weitere politische Vorstösse und Initiativen, die Sie unterstützen?
Zurzeit gibt es keine andern familienpolitische Volksinitiativen. Da haben wir eine Pionierleistung vollbracht, damit Familienpolitik auch endlich vors Volk kommt. Aber es gibt viele weitere politische Vorstösse in der Familienpolitik. So zum Beispiel die Förderung der familienexternen Betreuungsplätze oder die Einführung von Ergänzungsleistungen für Familien zur Armutsbekämpfung. Beide Anliegen sind für gewisse Familien sehr sinnvoll und werden von uns unterstützt. Aber sie haben nicht das gleiche Ziel wie die Initiative, die eben eine allgemeine Anerkennung der Leistung aller Familien erreichen will.

Sind Kinder ein privates Gut oder eine private Last, ein öffentliches Gut oder eine öffentliche Last? Ist es überhaupt legitim, die Kinderlasten zu privatisieren und den Kindernutzen zu sozialisieren, wie das heute immer noch geschieht?
Diese Frage ist für mich etwas zu schwarz-weiss gestellt. Ich habe selbst auch eine kleine Tochter und sie ist eben beides gleichzeitig: eine unermessliches Gut und eine hohe Last. Kinder sollen nicht zu "Staatsbabys" gemacht werden, aber gleichzeitig ist es sicher legitim, eine grössere Anerkennung der Familienleistungen durch die ganze Gesellschaft einzufordern. Denn der gesellschaftliche "Nutzen" von Kindern ist natürlich enorm, ohne Kinder stirbt eine Gesellschaft schlichtweg aus.

Wie stellen Sie sich zum heutigen Trend, vor allem Massnahmen zu unterstützen, welche die Frauen die Erwerbsarbeit möglich machen? Müsste das Ziel der Massnahmen nicht die Wahlfreiheit von Familienarbeit und Erwerbsarbeit sein?
Sicher, diese Wahlfreiheit ist wichtig. Aber heute ist die Wahlfreiheit für viele Frauen noch wegen den fehlenden Betreuungsmöglichkeiten eingeschränkt. Zudem geht es ja nicht um eine Wahl entweder oder. Viele Frauen möchten einfach nicht vollständig darauf verzichten, ihre erworbenen beruflichen Kompetenzen einzusetzen. Sie wollen aber gleichzeitig auch Mutter sein und wählen meist eine Teilzeitstelle. Wer hier nicht wirklich mitmacht, sind die Männer, die zwar Vater sein wollen, aber die damit verbundenen Aufgabe eigentlich gar nicht leisten wollen und lieber einer Vollzeiterwerbstätigkeit nachgehen. Für die echte Wahlfreiheit von Müttern und Vätern zwischen Familienarbeit und Erwerbsarbeit braucht es vor allem noch ein gewaltiges Umdenken bei den Männern.

Wie würde für Sie die Utopie einer guten staatlichen Familienpolitik aussehen?
Ich habe da keine konkrete Vorstellung. Aber sicher gehört dazu, dass alle Familien von der ganzen Gesellschaft eine angemessene Anerkennung bekommen, dass alle Familien nicht nur nicht in Armut, sondern in Würde leben können, dass die Chancengleichheit für alle Kinder und Eltern möglichst hoch ist. Wenn diese Bedingungen erfüllt wären, würde vielleicht auch die eine oder andere Familie wieder ein Kind mehr haben als jetzt und damit könnte dann sogar noch ein Beitrag gegen die drohenden demographischen Probleme geleistet werden.

Wie erklären Sie sich, dass die Anliegen und Leistungen der Familien im politischen Entscheidungsprozess meistens übersehen werden (Verursacherprinzip, KVG, Sozialversicherungen ...)?
Im politischen Entscheidungsprozess sind vor allem zwei Faktoren wirksam: wirtschaftliche Ziele und persönliche Betroffenheit. Die Anliegen der Familien werden meist übersehen, weil damit keine wirtschaftlichen Ziele verbunden sind und weil die familienpolitischen Akteure den Familienalltag schlichtweg nicht kennen. Die Anliegen der Familien würden sicher bereits sehr viel besser berücksichtigt, wenn Familienpolitiker/innen Mütter und Väter wären, die während mindestens zwei Tagen pro Woche alleine und vollständig für ihre Kinder und den Haushalt zuständig sind.

Wie könnten die Familien zu einer besseren Lobby in der Politik kommen?
Vielleicht müsste die Stiftung für Familie vor den Wahlen im Herbst eine Umfrage bei den Kandidaten und Kandidatinnen machen und sie fragen, wie viel Familien- und Hausarbeit sie leisten und dann aufgrund der Antworten eine Wahlempfehlung abgeben. Denn nur wenn es gelingt, mehr Betroffene zu mobilisieren, wird sich an den Entscheidprozessen wirklich etwas ändern. Vorher bleibt es bei den Sonntagsreden.

Datum: 27.06.2003
Autor: Fritz Imhof
Quelle: SSF

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