Gemeinden herausgefordert

Demenzkranke – ein diakonisches Neuland

Menschen, welche die anspruchsvolle Aufgabe übernommen haben, ihre dementen Angehörigen zu Hause zu pflegen, brauchen dringend Pausen. Sonst drohen sie irgendwann unter der Belastung zusammenzubrechen. Das haben Vreni und Richard Stäheli erkannt.
Vreni und Richard Stäheli sind die Leiter der Tagesstätte «Oase» für demenzkranke Menschen
Ankunft eines Tagesgastes in der «Oase»
Richard Stäheli beim Spiel mit einem OASE-Tagesgast

Deshalb gründeten sie Anfang 2007 in Amriswil die «OASE», eine «kleine, familiäre Tagesstätte für demenzkranke Menschen». Dienstag bis Freitag betreuen sie mit bis zu zehn teilzeitlich Mitarbeitenden bis zu zwölf Tagesgäste – und entlasten so die betreuenden Angehörigen.

Künftig wird es immer mehr Menschen mit Demenz geben. Welche Herausforderungen kommen auf uns zu? Wie können wir ihnen begegnen? Darüber sprach Michael Gross vom Chrischona Panorama mit Vreni und Richard Stäheli.

Chrischona-Panorama: Wenn die Diagnose «Demenz» im Raum steht: Wie kann man trotzdem zuversichtlich bleiben – sowohl Menschen mit Demenz als auch ihre Angehörigen?
Vreni und Richard Stäheli: Jede Krankheitsdiagnose löst bei Betroffenen und Angehörigen Ängste aus. Bei einer Krebsdiagnose gibt es gewisse Hoffnungen auf Heilung. Zumindest kann man etwas tun. Die Diagnose «Demenz» ist viel tragischer. Unheilbar, unberechenbarer Verlauf, Ausschleichen aus dem Leben. Wie kann man da zuversichtlich bleiben? Eine frühe Abklärung bringt viel Erleichterung! Das komische Verhalten eines Patienten, das «Ding» da, bekommt einen Namen. Es wird klar: Der Betroffene macht die unverständlichen Sachen nicht aus böser Absicht.

Für an Demenz Erkrankte gibt es Medikamente, die die Lebensqualität tragen helfen. Für Angehörige gibt es heute viele Unterstützungsangebote was die Pflege und die fachliche Beratung angeht. Leider gibt es viel zu wenig Angebote für Tagesbetreuung zur Entlastung der Angehörigen. Zuversicht bietet aber letztlich nur das Vertrauen in Gott, dass er durchhelfen wird.

Welche Herausforderungen kommen auf uns zu?
Laut Alzheimervereinigungen sind in der Schweiz aktuell 113'000 Menschen an Demenz erkrankt, in Deutschland 1,5 Millionen. In der Schweiz erkranken jährlich über 27'000 Menschen neu an Demenz. Zwei Drittel der Erkrankten sind über 80 Jahre, nur wenige sind jünger als 65. Auf Grund der Alterung der Gesellschaft werden im Jahr 2030 in der Schweiz schätzungsweise 200'000 Menschen mit Demenz leben, im Jahr 2050 rund 300'000. In Deutschland wird es 2050 drei Millionen Menschen mit Demenz geben. Pflegebedarf und Betreuungsbedarf werden zunehmen.
Dank dem ehrenamtlichen Einsatz von tausenden von Angehörigen und Helferinnen und Helfern kann das immense Pensum heute gerade noch bewältigt werden. Erschreckend ist aber, dass immer mehr Menschen, die ihre dementen Angehörigen zuhause betreuen, am Ende ihrer Kräfte angelangt sind. Dies ist darauf zurückzuführen, dass gerade in der fortgeschrittenen Phase der Alzheimer-Krankheit, der häufigsten Form von Demenz, eine Betreuung rund um die Uhr erforderlich ist.

Wie können wir dieser Herausforderungen begegnen – als Einzelne sowie als Gemeinden?
Es ist gut, wenn viele Demenzstationen für stationäre Betreuung gebaut werden, auch wenn sie viel Geld verschlingen. Viele Menschen mit Demenz könnten aber mit Unterstützung und Betreuung noch lange zu Hause bleiben. Der Zustrom von Pflegerinnen aus Osteuropa für diese Aufgabe ist unseres Erachtens problematisch. Vor allem, weil Demenzerkrankungen auch in diesen Ländern zunehmen – und die Pflegerinnen dort gebraucht würden.

Wir meinen, dass da die christliche Gemeinde gefordert ist. Ein weites diakonisches Feld tut sich vor unserer Haustüre auf, wenn wir die Augen und Herzen offen haben. Darum unser Gebet: «Herr berufe DU junge und alte Menschen in diesen Dienst! Und mache die Gemeindeleitungen bereit, dahinter zu stehen.»

Gemeinden könnten zum Beispiel eine Tagesstätte aufbauen, so wie Sie es getan haben?
Ja, zum Beispiel. Das Modell einer familiären Tagesstätte vor Ort hat Zukunft. Das bestätigen unsere persönlichen Erfahrung beim Aufbau der «OASE» und die Reaktionen darauf. Kindertagesstätten und Mittagstische gibt es viele – vom Staat unterstützt. Tagesstätten für Menschen mit Demenz gibt es viel zu wenige. Wo sind die Pflegefachleute, die ihre, vielleicht im Moment brach liegenden, Talente einbringen? Wo sind die Pioniere, die den Mut haben, den Bedarf und die Möglichkeiten in ihrer Region abzuklären und zur Lösung des Problems beizutragen?
     
Wie schaffen wir es, das Thema nicht zu tabuisieren und Menschen mit Demenz nicht auszugrenzen – sondern würdevoll mit ihnen umzugehen?
Es ist lobenswert, dass da und dort auf ökumenischer Basis Gottesdienste für Menschen mit Demenz angeboten werden. Es ist herausfordernd, Menschen mit Demenz in unseren regulären Gottesdiensten und unserem Gemeindeleben einen Platz einzuräumen. Damit aber könnten wir die Beziehungskultur praktizieren, wie Jesus sie lebte.

Voraussetzung ist in jedem Fall, dass so viele wie möglich etwas über die Krankheit wissen und auf die Symptome angemessen reagieren können. Ein ganz wichtiger Aspekt ist, dass wir die Freundschaft mit Erkrankten und den sie Betreuenden nicht aufgeben, nicht wegschauen. Alle betroffenen Familienmitglieder brauchen unsere Solidarität. Besondere Beachtung verlangen auch die vielen Einpersonen-Haushalte. Hier fehlen sehr oft die Angehörigen, die mindestens im Anfangsstadium eine gewisse Betreuung übernehmen könnten.

Viele informieren sich oft stundenlag im Internet über Ferien- oder Weiterbildungsangebote. Warum nicht auch über Alzheimer und Demenz? Oder eine Informations-Veranstaltung zum Thema «Wie gehe ich um mit Menschen mit Demenz» nimmt Ängste und Befangenheiten. Das könnte ein erster Schritt sein in einer Gemeinde. Wie sagte Chrischona-Gründer Christian Friedrich Spittler: «Was hilft es, hinterm warmen Ofen zu sitzen und mit einer Pfeife Tabak über die Missstände der Welt zu jammern. Hand anlegen müssen wir! Und sei es auch nur im Kleinsten.»

Sie legen Hand an in Ihrer «OASE», seit nunmehr sieben Jahren. Was ist das Schöne an Ihrem Dienst? Was motiviert und ermutigt Sie?
Vreni Stäheli: Als ich noch in Alters- und Pflegeheimen gearbeitet habe, stellte ich mir viele Fragen. Eine davon: Wie können wir in Ruhe und Geborgenheit Menschen betreuen, die Sicherheit und Annahme brauchen? Eine familiäre Tagesstätte ist eine Antwort darauf. Im Kleinen zu wirken ist wunderschön. Wir erleben praktisch keine Aggressionen, weil die Tagesgäste sich offensichtlich wohl fühlen. Niemand wird bloss gestellt – wir können auf die aktuellen Bedürfnisse eingehen. Natürlich sind wir gefordert, wach und einfühlsam zu sein und uns auf die Tagesgäste einzulassen. Sie haben Gefühle und können sie ausdrücken, auch wenn ihre Krankheit schon weit fortgeschritten ist.

Wir erleben viel Charme im OASE-Alltag. Ein Tagesgast lacht und fabuliert viel. Oft sind es Reime, die dann tatsächlich auch passen. Das ergibt ein fröhliches Lachen – weil es echt spassig ist. Unsere Gäste spüren haargenau, ob wir mit ihnen lachen, oder sie auslachen.

Wir erleben auch, dass Gott führt. Zum Beispiel indem wir genügend Fachfrauen und freiwillige Helfer und Helferinnen für die Betreuung finden – und sie sich gerne gezielt weiterbilden lassen. Die dankbaren Reaktionen der Angehörigen, dass sie echt Entlastung erleben, motivieren uns zusätzlich. Es entstehen Beziehungen, in denen wir letztlich die Endlichkeit des Lebens gemeinsam tragen. Daraus ergeben sich oft ganz natürlich Gespräche über Gott und die Ewigkeit.

Zur Webseite:
Demenz- Tagesstätte «Oase»
Chrischona

Datum: 22.08.2014
Autor: Michael Gross
Quelle: Livenet/ Chrischona Panorama

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