Der Stein der Steine

Steine

«Ich bin daran, die Geschichte komplett auf den Kopf zu stellen. Unfreiwillig. Doch zu einer Standortbestimmung ist es nun zu spät. Ich bin sehr schnell unterwegs und schon fast am Ziel. Ändern kann man jetzt nichts mehr. Alles geht jetzt viel zu schnell.

Angefangen hat alles ganz banal. Mit einem snobistischen Muttersöhnchen, dass sich im Glanze seines eigenen Aussehens sonnen wollte. Das hatte mir noch gefehlt. Denn ich lag gerade gemütlich in einem Bach und genoss die Sonne. Dann kam eben dieser Knabe, und schon stand ich im Schatten.

Durch die Wellen hindurch stellte ich dann aber rasch und mit immer grösser werdendem Entsetzen fest, dass er nicht sich selber gebenedeite, sondern dass er mich anstarrte. Mist. Wollte der mich etwa klauben? Wollte dieser kleine Teenager mich etwa irgendeiner dämlichen Freundin schenken, weil er zu wenig Kohle für einen Edelstein locker hatte? Nicht dass ich es nicht mit jedem Edelstein aufnehmen könnte. Nein, Minderwertigkeitskomplexe habe ich keine. Ich bin ja jetzt sowieso daran, die Geschichte zu verändern. Aber der Reihe nach.

Muttersöhnchen starrt mich also an. Würde er mich irgendeiner grässlichen Freundin schenken, die dann ein Loch in mich bohrt und mich dann mit einer dämlichen Schnur an ihrem Hals baumeln lässt? Höre ich Sie sagen: «Das wäre doch eine tolle Aussicht?» Wenn Sie noch einmal so etwas denken, verbiete ich Ihnen das Weiterlesen. Immerhin haben Sie es mit mir zu tun, mit jemandem, der den Lauf der Geschichte ändert. Jawohl!

Entmutigt

Muttersöhnchen klaubt mich also und steckt mich in seine Muttersöhnchen-Tasche. Upps, da bin ich in bester Gesellschaft. Da sind bereits ein paar andere Steine.

Rasch freundeten wir uns an und haben unser Gaudi. Hubert erzählte grad einen Witz und wir bogen uns vor Lachen, so gut wie wir das als Steine eben tun können, als wir entsetzt feststellen mussten, dass Muttersöhnchen offenbar kein Muttersöhnchen, sondern ein ganz frecher Spatz ist, der einem üblen Geier gegenüberstand. Ich weiss, Geier sind eigentlich ganz liebe Tiere, die fressen keine Steine. Na ja, so gesehen wäre zwar noch manches Tier lieb. Aber, sie verstehen schon. Nichts gegen Geier. Ach, was erzähl ich da.

Wir hörten Stimmen. Eine davon war tief und entmutigt: «Schau, da kommt der kleine, lebensmüde Schafhirte wieder.» Eine andere bemerkt trocken: «Er will es tatsächlich probieren. Ein Selbstmordkommando.»

Wären wir doch nur Sandkörner!

Uiuiui. Da war es im Bachbett dann schon gemütlicher. Wir hörten Nichtmehr-Muttersöhnen hantieren, und verschiedene Leute versuchten ihn von seinem Vorhaben abzubringen. Doch es nützte nichts. Aus den Wortfetzen, die wir verstanden, hatten wir rasch unser Puzzle zusammengesetzt. Und das Bild war nicht schön. Unser «Besitzer» - wir sind ja nicht Leibeigene! – wollte uns wegwerfen. Und zwar nicht irgendwohin, sondern nach einem politischen Unterdrücker. Und er wollte uns so schnell werfen, damit der Unterdrücker auf die Knie gedrückt wird und sich verdrückt. Mindestens.

Das klang in unseren Ohren nicht mehr abenteuerlich, sondern nach einem buchstäblichen Himmelfahrtskommando. Wir drückten uns fest an die nach Leder duftende Innenwand seiner Ledertasche und bangten. Hätte es die Steinzeit gegeben, hätten wir uns dorthin zurückgewünscht. «Wären wir doch nur Sandkörner», flennte Hubert. Doch das half natürlich alles nichts.

Kein Notausgang!

Plötzlich wurde es sehr still und wir bemerkten, dass der Typ ganz ruhig irgendwohin marschierte. Dann hörten wir eine noch tiefere Stimme. Sie verlachte unseren Träger. Immer wieder. Je näher wir kamen, desto lauter wurde der Fiesling. Er sagte Dinge wie: «Dich Magerfleischhappen verfüttere ich gleich den Raben!»

Warum konnten wir nicht einfach umkehren und irgendwo vernünftig herumliegen? So wie wir es immer tun? Darin sind wir geschult.

Dann blendete uns ein heller Lichtstrahl. Er hatte die Tasche geöffnet. Dann glitt seine Hand zu uns in die Tasche. Wir versuchten auszuweichen aber mich erwischte es voll. Ich wurde herausgezogen und nun sah ich den Gegner. «Himmel-Steinbruch-Gewitterdonner-Fadenzwirn-und-Hinkelstein» dieses Biest war ja ein Mammut von einem Feind. Weiterdenken konnte ich gar nicht mehr.

Ich wurde in eine Schleuder gesteckt und bevor ich mich durch einen Notausgang verziehen konnte, wurde ich im Kreis herumgeschwungen. Hätte ich in den letzten paar Jahrtausenden etwas gegessen, ich hätte mich bestimmt übergeben. Und plötzlich wurde ich nach vorne katapultiert.

Ich bin der Grundstein!

Jetzt begreife ich. Ich brauche gar nichts zu tun, ich kann einfach fliegen. Alles andere erledigt meine Geschwindigkeit. Nun verstehe ich auch das Gesamtbild. Mein Zusammentreffen mit dem Monster-Typen da vorn werden dessen Schergen-Freunde vertreiben und dem Helden, den wir Muttersöhnchen nannten, gehören.

Und nun bin ich also daran, den Lauf der Geschichte zu ändern. Nicht Regen, nicht Hagel noch sonst was liegt in der Luft. Nur ich. Mein Gegenüber kommt sehr rasch näher und ich fliege genau auf sein Gesicht zu. Das könnte bei dem aber einen üblen Stirnhöhlenkatarr geben. Na ja, egal. Ich bin sozusagen der fliegende Grundstein des Staates Israel. Und mit einem lauten Knall pralle ich auf, durchschlage etwas Hartes und dann ist es plötzlich sehr weich. Und dunkel.

Nein, dieser Goliath scheint nicht der hellste. Dafür ist es in ihm drin so klebrig. Draussen höre ich lauten Jubel. Ob sie mir zujubeln? Nichts zu danken, gern geschehen. Später sollte doch noch ein Loch durch mich gebohrt werden. Und ich sollte bald auch an einem Hals hängen. An dem von König David.»

Datum: 28.09.2004
Autor: Daniel Gerber
Quelle: Livenet.ch

Publireportage
Werbung
Livenet Service
Werbung