Gyrischachen – Fenster zur Welt

Ein Dok-Film über Sünden, Sofas und Cervelats

Sonja Mühlemann erschliesst in ihrem Dok-Film «Gyrischachen – von Sünden, Sofas und Cervelats» auf einfühlsame Weise eine kleine, zweite Welt. 42 Nationen leben im gleichnamigen Quartier in Burgdorf BE auf engstem Raum zusammen.
Bild aus dem Dok-Film «Gyrischachen – von Sünden, Sofas und Cervelats»
Filmplakat «Gyrischachen – von Sünden, Sofas und Cervelats»
Kinderclub der Pfingstgemeinde Burgdorf
Regisseurin Sonja Mühlemann

Balkon an Balkon klebt die kleine Welt an- und übereinander: Gut 2'500 Menschen teilen sich die Wohnblöcke unweit des Bahnhofs, getrennt durch die Emme und umgeben von hohen Sandsteinfelsen. Der Gyrischachen wurde in den Sechzigerjahren erbaut. Er besitzt eine eigene Badi, eine Beiz und einen kleinen Gemischtwarenladen. In berührenden Bildern hat Sonja Mühlemann den Alltag des Quartiers und seinen Bewohnern eingefangen – mal aus der Distanz, mal hautnah, mal humorvoll, mal zum Nachdenken anregend, aber immer ohne Wertung. In insgesamt neun Portraits erzählen die Menschen von ihrem Leben und Sehnen, ihren Ängsten und Freuden.

Bunte Einblicke

Da ist der junge Kurde, ein kaufmännischer Angestellter mit wallender dunkler Mähne, der Anzug und Krawatte auch in der Freizeit anbehält. Da ist der bastelfreudige Schweizer, der im Hobbyraum Modellflieger baut und mit seiner enthusiastischen, brasilianischen Gattin die Fussball-WM am TV verfolgt. Oder der albanische Familienvater, der in der Badi angeregt über die Schweiz und die Schweizer philosophiert und bei überraschendem Sommerregen mit seinen Würsten samt Grill ins Trockene flüchtet. Da ist die Seniorin, die morgens im Bassin ihre Bahnen zieht und sich leise und fast verschämt über die Abfallsünden gewisser Mitbewohner beklagt. Und da ist der Ladenbesitzer, ein Exiliraker mit grossem Herz, bei dem man auch noch später zahlen darf.

Bewusste Förderung

Wo so viele Nationen und Kulturen aufeinandertreffen, sind Konflikte programmiert, sollte man meinen. Das Bild des Gyrischachen im Film von Sonja Mühlemann ist aber ein friedliches. Dafür wird seit jeher auch viel getan. Der Stadt Burgdorf ist die Förderung der sozialen und kulturellen Integration im Quartier ein grosses Anliegen. Vor allem die Kirchen wirken hier an vorderster Front mit. Seit 32 Jahren betreibt die Reformierte Kirche den Gyri-Träff. Und auch die Pfingstgemeinde Burgdorf macht sich mit einem Freizeitclub für die Kinder und Jugendlichen im Quartier stark. Für dieses soziale Engagement wurde sie 2009 von der Stadt Burgdorf mit einem Preis ausgezeichnet.

Beherztes Engagement

Marc und Sara Reusser von der Pfingstgemeinde sind mit ihrer Tochter Simea (9) vor 15 Jahren ganz bewusst in den Gyrischachen gezogen. «Nach unserer Hochzeit war es der Wunsch von uns beiden, im Ausland zu arbeiten und uns für andere Menschen einzusetzen. Das Ausland haben wir hier in Burgdorf gefunden», erklärt Sara Reusser. Die Tradition des Kinder-Clubs, den die Pfingstmission vor über zwanzig Jahren gestartet hat, führen Reussers beherzt und begeistert fort. Der Film lässt sie privat und im Einsatz für die Kinder und Jugendlichen immer wieder zu Wort kommen. Jeden Samstagvormittag gestalten Marc Reusser und sein Team für die Fünf- bis Zwölfjährigen ein vielfältiges Freizeitprogramm mit christlichem Input. Auch die Teenager kommen auf ihre Kosten. Im Beitrag ist zu sehen, wie sie bei Sara Reusser gemeinsam kochen und nach dem Schmaus mehr über den christlichen Glauben erfahren.  

Bereichernde Beziehungen

Sara Reusser schätzt ihre multinationale Nachbarschaft und erlebt die Ausländer manchmal offener als Schweizer. Auch für die soziale Kompetenz ihrer Tochter empfindet sie es als Vorteil, mit so vielen verschiedenen Kulturen in Kontakt zu kommen. Familie Reusser besucht die Eltern der Kinder, die sie im Club betreuen, regelmässig: «Dadurch, dass wir hier mitten unter ihnen leben, entstehen viel nähere, persönlichere Beziehungen. Sie teilen uns mit, was sie beschäftigt, was sie freut und belastet. Und wir sind für sie authentischer als wenn wir nach getaner Arbeit wieder in unsere eigene Welt ausserhalb des Gyrischachen verschwinden würden.»

Zum Film und zur Filmemacherin

Sonja Mühlemann, geboren 1985, studierte Sozialanthropologie und Geschichte an der Universität Bern, bevor sie einen Master in Journalismus absolvierte. Über ein TV-Engagement fand sie zum Film. Als Teenager hatte sie in Burgdorf einst ihr Portemonnaie verloren. Ein ehrlicher Finder aus dem Gyrischachen hatte sich damals gemeldet, und so war Mühlemann, die seit zehn Jahren selbst in Burgdorf lebt, erstmals mit dem «berühmt-berüchtigten» Quartier in Kontakt gekommen. Ihr Interesse und ihre Offenheit Menschen und Kulturen gegenüber führte Sonja Mühlemann für dieses Filmprojekt in den Gyrischachen zurück. Die Aufnahmen entstanden im Frühjahr/Sommer 2014, als sich die Welt im WM-Fussball-Fieber befand. Der Film wurde von Norbert Wiedmer produziert, in Koproduktion mit dem Schweizer Fernsehen. Für den stimmigen Klangteppich sorgte Christian Brantschen, Tastenmann von Patent Ochsner.

Über «Gyrischachen – von Sünden, Sofas und Cervelats», ihre erste lange Kinoproduktion, sagt Sonja Mühlemann selbst: «Der Film zeigt einen besonderen Mikrokosmos. Das Quartier hat in Burgdorf den Ruf eines Problemviertels, doch ich sehe es eher als eine Art Versuchslabor für das Zusammenleben an – gerade angesichts der aktuellen Debatte über Integration und Flüchtlingsströme kann der Film als ein Blick in die Zukunft verstanden werden. Er regt auf subtile Weise zum Nachdenken an, wozu die aktuelle Zuwanderung führen könnte: Zu einem respektvollen Mit- und Nebeneinander verschiedenster Kulturen. In diesem Sinne ist der Gyrischachen überall: in Bern-Bethlehem, im Melli in Aarau oder in Zürich-Seebach.»

Filmstart: 6. Mai 2016 in Burgdorf und Bern
Weitere Informationen, Spielorte und -daten unter www.gyrischachen.ch

Zum Thema:
Multikulti: Leben inmitten von Fremden
Dok-Film: Nein zu Kindern verstärkt globalen Wirtschaftsabsturz
Fall Krüsi als Dok: Freikirchen als Angeklagte im schlagzeilenträchtigen Missbrauchsfall

Datum: 06.05.2016
Autor: Manuela Herzog
Quelle: Livenet

Publireportage
Werbung
Livenet Service
Werbung