"Krieg und Besetzung zerstören die Seelen auf beiden Seiten"

Regisseurs Mohammed Bakri

Der Film des palästinensischen Regisseurs Mohammed Bakri über das israelische „Massaker“ sorgt für Kontroversen. Noch vergangenen Sommer war Mohammed Bakri der Publikumsliebling beim Berliner Jüdischen Filmfestival. In der israelischen Komödie „Platz der Verzweifelten“ spielte er den Juden Avram, setzte eine Kopfbedeckung auf und sprach in der Synagoge das Totengebet „Kaddisch“. Für seinen Auftritt wurde er für den israelischen Oscar nominiert.

Dass Bakris neuer Film „Jenin, Jenin“ zum diesjährigen Festival eingeladen wird, ist zu bezweifeln. Auf der Leinwand ist der „israelische Gary Cooper“ nicht zu sehen. Aber als Regisseur lässt er Palästinenser im Flüchtlingslager von Jenin über „das Massaker“ berichten, das die israelische Armee im vergangenen April dort angerichtet haben soll. Und seine Dokumentation wurde nicht preisgekrönt, sondern von der Zensur verboten – das erste Verbot seit 15 Jahren.

„Jenin, Jenin“ – so die Begründung – sei ein Propagandafilm, „der einseitig die palästinensische Seite zur Zeit einer gewaltsamen Konfrontation vertritt. Die Darstellung der Ereignisse grenzt an Hetze und verleitet zum Gedanken, dass die israelischen Soldaten systematisch und absichtlich Kriegsverbrechen begangen hätten, was auch internationale Beobachter verneinten“. Bakri klagt inzwischen vor dem Obersten Gericht gegen das Verbot; mit einem Urteil ist im Sommer zu rechnen.

Bakri erzählt, wie er an einem Kontrollpunkt mit einer Gruppe israelischer und arabischer Aktivisten stand, die dafür demonstrierten, dass die Armee Lebensmittel nach Jenin hineinlässt. „Plötzlich eröffnete ein israelischer Soldat willkürlich das Feuer auf uns und verletzte eine Schauspielerin, mit der ich auf der Bühne in ,Bernarda Albas Haus' zusammenspiele.“

Im Film lässt Bakri Flüchtlinge unkommentiert ihr Leiden während der zehntägigen Militäroperation erzählen und Kampfparolen verkünden und mischt das mit Dokumentarmaterial, das ein Lagerbewohner heimlich während des Angriffs drehte. „Nicht einmal in Vietnam war es so schlimm,“ sagt ein alter Mann unter Tränen und zeigt auf seine verbundene Hand und den Fuss: Ein Soldat habe ihn absichtlich angeschossen. Der Direktor des Krankenhauses erzählt, dass elf Geschosse im Westflügel landeten und Zimmer verwüsteten.

Ein Bild des zerstörten Hospitals sehen wir nicht. Auch erfährt man nichts darüber, dass die Militäraktion die Reaktion auf Selbstmordanschläge war, bei denen 124 Israelis ermordet wurden. Die meisten Täter kamen aus dem Flüchtlingslager Jenin. Kein Wort verliert Bakri darüber, dass nach einem UN-Bericht in Jenin 52 Palästinenser, die Hälfte von ihnen Bewaffnete, sowie 23 Israelis ums Leben kamen.

Bakris Film wurde in Israel bisher dreimal öffentlich gezeigt. Vor der Premiere in der Jerusalemer Cinemathèque erhielt der israelische Kinderarzt David Zangen einen Anruf von Eltern eines Soldaten, der in Jenin fiel. Zangen, während der Offensive Regimentarzt, wurde gebeten, die Premiere zu verhindern. „Ich rief die Leiterin der Cinemathèque, Lia van Leer, an. Sie fragte mich, wie ich gegen einen Film sein könnte, den ich nicht gesehen hätte.“

So kam Zangen zur Premiere und wirft Bakri nun sieben Lügen vor, die er anhand von Bildern beweisen will. Unter anderem sei der alte Flüchtling von der Armee sofort behandelt und ins Krankenhaus eingeliefert, das Hospital keinesfalls beschossen worden: „Es funktionierte während der ganzen Operation, obwohl bewaffnete Palästinenser dort Unterschlupf fanden und aus dem Gebäude die Soldaten beschossen.“

Bei der deutschen Premiere von „Jenin, Jenin“ in Berlin erzählte Bakri, er habe eine Szene selbst zensiert, in der ein palästinensisches Mädchen sagt, sie werde Israel weiterhin bekämpfen, auch wenn Arafat Frieden schliesse. „Ich bin ein Mann des Friedens und wollte nicht, dass die Zuschauer denken, alle Menschen in Jenin teilten diese Ansicht.“ In Berlin war diese Szene dennoch zu sehen – „eine alte Kopie,“ erklärte Bakri.

Zwei Zuschauer warfen ihm auch Gehirnwäsche und Verbreitung von Hass vor. Das erregte einige der meist arabischen Gäste, aber die Veranstalter vom deutsch-arabischen Kulturverein „Die Brücke“ predigten Toleranz und liessen sogar Fragen auf Hebräisch zu. Die meisten Besucher schenkten Bakri lauten Beifall und glaubten anscheinend seinen Zeugen.

Interview

Von Jacques Berset

Mit der Unterdrückung auf der israelischen Seite, mit den Selbstmordattentaten auf der palästinensischen Seite aufhören: Das fordert der palästinensische Filmemacher Mohammed Bakri (49), Autor des Films "Jenin Jenin", im Interview. Alles andere bedeute sowohl für Israelis wie für Palästinenser nur "die Hölle", sagt Bakri. Er ist auch ein auf Israels Bühnen bekannter Schauspieler und lebt in Bina, einem Dorf nahe Akko im Norden Israels.

Bakris Dokumentarfilm besteht aus Zeugenaussagen von Überlebenden einer israelischen "Antiterror-Operation", die zwischen dem 2. und dem 16. April 2002 in der Ortschaft Jenin durchgeführt wurde. Jüdische Kreise versuchten die Vorführung des Films am diesjährigen Internationalen Filmfestival Freiburg (Schweiz) zu verhindern. Der europäische Kultursender "arte" strich den Film, der am 1. April hätte gezeigt werden sollen, aus dem Programm.

In Israel wird der Film nur von Hochschulen und in Cinématheken vorgeführt. Öffentlich darf er laut einem Beschluss der israelischen Zensurbehörde nicht gezeigt werden. Es handle sich um reine Propaganda, denn der Film beschreibe die Vorgänge in Jenin so, als ob die israelischen Soldaten in mörderischer Absicht gegen die unschuldige Zivilbevölkerung vorgegangen seien.

Jacques Berset: Ihr Film wird als propagandistisches Machwerk bezeichnet...
Mohammed Bakri: Falls er wirklich ein Propagandafilm wäre, hätte ihn deshalb die israelische Zensurbehörde verboten? Das israelische Publikum ist nicht dumm, es hätte die Propaganda sofort durchschaut und sich durch meinen Film nicht beeinflussen lassen. Seit mindestens zwanzig Jahren ist von der israelischen Zensur kein Film verboten worden.

Vor dem obersten israelischen Gericht werden wir durch den bekannten Anwalt Avigdor Feldmann verteidigt. Wir werden gewinnen, weil es keine Argumente gegen diesen Film gibt, der am Filmfestival von Karthago als bester Film ausgezeichnet wurde. Ich denke nicht, dass Kunst Propaganda sein kann. Die Kunst kann nicht gesteuert werden, sie ist etwas Existentielles, das auf Erlebnisse, menschliche Gefühle, den Augenblick aufbaut.

Es handle sich bei Ihrem Film um ein antisemitisches Wurfgeschoss, machen israelische Kritiker geltend…

Es ist vollkommen lächerlich, den Film mit dem antisemitischen Etikett zu versehen. Wenn wir "Jude" sagen, meinen wir damit die "Israelis". Selbst auf der israelischen Identitätskarte ist das vermerkt - und leider ist das eine Quelle der Diskriminierung. Dort wird unterschieden zwischen jüdischer, arabischer, drusischer und tscherkessischer Nationalität.

Es entspricht zudem nicht der Wahrheit, wenn man sagt, in meinem Film würden alle Palästinenser die israelischen Soldaten als "Juden" bezeichnen. Das tun nur ein alter Mann und ein Kind. Die wichtigste Figur im Film, der junge Kämpfer, spricht immer von "Israelis". Wenn die Palästinenser, die seit bald 36 Jahren eine sehr harte militärische Besetzung erleben, von "Juden" reden, wirkt das nicht gut. Es ist das gleiche, wenn die Israelis von "den Arabern" sprechen. Die Redeweise ist von der gesellschaftlichen Wetterlage und der Umgebung beeinflusst. Eines ist aber sicher: Es kann nicht als "Antisemitismus" ausgelegt werden. Denn die Araber sind Semiten wie die Juden auch. Ich kann nachvollziehen, dass Juden, die nicht in Israel leben, aufgrund der Geschichte Europas sehr sensibel in diesen Belangen sind.

Sehen Sie Lösungsansätze für diesen Konflikt, der nun über ein halbes Jahrhundert andauert?
Ich bin kein Politiker. Ich kann keine pfannenfertigen Lösungen anbieten. Ich kann nur die Gefühle jener Menschen aufzeigen, denen ich begegne: Auf der Seite der Israelis ist es die Angst, bei den Palästinenser die Hoffnungslosigkeit. Zorn ist nicht gefährlich, dieser kann verschwinden. Es ist aber gefährlich, mit Hass im Herzen zu leben. Dieser kann sich bei den Kindern und den Jugendlichen festsetzen, die keine andere Zukunft sehen als die militärische Besatzungsmacht und den Totentanz, der sie seit mehreren Generationen begleitet.

Ich kann aber von meinem Beruf als Schauspieler reden, von meinen Gefühlen. Ich weiss sehr genau, dass die Leute unserer extremen Rechten und der harten israelischen Rechten - dazu gehört Scharon - die menschlichen Bomben hervorgebracht haben. Letzterer ist nicht nur für die Massaker in Sabra und Schatila verantwortlich. Er hat anderes, wie die Erschiessung ägyptischer Kriegsgefangener, zu verantworten. Alle wissen das.

Er selber und seine Umgebung sind unfähig dazu, unsere Not zu spüren und eine Empfindung für das Leiden anderer zu entwickeln. Sie denken nur an kurzfristige Erfolge Israels. Auf diese Weise schaffen sie Hunderte oder sogar Tausende von Anwärtern für Selbstmordattentate. Es ist das Resultat von 36 Jahren Besatzung, Erniedrigung, Hunger, Elend, Wegnahme von Land, Zerstörung von Häusern und Zukunftslosigkeit.

Die Juden in Israel und anderswo leiden auch unter diesem Konflikt…
Die Juden in Europa und in anderen Teilen der Erde müssen wissen, dass ich nicht ihre Realität beschreibe, sondern die meine. Das will nicht heissen, dass es ihrer Realität an Wahrhaftigkeit mangelt. Es gibt zwei Wirklichkeiten: die israelische und die palästinensische. Wenn ich von mir rede, heisst das nicht, dass ich die andere Seite leugne. Ziel meines Films ist es, dass es mit diesem Krieg zu einem Ende kommt. Es muss endlich eine neue Zukunft eingeläutet werden, die auf Friede, Liebe, Würde und Respekt aller aufbaut.

Beide Völker sollen ihre Unabhängigkeit erhalten. Zur Zeit ist aber Israel unabhängig, und Palästina ist besetzt. Ich wünsche mir Freiheit und Souveränität für Palästina. Ich bin gegen die Besetzung, aber nicht gegen die Juden. Ich lehne Scharon ab, denn für mich ist er weder Jude noch Israeli. Er ist ein grosser Diktator. Das ist alles. Er kann für sich nicht beanspruchen, er vertrete alle Israelis.

Dem Osloer-Abkommen folgte die zweite Intifada…
Es stimmt, die Hoffnung zerfiel. Wir müssen aber aus dieser Sackgasse herausfinden. Auch wenn es in Teilen der Bevölkerung Israels in den beiden vergangenen Jahren zu einer Ernüchterung gekommen ist, so hat doch ein anderer Teil seine Hoffnung auf einen Frieden bewahrt. Dieser hat im Moment aber keine Stimme. Der aktuelle Konsens beruht auf der Furcht vor der Zukunft. Die Leute haben heute mehr Angst als früher.

Sind daran die Selbstmordattentate schuld, die Unschuldige getroffen haben?
Sicher - als Palästinenser haben wir uns einiges vorzuwerfen, was die aktuelle Situation angeht. Wenn ein Palästinenser in ein israelisches Restaurant geht und sich in die Luft jagt, vergessen die Leute, dass er dies nicht aus Freude tut. Der Horror verhindert, dass die Menschen kühl über die Ursachen nachdenken können - das Fehlen jeglicher Zukunftsperspektive für die Jugend in den besetzten Gebieten.

Jene, die in Israel wirklich von Frieden träumen, schweigen gegenwärtig. Sie wollen nicht mehr mit den Palästinensern reden, denn sie sehen diese lebenden Bomben, die kommen, um sie zu töten. Ich kann mich nicht für die Taktik der Selbstmordattentate erwärmen, auch wenn ich die Beweggründe verstehe, die zu diesen Taten führen. Die ganze Gemeinschaft zahlt den Preis für diese willkürlichen Angriffe. Krieg und Besetzung müssen enden, denn sie entmenschlichen die Bevölkerung, sie zerstören die Seelen auf beiden Seiten. Wir müssen wieder an den Verhandlungstisch zurückkehren. Alles andere bedeutet nur die Hölle für beide Völker.

Quelle: Interview: Kipa/Artikel Livenet

Datum: 11.04.2003

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