Jesus als idealer Vertreter des Volkes?

Heiner Geißler, der frühere Generalsekretär der CDU.

Jesus als idealer Vertreter des Volkes – das meint Heiner Geißler, der frühere Generalsekretär der CDU. Der Ex-Politiker ist in seinem neuen Buch mit dem Titel "Was würde Jesus heute sagen?"der Frage nachgegangen, ob ein ethisches Fundament, das im Christentum gründet, brauchbar für die Tagespolitik ist.

"Was würde Jesus heute sagen?" Ein grösserer Anspruch als mit diesem Buchtitel lässt sich kaum erheben. Ist das Anliegen legitim, auf die umfassende Frage nach der politischen Botschaft des Evangeliums eine zeitgemässe Antwort geben zu wollen?

Stellen wir uns das einfach einmal vor: Jesus als Abgeordneter im Nationalrat. Fragt sich zunächst natürlich, für welche Partei: Die CVP? "Die Existenz der CVP ist mit diesem 'C' verbunden. Ohne das 'C' braucht es diese Partei nicht. 'C' heisst für mich, dass wir für die christlichen Werte und die christliche Ethik, die das Abendland entwickelt hat, einstehen.“ Ohne diese Werte braucht es die CVP nicht, sagt der Laufenthaler CVP-Alt-Nationalrat Rudolf Imhof in einem Interview mit der Basellandschaftlichen Zeitung.

Die FDP – nach dem Motto: Moral mit Geld? Die Grünen, bei denen die Einheit von Anspruch und Wirklichkeit auch nicht unbedingt gegeben ist. Die EVP/EDU-Fraktion? Vielleicht? Vermutlich wäre Jesus fraktionslos, alleine, wie meistens schon in der Bibel. Ein Hinterbänkler und doch vielleicht ein Politikstar, dem es mit ein paar lässig Wundern gelingt, die Pensionsbeibeiträge stabil zu halten und die Kosten der Krankenkassen zu dämpfen? Nein, auf diese Art würde sich Jesus nicht in die Politik einmischen.

Welche Botschaft überdauert?

Auf der Suche nach der politischen Botschaft des Evangeliums. Dass es die gibt, das ist nichts Neues – schliesslich musste Jesus Christ Superstar schon für alles erdenkliche herhalten: Jesus als Vegetarier, als Proletarier, ja als Anarchist. Und natürlich als Revolutionär.

Heiner Geißler will in seinem Buch wissen, was das Besondere, das überdauernde der politischen Botschaft Jesus von Nazareths ist: "Die Forderung der Nächsten- und Feindesliebe ist neben den neuen Bild von Menschen der revolutionäre Kern der evangelischen Botschaft." Die Würde des Menschen und die Nächstenliebe sind aus Geißlers Sicht die Kernpunkte der christlichen Ethik - wobei Letztere sowohl das "revolutionäre" Gebot einschliesst, seine Feinde zu lieben, als auch die Solidarität mit den sozial Benachteiligten.

Im ersten Berief des Johannes steht: "Wenn jemand sagt, ich liebe Gott, aber seinen Bruder hasst, dann ist er ein Lügner. Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den ersieht, wie kann er dann Gott lieben, den er nicht sieht?" Geißler bezieht sich auf das "Tun" in der Bergpredigt, kein Wörtchen das häufiger darin vorkommt – Reden und Handeln müssen eins werden, fordert er. Und das übersetzt Geißler sogleich ins politische Vokabular: Wenn man anderen in Not helfen wolle, dann müsse man eben den Spitzensteuersatz erhöhen oder die Abgaben senken, weil eine mittelstandsfeindliche Steuerpolitik Tausende Betriebe zerstört.

Geissler zitiert ein Jesus-Wort: "Ihr bindet schwere und untragbare Lasten zusammen und legt sie den Menschen auf die Schultern. Ihr selbst aber wollt keinen Finger krumm machen." Und dann schreibt er, was heute wohl damit gemeint ist.

Jesus, der Revoluzzer?

Das Gebot der Nächstenliebe um Veränderung der staatlichen Strukturen zu erwirken? Es gibt eben Zustände der Ungerechtigkeit, die man durch Politik verändern kann. So kommt die Politik durch die Bergpredigt zurück ins Spiel. Dass die Bibel insgesamt, vor allem aus dem Blickwinkel der damaligen Zeit, revolutionäres Gedankengut verbreitetet hat, das wird an vielen Stellen deutlich, sagt Geißler: "Er vollbringt mit seinem Arm machtvolle Taten, er zerstreut die im Herzen voll Hochmut sind, er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen, die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben und lässt die Reichen leer ausgehen." Steht im Lukas-Evangelium.

Die Botschaft von Jesus, schreibt Geißler, war ein Ärgernis, dem notwendig politische Implikationen und Komplikationen folgten. Geissler denkt Evangelium und Politik zusammen.

Gut gemeint wenn Geißler ellenlange Listen vorlegt, die das Elend dieser Welt, den Hunger und die Armut dokumentieren. Doch spätestens hier stellt sich die Frage, ob denn den ehemaligen Generalsekretär der CDU auch seine eigenen politischen Verunglimpfungen von damals reuen. Hier ist der Schwachpunkt dieses Buches. Bei all den Ratschlägen unterschlägt dieses Buch, dass Jesus eine radikale Umkehr vom Menschen erwartet – als Einzelner seine Sünden bereuen und ein neues Leben beginnen. Erst dadurch kann eine Gesellschat im Sinne der Bergpredigt beeinflusst werden und nicht damit, dass man Prinzipien aus der Bergpredigt, ohne den persönlichen Schritt getan zu haben, verwirklichen will.

Heiner Geißler
Was würde Jesus heute sagen?
Rowohlt, 2003
ISBN 3-87134-477-X
16.90 EUR
Rowohlt Verlag

Datum: 29.10.2003
Autor: Bruno Graber
Quelle: Livenet.ch

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