"Meinem Vater kann ich nicht vergeben"

Shannon
Die Autorin Damaris Kofmehl und Shannon

Ihre amerikanische Mutter hat sie nie gekannt. Und ihr brasilianischer Vater prügelt sie so lange, bis sie mit zehn Jahren von zu Hause ausreisst und sich einer Gang in Cleveland (USA) anschliesst. Dort lernt Shannon nicht nur zu stehlen und Drogen zu nehmen, sondern auch zu töten. Damaris Kofmehl beschreibt im Buch „Shannon – ein wildes Leben“ die Karriere des Strassenmädchens zwischen Gefängnis, Drogenhandel und Bandenkriegen. Die Teenagerin steigt ins Drogengeschäft ein. Ein Pfarrer erzählt ihr von Gott. Doch erst später, mit 21, dringen seine Worte in ihr Herz und lösen einen inneren Erdrutsch aus. Einem Menschen kann Shannon trotzdem nicht vergeben – ihrem Vater. Die Hassgefühle sind zu stark. Hier das Kapitel „Und nochmals: Vater“ aus dem Buch (gekürzt).


Einem Menschen kann Shannon trotzdem nicht vergeben - ihrem Vater. Die Hassgefühle sind zu stark. Hier das Kapitel ‚Und nochmals: Vater' aus dem Buch (gekürzt).
Shannons Bekehrung veränderte ihr Leben radikal, und die Liebe Gottes, die ihr Herz zum Bersten erfüllte, zog immer weitere Kreise. Shannon nahm einen Job als Englischlehrerin an, und bewegt durch ihr Zeugnis entschied sich Luiz Fernando, ein Berufskollege, ebenfalls für Jesus.
In ihrer Freizeit besuchte sie weiterhin die Aids-Kranken und erzählte ihre Geschichte in verschiedenen Kirchen und Schulen. Wo auch immer sie hinkam, gebrauchte Gott ihr Leben, um die Herzen der Menschen zu verändern. Sie lernte Gitarre spielen und begann Lieder zu schreiben. Die Gitarre unter dem einen, die Bibel unter dem anderen Arm machte sie sich auf, die Liebe Gottes in die Jugendgefängnisse zu tragen.
Shannon nahm kein Blatt vor den Mund, wenn es darum ging, jemandem von Jesus zu erzählen und zu berichten, was er in ihrem Leben bewirkt hatte. Nur einen einzigen Menschen gab es, dem Shannon nicht mit dieser begeisterten Liebe entgegentreten konnte, die ihr Jesus geschenkt hatte.
Ihrem Vater.

Die Wunden, die ihr Vater ihr in ihrem Leben beigebracht hatte, waren zu tief, um einfach so zu verheilen. Als Shannon ihm nach über sieben Jahren zum erstenmal wieder im Haus der Grosseltern begegnete, behandelte er sie, als wäre sie Luft, und sie empfand nichts als abgrundtiefe Verachtung für all das, was er ihr angetan hatte. Manche Leute prophezeiten ihr, mit der Zeit würde automatisch Gras über die Sache wachsen, aber ihre Ankündigungen gingen nicht in Erfüllung. Im Gegenteil. Shannons Hassgefühle ihrem Vater gegenüber verstärkten sich, sooft sie an ihn dachte. Manchmal wurde sie deswegen so aggressiv, dass sie am liebsten wildfremde Menschen auf der Strasse angegriffen hätte.

Bei einer Veranstaltung in einer Kirche, wo Shannon aus ihrem Leben erzählen sollte, erfuhr sie, dass ihr Vater bei ihren Grosseltern zu Besuch war. Die Nachricht durchfuhr sie wie ein Blitz. Unwillkürlich ballte sie die Fäuste. Ihr Puls schnellte auf 180. Ein furchtbarer Gedanke schoss ihr durch den Kopf. Ein Gedanke, den sie nicht zu Ende zu denken wagte. Doch sie war entschlossen, "es" zu tun.

Alles schien sich um sie zu drehen. Es kam ihr vor, als würde eine heisere Stimme in ihr Ohr flüstern: "Was du tun musst, das tue bald!" Ihr Herz pochte zum Zerspringen. Sie rannte zur Kirche hinaus, bebend vor Hass und Verwirrung über ihre eigenen furchtbaren Gedanken. Sie atmete die frische Luft tief ein und versuchte, sich wieder in den Griff zu bekommen.

Plötzlich spürte sie eine Hand auf ihrer Schulter. Als sie sich umdrehte, sah sie sich Cesar gegenüber, der sie kopfschüttelnd und liebevoll anblickte.
"Shannon. Ich weiss, was du vorhast. Tu es nicht."
Shannon schob die Hand von ihrer Achsel. "Lass mich!" knurrte sie. "Das geht dich nichts an."
"Du spielst mit dem Gedanken, deinen Vater zu töten, hab ich recht?"
Shannon zuckte zusammen.
"Gott hat mir deine Absichten gezeigt", erklärte der Pastor einfach. "Tu's nicht, Shannon. Geh nicht zu ihm. Nicht mit dieser Absicht in deinem Herzen."

"Ich sagte, das geht dich nichts an!" knirschte Shannon.
"Shannon", sagte Cesar, und seine Stimme klang weich und verständnisvoll, "du weisst, dass das nicht die Lösung ist. Du musst deinem Vater vergeben, so wie Jesus dir vergeben hat. Darin liegt die Kraft Gottes. In der Vergebung."
"Das sagst du so leicht", entgegnete das Mädchen. "Du weisst nicht, was er mir angetan hat."
"Jesus wurde ans Kreuz genagelt und hat gesagt: ‹Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.›"
"Ich bin nicht Jesus!"

"Aber du folgst ihm nach. Und sein Gebot lautet: ‹Liebt eure Feinde. Segnet, die euch fluchen. Tut wohl denen, die euch hassen.› Solange du deinem Vater nicht vergibst, wirst du keinen Frieden finden."
"Ich kann ihm nicht vergeben", stöhnte Shannon. "Erst müsste er mich um Verzeihung bitten. Und das wird er nie tun. Ich kenne meinen Vater."
"Dann bitte Gott, ein Wunder zu tun", schlug Cesar vor. "Bitte ihn, den Hass aus deinem Herzen zu reissen und deinen Vater zu verändern. Bei Gott ist kein Ding unmöglich - das solltest du übrigens besser wissen als ich." Er gab ihr einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter. "Versuch es wenigstens, okay?"
Shannon atmete tief durch und nickte mit wenig Überzeugung. "Okay."

Ein paar Tage später rief sie ihre Grosseltern an und teilte ihnen mit, sie würde gern zu ihnen kommen und ihren Vater besuchen. Sie wolle mit ihm reden.

Mit gemischten Gefühlen näherte sie sich am nächsten Nachmittag, am 6. Februar 1995, dem Haus der Grosseltern, wo ihr Vater zu Gast war. Sie hatte nicht die leiseste Ahnung, wie sie ihm begegnen sollte. Sie hatte Angst, plötzlich die Nerven zu verlieren, Angst, ihre Begegnung könnte in einer Katastrophe enden. Wenn sie durchdrehte, war niemand in der Lage, sie zu bremsen. Sie kannte sich und ihren explosiven Charakter. Sie hatte auch sonst genug damit zu kämpfen. Eine falsche Bemerkung ihres Vaters, und sie würde ausrasten. Sie fürchtete sich vor ihrem eigenen Temperament. Sie fürchtete sich davor, erneut von ihrem Vater enttäuscht zu werden, und diese zwiespältigen Gefühle drehten ihr wie eine Faust den Magen um. Ihre Füsse waren wie aus Blei, als sie sich dem Haus näherte. Ein Knoten schnürte ihr den Hals zu.

"O Gott", betete sie innerlich, "ich steh das nicht durch! Tu irgend was, sonst flipp ich aus! Du kennst mich. Ich kann meinen Vater nicht lieben, ich kann es nicht, selbst wenn ich es möchte!"

Sie setzte ihren Fuss auf die Türschwelle. Und dann geschah etwas Unfassbares, etwas Überwältigendes, etwas, was Shannon nicht in Worte fassen konnte: Sie sah ein helles Licht. Und eine Hand riss etwas aus ihrem Herzen. Das Ganze dauerte keine drei Sekunden, und kaum war es geschehen, fragte sich Shannon, ob sie es sich vielleicht nur eingebildet hatte. Aber als sie das Haus ihrer Grosseltern betrat, merkte sie plötzlich, dass sich etwas in ihrem Innersten verändert hatte. Es war keine blosse Einbildung und kein Hirngespinst. Es war eine Tatsache: Der Hass war weg! Einfach weg. Nicht mehr vorhanden. In Luft aufgelöst. Einfach so.

Bevor sie sich Gedanken darüber machen konnte, was eigentlich passiert war, trat sie bereits ins Wohnzimmer.
Und dort stand er.
Ihr Vater.
Er stand am Fenster und hatte ihr den Rücken zugekehrt.
"Vater?" murmelte Shannon zaghaft, ohne sich von der Stelle zu rühren. Der Mann drehte sich um. Für einen kurzen Moment sah sich Shannon um vierzehn Jahre zurückversetzt in die Zeit, als sie mit Tante Carmen den Flughafen von Minneapolis erreichte, wo Vater sie in seinem langen, dunkelblauen Wintermantel abholte. Vierzehn Jahre war das her. Und ihr Vater hatte sich in all den Jahren kaum verändert: gross, kräftig, kurz geschnittenes Haar, dunkle Augen, verwaschene Jeans und Turnschuhe. Sie erinnerte sich, mit welcher Spannung sie ihrem Vater damals begegnet war, ein mageres neunjähriges Mädchen, das sich nichts sehnlicher gewünscht hatte, als von seinem Vater umarmt zu werden. Sie spürte noch heute das kribbelnde Gefühl im Magen, die kindlich-naive Erwartung, ihr Vater würde ihr ein wirklicher Vater sein, ein Vater wie aus dem Bilderbuch, ein liebevoller Vater ohne Fehler, ein Vater, der sich für die Nöte seines Kindes Zeit nimmt und ihm mit Rat und Tat zur Seite steht.

Vierzehn Jahre waren vergangen. Vierzehn Jahre, in denen all das nicht eingetroffen war, was sich Shannon mit damals neun Jahren so sehr von ihrem Vater erhofft hatte. Keinem Menschen war es möglich, all die bitteren Enttäuschungen auszulöschen, die sich in diesen vierzehn Jahren angestaut hatten. Kein Mensch konnte rückgängig machen, was geschehen war. Und doch: etwas war geschehen. Etwas, wofür es keine natürliche Erklärung gab. Es war, als hätte Gott die mit Blut und Tränen geschriebenen Einträge auf den Seiten der vergangenen vierzehn Jahre gelöscht.

Shannon sah ihren Vater an, und aller Groll, aller Hass, alle schmerzlichen Erinnerungen waren wie ausradiert, gerade so, als hätte es zwischen ihrem Vater und ihr nie einen Streit gegeben! Gerade so, als wäre das Blatt, das ihre gemeinsame Geschichte dokumentierte, noch gänzlich unbeschrieben und völlig weiss! Nur Gott konnte so etwas tun. Und er hatte, wie sich herausstellte, noch viel mehr getan.
"Shannon", murmelte der Vater und näherte sich zögernd seiner 23jährigen Tochter. Ihre Blicke begegneten sich, und Shannon sah, dass sich in den Augen ihres Vaters etwas verändert hatte. Das waren nicht die überheblichen, selbstgerechten Augen, die Shannon von früher her kannte; das waren Augen, in denen sich Reue und Scham spiegelten, wässrige Augen eines zerbrochenen Mannes, der seine Schuld eingesehen hatte und nicht wusste, ob er jemals wieder gutmachen könnte, was er angerichtet hatte.

Shannons Herz pochte wild. Ihr Vater kam auf sie zu, erst langsam und zaghaft, dann rasch und entschlossen, und als er sie in seine Arme schloss, zerschmolz auch das letzte Eis zwischen ihnen.
"Es tut mir so leid, was zwischen uns passiert ist", murmelte der Vater. Tränen rannen über sein Gesicht. Er hielt das Mädchen in seinen Armen, als wolle er es nie mehr loslassen. "Es tut mir so unendlich leid."
"Es tut mir auch leid", brachte Shannon hervor, völlig überrascht von seiner Reaktion, während auch ihr die Tränen über die Wangen liefen. "Es tut mir wirklich leid, Vater."

Mehr sagten sie nicht. Mehr war im Moment auch nicht nötig. Sie hatten sich wiedergefunden.
Nach über vierzehn Jahren.
Gott hatte ihnen eine neue Chance gegeben.
Lange standen sie da, eng umschlungen, wortlos, ergriffen, und vergassen die Zeit. Dann setzten sie sich aufs Sofa und redeten den ganzen Nachmittag miteinander. Sie redeten über Dinge, die sie noch nie ausgesprochen hatten. Sie brachten alles ins Reine, was es irgend zu bereinigen gab. Sie lachten zusammen, sie weinten zusammen, sie schütteten sich gegenseitig ihr Herz aus in einer Offenheit und Ehrlichkeit, die Shannon niemals erwartet hätte. Sie spürte die Gegenwart Gottes stärker denn je. Es war einer der schönsten und befreiendsten Tage in ihrem Leben. Sie hatte sich mit ihrem Vater versöhnt.

Und die Versöhnung, die in ihren Gesichtern geschrieben stand, leuchtete heller als die Abendsonne, die durch die Fenster ins Zimmer drang.
Viel heller.

Autorin: Damaris Kofmehl
Quelle: Shannon - ein wildes Leben
Ein Strassenmädchen zwischen Gefängnis, Drogenhandel und Bandenkriegen
Taschenbuch, 288 Seiten
Brunnen Verlag, Giessen/Basel
ISBN: 3-7655-3678-4

Datum: 10.09.2003
Autor: Damaris Kofmehl
Quelle: Brunnen Verlag Schweiz

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