Gott in der Dunkelheit

Im Knast ist jeder Tag ein Karfreitag

Karfreitag, der Tag der Vergebung, Tag der Versöhnung Gottes mit den Menschen, Tag der Freiheit... Doch was ist mit denen, die Mord begangen haben oder wegen Kindesmissbrauch in Haft sind? Pfarrerin Lotte Jung ist Gefängnisseelsorgerin in Frankfurt – und ihr Karfreitagsgottesdienst ist der bestbesuchte im ganzen Jahr.
Stacheldrahtzaun von Gefängnis
Lotte Jung

Nachts, wenn es kein Entrinnen gibt, hämmern die Gedanken: Was sie getan oder nicht getan haben. Was das Gefängnis mit ihnen macht. Was die draussen machen. Frau, Kinder, Familie. Dann versuchen sie sich wegzuschalten. Die einen laufen auf und ab, betäuben sich mit Sport. Andere dröhnen sich mit Fernsehen zu. Lebensgefährlich wird es, wenn einer sich ganz ausklinkt: keine Frischluft, kein Licht, kein sozialer Kontakt bis in die Depression hinein.

Trister Alltag

Seit sechs Jahren arbeitet Pfarrerin Lotte Jung als Gefängnisseelsorgerin. Ihre Gemeinde sind die Gefangenen in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Frankfurt I, einem Untersuchungsgefängnis mit 564 Haftplätzen. Alles Männer, über die Hälfte von ihnen ist zwischen 24 und 40 Jahre alt. In den Gängen, auf dem Gefängnishof hört man Deutsch, Russisch, Rumänisch, Türkisch und viele Sprachen mehr.

Im Gefängnis ist alles fremdbestimmt. Aufstehen, Aufschliessen der Zelle, Arbeiten, Essenszeiten, Rundgang im Hof, Einschliessen in die Zelle. Alles ist eingeschränkt. 60 Minuten Telefonzeit pro Monat. 60 Minuten Besuchszeit pro Monat. Da zählt jede Minute, jedes Wort. Ob es um Ehestreit, Schulprobleme der Kinder oder eine Liebeserklärung geht, immer hört jemand mit.

Gast in der «Anders-Welt»

Das macht die Seelsorge im Gefängnis zu einem Privileg. Sie steht unter dem Seelsorgegeheimnis. Das Büro von Pfarrerin Jung ist eine Anders-Welt. Kein kahler Beton, sondern Teppich, Sessel mit Stoffbezügen, an den Wänden Bilder, die Gefangene gemalt haben. Jeder bekommt erst einmal eine Tasse Tee oder Kaffee. Hier ist man nicht Häftling, sondern Gast.

Ein Familienvater hat im Alkoholrausch jemanden erschlagen. Die Anklage lautet auf Mord. «Ich habe ein Ebenbild Gottes zerstört», sagt er verzweifelt. Er schämt sich. Besonders vor seinen Kindern. «Was ist mein Leben noch wert? Besser, ich mache Schluss», sagt er. «Dann zerstören Sie Gottes Ebenbild ein zweites Mal», sagt die Pfarrerin. Sie spricht ihn auf seine Kinder an. Nur wenn er weiter lebt, kann er ihnen später Rede und Antwort stehen.

«Und vergib uns unsere Schuld»

Die Bitte aus dem Vaterunser. Wie kann das einer beten und glauben, der schwerste Schuld auf sich geladen hat? Und doch starb Jesus Christus am Kreuz auch für ihn. Er stieg bis in das Reich der Toten hinab, damit wir wissen können: Es gibt keine Dunkelheit, in der Gott nicht ist.

In eine Gruppe der Gefängnisseelsorge kommt ein Neuer, dem Kindesmissbrauch vorgeworfen wird. Die anderen sind entsetzt. «Mit dem wollen wir nicht in einer Gruppe sein.» Ein Häftling mit langen Drogenkarriere sagt: «Ich bin kein Christ und werde auch keiner. Aber Kirche ist für mich der Ort, an dem jeder sein darf, egal was er getan hat.» Er schaut den Mann direkt an: «Ich werde nicht mit dir sprechen. Aber du sollst hier sein können.»

Karfreitag – ein besonderer Tag

Karfreitag steht bevor. «Lange hatte ich Scheu, einen Gottesdienst an diesem Tag anzubieten», erzählt Jung. Ein Kollege hatte ihr gesagt: «Im Knast ist jeder Tag Karfreitag. Daran muss man die Häftlinge nicht erinnern.» Seit einigen Jahren begeht Jung trotzdem Karfreitag in der Gefängniskapelle. Es kommen mehr Gefangene als sonst. Über hundert.

An das Standkreuz in der Gefängniskapelle hängt Jung einen Dornenkranz und ein rotes Tuch. Sie erzählt: Jesus wurde von bewaffneten Soldaten verhaftet, verhört, als Verbrecher rechtskräftig verurteilt. Alle feiern zusammen Abendmahl. Die Pfarrerin beginnt: «Einer, der weiss: Mir steht die Verhaftung bevor, ich komme da nicht mehr raus. Der isst noch mal mit seinen Freunden. Und sein Verräter sitzt mit am Tisch.»

Auf den Bildern, die Gefangene vom Abendmahl gemalt haben, fehlt Judas. Verräter sind im Knast das Allerletzte. «Judas war 'ne Ratte», sagen sie. Aber Jesus lässt ihn mit am Tisch sitzen. Es braucht keinen Freispruch, um beim Abendmahl dabei zu sein. «An diesem Tisch sitzen wir alle», sagt die Pfarrerin. 

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Datum: 02.04.2015
Autor: Rebekka Schmidt / Martin Vorländer
Quelle: Livenet / epd

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