Alltag im Heim: Schwierigen Jugendlichen Grenzen setzen – und Vertrauen aufbauen

Hansueli Birenstihl
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Heimschiff Ruach
Heimschiff Salomon
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Der erfahrene Sozialpädagoge Hansueli Birenstihl kritisiert, dass Pädagogen und Psychologen den verheerenden Einflüssen auf Jugendliche heute zuwenig entgegentreten. So werde der Rapper Eminem zum Mega-Star verwöhnter Wohlstands-Kids, und die Fachleute nähmen dies hin mit der Begründung, Jugendliche müssten sich eben von Erwachsenen abgrenzen…

Im zweiten Teil des Interviews mit dem EDU-Standpunkt (erster Teil) erläutert Hansueli Birenstihl, Leiter des Jugendheims Sternen im Kanton Bern, was der Staat (nicht) tut und wo Christen anpacken sollten, um gefährdeten Kindern und Jugendlichen zu helfen.

EDU-Standpunkt: Hansueli Birenstihl, jeder Staatshaushalt sieht Ausgaben in Milliardenhöhe für Prävention, Bildung, Repression und verschiedenste Betreuungs- und Therapiemodelle vor. Warum merken wir oft so wenig davon?
Hansueli Birenstihl:
Einerseits weil die getroffenen Massnahmen greifen und somit eine grössere Eskalation verhindert wird – und weil wie so oft zu wenig darüber geredet wird!

Andererseits bewirken die oft jahrealten Probleme in der Bevölkerung den Eindruck, dass pädagogische und therapeutische Massnahmen nur Geld kosten und nichts bringen. Beispiel Drogenabgabe: Mit viel Tamtam wurde vor einigen Jahren die Heroin-Abgabe eingeführt. Tatsache ist, dass bis heute kaum einer der Süchtigen zum Aussteigen motiviert werden konnte und heute statt 1’500 an die 30 000 Menschen in den diversen Abgabe-Programmen sind – was man ja kaum als Erfolg bezeichnen kann!

Dazu kommt, dass durch die Abgabeprogramme und die Legalisierungskampagnen für die «leichten» Drogen neue massive Probleme entstanden sind. Das aus meiner Sicht schwerwiegendste ist das erschreckende Sinken der Hemmschwelle und damit des «Eintrittsalters» in den erstmaligen Drogenkonsum.

Eine Untersuchung in unseren drei Landheimen und Jugendschiffen ergab, dass 80 bis 90 Prozent der eintretenden 10- bis 15-jährigen Jugendlichen schon Drogenerfahrung hatten. Auf den Jugendschiffen liegt der Anteil bei 90 bis 100 Prozent!

Erschreckend viele Jugendliche begnügen sich dabei nicht nur mit Kiffen, sondern probieren ohne Hemmungen auch andere, nicht selten auch so genannt harte Drogen aus. Als Folge davon sind die psychiatrischen Jugendabteilungen gefüllt mit seelisch nachhaltig geschädigten Jugendlichen. Sie haben ungewisse Heilungschancen! Unsere Bemühungen, dies zum politischen Thema zu machen, wurden selbst bei bürgerlichen Politikern mit Ausweichen und Ignorieren beantwortet...

Die Auswirkungen auf Ihre Institutionen?
Im Moment soll unter dem Stichwort «Prävention» der Eindruck erweckt werden, es werde ja etwas getan. Viele Massnahmen und politische Entscheide haben opportunistischen Charakter. Das heisst, der kurzfristige Effekt ist wichtiger als das Langzeit-Resultat!

Ein Beispiel: Im Moment laufen in den Kantonen wie beim Bund verschiedene Sparprogramme im Bereich der stationären Jugendhilfe. Die Budgets von Jugendsekretariaten, Jugendgerichten und Sozialdienststellen erleben Kürzungen bis zu 40 Prozent! Wie geht das, wenn in der Realität immer mehr so genannte untragbare Jugendliche aus ihren Herkunftsfamilien genommen werden müssen?
Auffallend ist, dass bei der Jugendhilfe, anscheinend im präventiven Bereich, gespart wird. So gingen die Anfragen für Platzierungen in unserer Institution sowie auch in andern Institutionen plötzlich massiv zurück. Zudem spüren wir vermehrt das Bestreben der zuständigen einweisenden Instanzen, schon platzierte Jugendliche vorzeitig in eine ungewisse Zukunft zu entlassen.

Auch die sonst immer randvoll belegten Jugendschiffe, auf denen wir Jugendlichen, die eigentlich in teure geschlossene Einrichtungen eingewiesen werden sollten, nochmals eine Chance im wesentlich billigeren offenen Rahmen geben, sehen sich plötzlich mit leeren Plätzen konfrontiert, weil kaum mehr Anfragen eingehen…

Kein Hoffnungsschimmer am Horizont?
Doch! Es dämmert – Gott sei Dank – inzwischen bei vielen, dass wir irgendwo vom rechten Weg abgekommen sind. Und langsam regt sich auch etwas in den christlichen Gemeinden. Christen treten vermehrt, wenn auch noch etwas scheu, an die Öffentlichkeit. Und: Mehr und mehr wird nicht mehr das Trennende, sondern das Gemeinsame betont.

Christen haben eine einmalige Chance, in der sozialdiakonischen Arbeit einst verlorenes Terrain wieder zu gewinnen. Der Staat, wegen den vielfältigen Aufgaben ohnehin überfordert und desillusioniert, braucht uns und ist auch – abgesehen von ein paar Ewiggestrigen – bereit, Christen Aufgaben zu übergeben.

Es ist Zeit, dass wir aus unseren Gemeindehöfen, Kirchen und Kapellen heraustreten und nach Gebet um Gottes Führung in die Hände spucken und anfangen, den Jakobusbrief in die Tat umsetzen! Nebst Kirchen und Gemeindezentren sollten wir jetzt anfangen, sozial-diakonische Dienstleistungszentren zu gründen und aufzubauen! Theologisiert und von Erweckung geträumt haben wir nun genug! Jetzt ist es Zeit, als von Christus Erweckte zu handeln!

Auch politisch weht Morgenluft: Es scheint, dass der Einfluss der auf der Grundlage des Evangeliums tätigen Politiker wieder zunimmt. Geben wir darum unsere misstrauische, gleichgültig-ablehnende Haltung der Politik gegenüber auf! Viele begründen ihr politisches Abseitsstehen damit, dass die Politik sowieso ein Dreckgeschäft sei. Das mag sogar stimmen! Aber wurde sie es nicht deswegen, weil wir zu lange abseits standen und unsere Hände, wie damals Pilatus, «in Unschuld wuschen»?

Wir wollen unseren nichtgläubigen Mitmenschen Orientierungshilfen geben. Treten wir also hinaus! Nehmen wir Anteil am politischen Alltag – zum Wohl der Schwachen, Armen, der Familien, und unseres gemeinsamen Staates.

Wie gelingt es Ihnen, Ihr Angebot publik zu machen?
Wir laden regelmässig Journalisten, Radio und Fernsehen in unsere Institution ein und lassen sie am normalen Heim- und Schiffsalltag teilhaben. Seit dem letzten Herbst dreht das Schweizer Fernsehen während eines ganzen Jahres einen Dokumentarfilm über die von uns angewendete Form von Erlebnispädagogik und über den Alltag der Jugendlichen im Heim und auf dem Jugendschiff. Wir können so wesentlich dazu beitragen, das eher schlechte Image von Jugendheimen und den da lebenden Jugendlichen gegenüber abzubauen.

Was zeichnet das Leben im Jugendheim Sternen und den Jugendschiffen «Salomon» und «Ruach» aus?
Wichtig ist uns, dass wir ein Christsein leben, das sich im Alltag immer wieder bestätigt. Ein solcher Lebensstil hat automatisch Auswirkungen. Er wirkt ansteckend auf Mitmenschen – und vor allem auch auf unsere Jugendlichen. Inhaltlich bedeutet dies, dass wir grosses Gewicht auf gegenseitiges Vertrauen legen, was die Grundlage für eine gesunde Beziehung ist. Das zeigt sich bei den Pflichten im Alltag. So ist auch das Tischgebet fester Bestandteil des Tagesablaufs.

Auch wenn wir als Heim im besten Fall nur die zweitbeste Lösung sein können, hat ein Jugendlicher bei uns doch die Chance und die Möglichkeit, Liebe zu erfahren – Zuwendung von uns, aber auch die Liebe Gottes, wenn er das wünscht. Damit meine ich nicht eine zuckersüsse Liebe, sondern eine Liebe, die auch Konsequenz betreffend der definierten Ziele beinhaltet.

Das kann zum Teil auch sehr heftige Konflikte beinhalten, wenn wir gewisse Heimbewohner mit ihrem Fehlverhalten und den Folgen konfrontieren und oft auch heftige Auseinandersetzung gestalten und aushalten müssen. Oft danken uns ehemalige Jugendliche für unsere Konsequenz – weil darin zum Ausdruck kommt, dass wir (sie) nicht so schnell aufgegeben haben.

Was möchten Sie speziell jugendlichen Lesern weitergeben?
Ich denke, dass wir oft ein frommes «Hängertum» in unseren Gemeinden pflegen. Manchmal werden Jesus-Partys besucht, um ein «Jesus Flash» zu erleben. Ich möchte den Jugendlichen Mut machen, selber im Namen Jesu hinauszugehen und aufzutreten.

Bezeugt Jesus in der Öffentlichkeit, stellt Gott auf die Probe und erlebt, dass er seine Zusagen einhält! Ihr dürft mit Gott auch Abenteuer erleben! Ich wünsche mir mehr mutige und innovative Leiter, die in ihrer Jugendzeit diesen Kick erlebt haben, mit Gott bis zum Äussersten zu gehen.

Hansueli Birenstihl, 54, verheiratet, drei erwachsene Kinder. Nach Käserlehre Pastorenstudium und Mitarbeit in pfingstkirchlichen Werken. Diplomierter Sozialpädagoge. Gleitschirmflieger.
Seit 1976 in der stationären Jugendhilfe tätig, zuerst in Zürich, ab 1992 Leiter im Jugendheim Sternen mit drei Landheimen und zwei Schülerschiffen.

Im Internet: www.jugendheimsternen.ch

Autor: Thomas Feuz
Quelle: EDU-Standpunkt Juli 2004

Datum: 24.08.2004

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