Kommentar

Nackt-Selfies im Bundeshaus, Sex-Plakate im öffentlichen Raum

Mitte Woche machte ein Skandal um eine Sekretärin, die von ihrem Arbeitsplatz aus Nacktaufnahmen auf Twitter gestellt hatte, Schlagzeilen. Sie wurde freigestellt. Gleichzeitig orchestriert der Bund eine Kampagne mit Sex-Plakaten. Passt das zusammen? Ein Kommentar von idea-Chefredaktor Rolf Höneisen.
Das Bundeshaus
Rolf Höneisen, Chefredaktor idea Schweiz.

Es ist der ideale Sommerloch-Stopfer: Selfiegate im Bundeshaus. Die NZZ hatte gemeldet, die Bundesangestellte A. twittere selbst aufgenommene Nacktfotos aus dem Büro, sogenannte Selfies, an ihre 11'700 Follower. Die Boulevard-Journalisten beim «Blick» stürzten sich auf das Thema. Sie fanden die Identität der Sekretärin heraus und auch, dass sie in ihrer Vergangenheit bei Pornofilmen mitgemacht hatte. Damit war die Schlagzeile perfekt: «Porno-Sekretärin twittert aus dem Bundeshaus!»

Die Schweiz ist entsetzt

Der Parlamentsdienst in Bern, der sich eigentlich auf Ferien eingestellt hatte, wurde unsanft aufgeweckt. Der Druck wurde so gross, dass der zuständige Chef eine Untersuchung einleitete und schon wenige Stunden später verlauten liess, dass die Angestellte A. per sofort freigestellt worden sei. Jetzt laufen arbeitsrechtliche Abklärungen: Kann man jemanden entlassen, der Nacktfotos von sich über Twitter verbreitet? Ist das nicht einfach Privatsache? Hat sie illegal gehandelt? Die Interessen ihres Arbeitgebers verletzt? Kann man der Frau aufgrund ihrer Vergangenheit einen Strick drehen?

Wie auch immer die Juristen entscheiden werden, #Selfiegate ist ein Symptom der Pornografisierung unserer Zeit. Angesichts der Tatsache, dass täglich unzählige privat gedrehte Sexfilmli auf einschlägige, jedem Kind zugängliche Pornoseiten hochgeladen werden, dürfte Sekretärin A. nicht die einzige sein, die sich in exhibitionistischer Weise präsentiert. Es ist ein Phänomen unserer Tage.

Wie weit geht das noch?

Wie weit geht das Zurschaustellen nackter Haut noch, wenn das Bundesamt für Gesundheit in einer Kampagne zur Prävention von HIV Privatpersonen dazu einlädt, sich vor der Kamera fast nackt in eindeutigen Stellungen zu präsentieren Was bedeutet es, wenn von staatlicher Seite pornografisch anmutende Bilder grossformatig im öffentlichen Raum allen – auch denen, die sowas nicht wollen – vor die Nase gesetzt werden? Wie weit geht die Pornografisierung in Zukunft noch, wenn mit Steuergeldern ein Filmtrailer produziert wird, in dem alle möglichen sexuellen Vorlieben eingebaut und gezeigt werden? Zieht man den Vergleich, dann wirken die Busenblitzer der Frau A. wie eine Lappalie! Die Frau kann einem Leid tun.

Die Nacktselfies aus dem Bundeshaus halten unserer Gesellschaft den Spiegel vors Gesicht. Ausgerechnet diejenige Zeitung, die täglich nackte Frauen abdruckt, formuliert jetzt die dicksten Schlagzeilen. Ausgerechnet der Bund, der Privatpersonen zum Sex-Shooting einlädt, um uns diese Szenen als HIV-Prävention anzudrehen, tut schockiert über die getwitterten Busenbilder einer Angestellten.

Früher nannte man solches Verhalten Heuchelei

Ich bin kein grosser Twitterer und hatte keine Ahnung, was ein Tweet auslösen kann. Zu einem Zeitpunkt als die Freistellung der Sekretärin noch nicht bekannt war, tippte ich folgenden Satz: «#selfiegate im Bundeshaus. BAG-Sexplakate im öffentlichen Raum. Und wer wird entlassen?» Was darauf folgte, machte mich sprachlos. Twitterer aus der ganzen Schweiz schickten diesen Satz an ihre «Follower» weiter und bedankten sich bei mir für diese Gedankenanstoss. Dass Frau A. 11‘700 Menschen fand, die ihre Tweets bewusst erhalten wollen, ist für mich etwas anderes, als wenn sexuell aufgeladene Plakate von Staat im öffentlichen Raum aufgestellt werden und verärgerte Bürgerinnen und Bürger und verantwortungsbewusste Eltern kein Gehör finden. Briefe, E-Mails, Petitionen – alles wird arrogant abgeschmettert.

In Herisau handelte eine Frau nach ihrem Gewissen und überklebte die für sie pornografischen BAG-Plakate mit roten Herzen. In der Stadt Winterthur wurden die BAG-Plakate über Nacht von Sprayern behandelt. Das ist rechtlich illegal. Verzeigungen und Bussen dürften folgen. Aber die Frage steht im Raum: Wo ist mutiges Handeln, wo ist ziviler Ungehorsam in der Verantwortung gegenüber einer höheren Instanz als es der Staat ist, angebracht?

Nackt-Selfies und staatlich finanzierte Sex-Plakate. Die unterschiedlichen Reaktionen darauf zeigen, dass unsere Gesellschaft die Orientierung verloren hat.

Datum: 09.08.2014
Autor: Rolf Höneisen
Quelle: ideaSpektrum | www.ideaschweiz.ch

Werbung
Livenet Service
Werbung