Interview

Kirchen für eine europäische Zivilgesellschaft

Der Protestantismus hat den demokratischen Rechtsstaat mitgeprägt und muss diese Aufgabe auch im zusammen wachsenden Europa wahrnehmen. Dies sagt der Ratspräsident des Evangelischen Kirchenbundes SEK, Pfr. Thomas Wipf, im Mitteilungsblatt der Leuenberger Kirchengemeinschaft. Die Leuenberger Kirchengemeinschaft ist der umfassendste Verbund von evangelischen Kirchen in Europa. Wipf kann sich auch die Bildung einer Europäischen Evangelischen Synode denken. So könnte die evangelische Stimme in Europa gestärkt werden. Enwickeln könne sich die Gemeinschaft protestantischer Kirchen in Europa nur, "wenn wir bereit sind, gegen die zentrifugalen Kräfte das Anliegen der Verwirklichung der Kirchengemeinschaft entschieden zu fördern", sagte Wipf. Das Interview Frage: Herr Kirchenpräsident Wipf, der Einigungsprozess reformierter, unierter und lutherischer Kirchen in Europa mündete 1973 in die Verabschiedung der „Leuenberger Konkordie“. Worin liegt Ihrer Meinung nach die besondere Bedeutung dieses Textes?
Kirche Erschwil Quelle: picswiss.ch

Thomas Wipf: Die reformatorischen Kirchen haben sich nach Jahrhunderten des Lebens nebeneinander wieder an die gemeinsamen Grundlagen erinnert. Die Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft ist der Anfang eines Weges miteinander, der zu einer gelebten und sichtbaren Kirchengemeinschaft führen soll. Das Gemeinsame der Reformationskirchen in Glaubensüberzeugung und Dienst an den Menschen ist größer und stärker als vieles, das noch trennt. Der Protestantismus schwächt sich selber durch zentrifugale Kräfte und Zersplitterung. Dabei braucht die ökumenische Gemeinschaft den besonderen Beitrag und die Kraft des evangelischen Zeugnisses.

Frage: Welche Rolle spielt die „Leuenberger Konkordie“ heute in der Schweiz?

Thomas Wipf: Wir müssen selbstkritisch feststellen, dass sie bis jetzt eher nur am Rande wahrgenommen wurde. Anders als etwa in Deutschland handelt es sich in der Schweiz überwiegend um protestantische Kirchen reformierten Bekenntnisses. Der Schweizerische Evangelische Kirchenbund ist deshalb schon eine Kirchengemeinschaft. Zu ihr gehört seit mehr als achtzig Jahren auch die evangelisch-methodistische Kirche. Aus diesem Grunde ist das Bewusstsein in den reformierten Kirchen der Schweiz, zur Leuenberger Kirchengemeinschaft zu gehören, nicht ausgeprägt.
Ich bin aber überzeugt, dass sich dies mit der Zeit ändern wird. Die Leuenberger Konkordie und die fundierten theologischen Konsenstexte können auch den Schweizer Kirchen einen verbindlichen Orientierungsrahmen geben für die Weiterentwicklung des ekklesiologischen Selbstverständnisses (Anm.: Ekklesiologie, Lehre von der Kirche). Die reformierten Schweizer Kirchen müssen die ökumenische Weite und den europäischen, ja weltweiten Kontext ihrer Reformatoren Zwingli, Bullinger und Calvin wiederentdecken.

Frage: Die Leuenberger Kirchengemeinschaft hat bei ihrer letzten Vollversammlung 2001 in Belfast den Auftrag bekräftigt, die Stimme des Protestantismus in Europa zu stärken. Was ist zu tun?

Thomas Wipf: Der Protestantismus hat den heutigen demokratischen und sozialen Rechtsstaat wesentlich mitgeprägt und diese Aufgabe hat er auch im Aufbau einer europäischen Zivilgesellschaft. Eigenschaften und Haltungen wie die Bereitschaft zur persönlichen Verantwortung oder zum politischen Mitdenken und Mitgestalten und gleichzeitig kritischen Hinterfragen alles Etablierten wurzeln stark im protestantischen Verständnis des christlichen Glaubens. Weil der Protestantismus dadurch sehr nahe bei der Gesellschaft ist, steht er bekanntlich in der steten Gefahr, sich quasi in sie zu verlieren. Er muss sich deshalb seiner biblischen und glaubensmäßigen Verwurzelung immer wieder selber bewusst werden. Das gibt ihm die innere Kraft, weiterhin lebens- und gesellschaftsgestaltend zu wirken.
Für die Leuenberger Kirchengemeinschaft heißt das einerseits sorgfältig und fundiert theologisch zu arbeiten und anderseits an der Basis erlebbar zu werden. Die Basisbezogenheit ist eine Stärke des Protestantismus, der nach innen gekehrte territoriale Provinzialismus eine Schwäche.

Frage: In Belfast setzte sich die Idee, eine Europäische Evangelische Synode ins Leben zu rufen, nicht durch. Befürworter dieses Plans fürchten, die Leuenberger Kirchengemeinschaft bringt sich dadurch selbst um die Möglichkeit, besser wahrgenommen zu werden.

Thomas Wipf: Ich halte eine Europäische Evangelische Synode in Zukunft nicht einfach für ausgeschlossen. Unterstützenswert ist alles, was das echte Gespräch fördert, das Gemeinschaftsbewusstsein und die Ausstrahlungskraft stärkt. Es sollte in der gewünschten Vielfalt des europäischen Protestantismus sichtbare „Orte der Einheit“ geben. Autonomie und Verbindlichkeit gehören auf eine Weise zusammen, die man auf französisch „le compossible“ nennt: Gegensätze beisammen halten, die man normalerweise für unvereinbar hält. Oder mit einem Bild ausgedrückt, das auf der Vollversammlung der Leuenberger Kirchengemeinschaft in Belfast gebraucht wurde: Die vielen protestantischen Instrumente sollen eine gemeinsame Partitur zum Klingen bringen. Ausgangspunkt für eine Weiterentwicklung in diese Richtung ist aber in jedem Fall die bestehende Leuenberger Kirchengemeinschaft.

Frage: Wie lässt sich Ihrer Meinung nach evangelisches Profil heute definieren?

Thomas Wipf: Wenn von evangelischem Profil die Rede ist - und ich bin überzeugt, dass wir im Sinne einer Selbstvergewisserung davon reden sollen - dann mit dem Ziel, bewusster unseren Beitrag zum Ganzen des christlichen Glaubens und Handelns heute leisten zu können. Es geht darum gerade nicht um einen neuen Konfessionalismus, sondern um das, was evangelischer Glaube besonders betont. Allerdings beeinflusst mich bei der Beantwortung dieser Frage gleichzeitig auch die Skepsis gegenüber formelhaften Selbstdefinitionen.
Zum evangelischen Profil gehört zuallerst die Dankbarkeit für das Beschenktsein von Gott, ohne zuerst eigene Voraussetzungen erfüllen zu müssen. „Du bist durch Jesus Christus frei“, sagt das Evangelium zu jedem Menschen, „um dich musst du dir keine Sorgen machen“. Dieses uns geschenkte Vertrauen ist der Grund, weshalb wir vertrauensvoll leben können. Und daraus folgt so vieles, was mir kostbar ist: Eine letzte Geborgenheit und daraus eine starke Hoffnung, die Erkenntnis, wie wertvoll jedes einzelne Menschenleben für Gott ist, die Freiheit, unterschiedliche Auffassungen und Lebensweisen als Reichtum zu verstehen, die Einladung zu kreativer Mitgestaltung des menschlichen Zusammenlebens, die Ermutigung, auch gegen den Strom sich für das einzusetzen, was einem im Herzen brennt.
Aber nochmals: Das Nachdenken über „evangelisches Profil“ ist vor allem auch Ausgangspunkt für ökumenische Annäherung und Überwindung vermeintlich trennender Elemente konfessioneller Profile. Wir brauchen als Protestanten die Ergänzung durch unsere Schwesterkirchen: die Kulturen verbindende Katholizität, die Schönheit als Gotteslob der orthodoxen Liturgie, den Enthusiasmus der Pfingstgemeinden.

Frage: Die Leuenberger Kirchengemeinschaft hat in Belfast zwei Lehrgespräche beschlossen: Über evangelisches Profil im missionarischen Auftrag der Kirchen in Europa sowie zu Gestalt und Gestaltung protestantischer Kirchen in einem sich verändernden Europa. Was erwarten Sie von diesen Gesprächen?

Thomas Wipf: Beide Themen nehmen zentrale Herausforderungen für alle Kirchen auf und sind direkt miteinander verbunden. Welche Gestalt und sozialen Formen brauchen die christlichen Kirchen, damit sie in einer offenen und pluralistischen Gesellschaft die Kraft und die Hoffnung des Evangeliums glaubwürdig, nahe bei den Menschen und ihrem Alltag bezeugen können? Das ist vor allem auch eine Frage einer Kommunikation, die das Gemeinsame des christlichen Bekennens und Handelns sichtbar macht.
Die Gemeinschaft protestantischer Kirchen in Europa kann sich auch nur weiter entwickeln, wenn wir bereit sind, gegen die zentrifugalen Kräfte das Anliegen der Verwirklichung der Kirchengemeinschaft entschieden zu fördern. Wir sollten dabei mehr dem Heiligen Geist und den Bedürfnissen der Menschen folgen als überholten, theologisch überhöhten Kirchenstrukturen.
Die Lehrgespräche können dann einen wichtigen Beitrag liefern, wenn parallel dazu in den einzelnen Mitgliedkirchen und Kirchenbünden auch ein Prozess zu den selben Themen in Gang kommt. Theologisch fundierte Arbeit ist wichtig. Von einer abgehobenen Lehrgesprächsgruppe, die bloß akademisch-feststellend arbeiten würde und nicht auf realisierbare Projekte der Veränderung hin, könnte ich nicht viel Neues erwarten. Didaktik und Kommunikation müssen daher wesentliche Aspekte nützlicher Lehrgesprächsgruppen sein. Im Schweizerischen Evangelischen Kirchenbund wollen wir eigene Arbeitsgruppen zu den Themen der Lehrgesprächsgruppen bilden, um auch in unseren Kirchen einen Prozess auszulösen.

Frage: Sie gehören dem dreiköpfigen Präsidium der Leuenberger Kirchengemeinschaft an. Welche Ziele haben Sie sich in Ihrer Amtszeit gesetzt?

Thomas Wipf: Als Mitglied des Präsidiums ist mir wichtig, dass sich der Exekutivausschuss auf der Basis der Belfaster Beschlüsse klare Ziele setzt. Ich hoffe, dass wir uns gegenseitig auf gute Weise herausfordern. Ich beobachte mit einiger Verwunderung und Sorge einen Trend in Richtung bloß bilateraler Ökumene und starker Betonung der episkopalen (Anm.: am Bischofsamt orientierten) Kirchenleitung gegenüber synodal-partizipativer Kirchenordnungen. Dem reformiert-lutherischen Dialog innerhalb der Leuenberger Kirchengemeinschaft möchte ich deshalb besondere Aufmerksamkeit schenken.
Für mich ist die biblisch fundierte Theologie Martin Luthers doch genau so grundlegend wie meine evangelisch-reformierte Identität. Die unierten Kirchen können hier auch in Zukunft eine wichtige Brückenfunktion übernehmen.

Frage: Was bringen die Kirchen der Schweiz in die Leuenberger Kirchengemeinschaft ein?

Thomas Wipf: Der Rat des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes hat als Grundlage für seine Arbeit vier Ziele formuliert und eine Reihe von Maßnahmen, um auf diese Ziele hinzuarbeiten. Ein wichtiges Ziel - vielleicht in nächster Zeit das Hauptziel - ist es, dass in der Schweiz und in Europa das Gemeinschaftsbewusstsein im Protestantismus wächst und dass er sich verbindliche Formen der Zusammenarbeit gibt. Die Mitarbeit in der Leuenberger Kirchengemeinschaft gehört deshalb zu den Prioritäten unserer Arbeit. Sie ist für uns die Voraussetzung und Vorbereitung für eine konstruktive Mitarbeit in der Konferenz Europäischer Kirchen (KEK). Dasselbe gilt analog für unser Engagement im Reformierten Weltbund (RWB) und im Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK).
Im übrigen sind wir auch „Kirchen unterwegs“ und am Lernen. Viele kleine, lebendige reformierte Kirchen weltweit erwarten für ihr eigenes Kirchesein Impulse aus dem Reformationsland Schweiz. Sie sind es, die uns neu aufmerksam machen auf das, was uns damals geschenkt wurde und wesentlicher Ausdruck reformatorischer Kirchen geworden ist. Zwingli fasziniert wegen seiner Verbindung des persönlichen Glaubens mit der Bereitschaft, gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen oder auch wegen seines föderalen, basisdemokratischen Denkens. Calvin kann Ausgangspunkt sein für eine zukunftsorientierte ökumenische Theologie und Kirchenverfassung.

Frage: Sie haben sich unlängst dagegen gewandt, dass im Zusammenhang der Berichterstattung über die Konfliktlage in Nordirland immer von „Protestanten“ und „Katholiken“ die Rede ist. Was stört Sie daran?

Thomas Wipf: Die Bezeichnungen „Protestanten“ und „Katholiken“ halte ich für einen Missbrauch in der Medienberichterstattung über Nordirland. Die Teilnehmenden der Leuenberger Versammlung in Belfast im vergangenen Jahr waren beeindruckt von der vielfältigen ökumenischen Versöhnungsarbeit der dortigen Kirchen. In den Medien bei uns werden radikalisierte sektiererische Gruppen einfach als „Protestanten“ oder „Katholiken“ bezeichnet. Dabei geht es im Wesentlichen um politische und soziale Gegensätze, die von radikalen Gruppen pro-britischer „Unionisten“ oder „Loyalisten“ und radikalen Anhängern pro-irischer „Nationalisten“ oder „Republikanern“ ausgetragen werden. Die Leuenberger Kirchengemeinschaft unterstützt die Menschen und Kirchen in Nordirland, die in dieser schwierigen Situation den Weg des Friedens und der Verständigung gehen. Diese Menschen sollten bei uns zu Wort kommen.

Das Interview führte Udo Hahn.

Zur Leuenberger Kirchengemeinschaft (LKG) haben sich 103 protestantische Kirchen in Europa (und in Südamerika) zusammen geschlossen. Lutherische, reformierte, unierte, methodistische und hussitische Kirchen gewähren einander durch ihre Zustimmung zur Leuenberger Konkordie von 1973 Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft. Die fünf protestantischen Kirchen in Südamerika, die zur LKG gehören, haben sich aus früheren Einwandererkirchen entwickelt. Zwischen den Vollversammlungen führt der 13 Personen umfassende Exekutivausschuss die Geschäfte. Webseite: www.leuenberg.net/

Quelle: RNA/LKG

Datum: 16.07.2002

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