Postmodern mit der Bibel umgehen

Der Frosch im Labor und der Frosch im Teich

Das Time Magazine zählt ihn zu den 25 einflussreichsten Evangelikalen Amerikas, da er auf Konferenzen landesweit für ein neues Lesen der Bibel und ein anderes Gemeindeleben plädiert: Brian McLaren ist der führende Kopf der Emergent-Bewegung.
Brian McLaren
Nirgends gibt es so viele Bibeln und Bücher zum Bibelstudium wie in den USA.
Wissen, was Gott will: Die 10 Gebote in einem Vorgarten im Bundesstaat Georgia.
US-Patriotismus und Konsumdenken sind eng verquickt.
Gottes Güte feiern: Gottesdienst in einer Evangelical Presbyterian Church im Bundesstaat Virginia.
Brian McLaren 2006

In der US-Zeitschrift ‚Conversations’ legt McLaren dar, weshalb er über die Grenzen und Gräben der gewachsenen religiösen Kultur hinaus schweift. Fundamentalismus und Liberalismus sieht er als zwei entgegengesetzte Pole des Christentums in der Moderne, die mit der Aufklärung im 18. Jahrhundert einsetzte.

Jenseits der Pole

Die Polarisierung will McLaren, Pastor einer Gemeinde in Spencerville nördlich von Washington, überwinden, indem er mit dem analytischen Ansatz bricht, der beiden Polen gemeinsam ist. „Die Moderne liebt die Analyse. Analyse meint, dass man etwas zu verstehen sucht, indem man es in Stücke aufbricht, ein komplexes Ganzes in einfache Teile oder Elemente zerlegt.“

Den Frosch sezieren…

So habe man die Bibel zerlegt, bis hin zu Wortbestandteilen. „Und dann meinen wir, wir hätten sie vollumfänglich verstanden – wie einen Frosch, den wir im Labor seziert haben. Aber der Laborfrosch ist viel weniger interessant als der Frosch im Teich, wo er mit Fliegen, Schlangen, Fischen, der Sonne, Wind und Regen, Trockenheit, Insekten und Umweltgiften zu tun hat.“ Wer den Frosch in seiner natürlichen Umgebung studiert, lernt unsagbar viel, was er im Labor nie mitbekommt. „Und vielleicht kommen Sie sogar so weit, dass Sie den Frosch mögen und sich um ihn sorgen, wenn Bulldozer auffahren oder Chemikalien in den Teich geleitet werden…“

Brian McLaren möchte dementsprechend mit der Bibel umgehen, mit ihr leben. „Wir sehen die Bibel als Teil einer grösseren Welt… als dynamischen, wesentlichen Player in der Geschichte des menschlichen Ökosystems.“ All die analytische Bibelkenntnis habe US-Christen nicht daran gehindert, Sklaven zu halten, die Umwelt mit Abfall zu überhäufen und Menschen wie die ‚native Americans’, die Indianer, zu erniedrigen.

…um Erkenntnis zu gewinnen?

Der bekannte Buchautor unterstellt liberalen wie konservativen Theologen, dass sie die Bibel im Grunde ähnlich gebrauchen. Beide Lager seien vom Denken des französischen Philosophen René Descartes bestimmt – auch wenn die Konservativen dies nicht wahrhaben wollten. „Descartes lehrt uns, uns auf abstrakte Lehrsätze zu konzentrieren, die wir – wie Mineure ihre unterirdischen Schätze – aus den Bergen und Tälern der Schrift bergen sollen.“ Systematische Theologie vergleicht McLaren mit einer Fabrik, die Bodenschätze verarbeitet.

‚Wir verpassen die Hauptsache alle miteinander’

Zwar unterscheiden sich die Christen in den USA laut McLaren darin, dass die Liberalen die Aussagen der Bibel offen hinterfragen und relativieren, während die Konservativen sich darauf beschränken, die passenden unter ihnen zu einem System zusammenzufügen. Doch ein Mineur unter Tag nehme Entscheidendes vom Gesamten des Bergs nicht wahr – im Unterschied zum Biologen oder zum Künstler. McLaren vergröbert bewusst: „Unsere Kirchen rechnen sich entweder dem liberalen oder konservativen Pol zu – und das lässt mich denken, dass wir alle miteinander die Hauptsache verpassen.“

Prägen Christen – oder werden sie fremdgeprägt?

Im weiteren Verlauf des Gesprächs spitzt der Ostküstenpastor seine Frage zu: „Werden unsere Leute nicht ins Bild von Christus verwandelt, sondern in das der Welt – und merken es nicht einmal? Formen uns das Evangelium und die Lehren der Bibel zu einer wahrhaft einzigartigen Gemeinschaft – oder sind wir ein religiöses Echo säkularer Bewegungen?“

Die westlichen Christen sieht der weitgereiste Theologe nicht am oberen Ende einer slippery slope (Rutschpiste), sondern bereits unten! So gehe es weniger darum, sich vor der aufziehenden Postmoderne in Acht zu nehmen. Vielmehr seien folgende Fragen zu stellen: „Wie sind wir Gefangene von Kolonialismus, Konsum-Mentalität und Moderne geworden? Wie weit sind wir auf ihrer Piste abgerutscht? Nun, ich denke, ziemlich weit – viel weiter, als irgendjemand von uns einsieht.“

Die Bibel neu lesen – und Hoffnung gewinnen

McLaren, der sich bei diesem Urteil nicht ausnimmt, will die Bibel neu lesen. Die Geschichten von Jesus – was er erlebte und was er erzählte – sind für ihn das Eingangsportal; durch sie sieht er all die anderen Geschichten.

Der Pastor unterstreicht, dass Paulus in der berühmten Stelle von der göttlichen Inspiration der Schrift in 2. Timotheus 3 nicht eine christliche Weltanschauung im Sinn hatte, sondern gute Taten: „…dass der Mensch Gottes vollkommen sei, zu allem guten Werk geschickt“ (Luther). Nicht Rechthaberei, sondern ‚good works’ und Hoffnung sollen aus dem Lesen der Bibel erwachsen.

‘Most of the Bible is art’

Dieses Lesen der Schrift muss ihr als Kunstwerk gerecht werden, fordert Brian McLaren. „Most of the Bible is art“ – ohne einen Sinn für Kunst würden Studenten das Buch der Bücher „wie Steuerbuchhalter“ lesen. Der Theologe fordert mehr Konversation in den theologischen Schulen. Und gemeinsame Lektüre der Schrift: „Ich würde die Leute zusammennehmen und sie ein rechtes Stück der Bibel gemeinsam laut lesen lassen. Dann würde ich sie zum Dialog anleiten über den Abschnitt, vielleicht 3-5 Kapitel.“ In seiner Cedar Ridge-Gemeinde habe dies die Leute elektrisiert, sagt McLaren.

Spannungsvoll wie das Leben

Gegensätzliche Aussagen in der Bibel sind auszuhalten und abzuwägen: Esra verbot die Heirat mit nicht-israelitischen Frauen; Boas wurde bei der Heirat mit Ruth eben dafür gelobt. „Wir müssen ringen im Spannungsfeld von Identität und Offenheit, von Assimilation und Abschottung. Die Bibel mag uns keine simple Antwort auf diese Fragen geben (ausser man verwirft Boas und hält sich an Esra, was oft geschieht), aber ich denke, sie bewirkt etwas Besseres: Sie durchtränkt uns im Lauf des Ringens und macht uns empfänglich für die Stimme des Heiligen Geistes.“

Empfangen und wachsen lassen

Brian McLaren hat Aufsehen erregt mit der Bemerkung, dass es nicht so sehr darauf ankommt, dass wir die Bibel lesen – sondern dass wir ihr erlauben, uns zu lesen. Er meint damit „aktive, aufmerkende, ‚durstige’ Empfänglichkeit statt aggressiver, zerstückelnder Analyse“. Er braucht das Bild vom Samen, der aufgenommen werden muss und sich dann entwickelt, bis etwas Neues aufwächst.

Hunger und Durst nach mehr

McLaren will sich die Begeisterung für das Kommen von Gottes Herrschaft durch Christus nicht nehmen lassen. Dass so vieles offen bleibt, stört ihn nicht: „Die Bibel wirft so viele Fragen auf, wie sie beantwortet – vielleicht noch mehr. Und ich bin so weit, dass ich dies an der Bibel liebe. Denn ich denke, es ist die Haltung des Suchens und Fragens, der Neugier, des Hungers und Dursts, die uns weiter zur Erkenntnis des Herrn vorstossen lässt.“

Das gesamte Interview mit Brian McLaren im englischen Original
Webseite von Brian McLaren
Der Werdegang von Brian McLaren
Homepage seiner Cedar Ridge Gemeinde
Webseite der Emergent-Bewegung

Datum: 04.03.2006
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch

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