Interview mit Dr. Enright (II)

„Wenn wir vergeben, dann vollbringen wir eine Tat der Liebe“

Wer um Vergebung bittet, gibt die Schuldhaftigkeit seines Tuns zu und bewirkt oft schon damit Verständigungsbereitschaft. Trotzdem fällt sowohl Vergebung wie die Bitte darum den meisten Menschen sehr schwer. Rache gilt als "süss", und Vergeltung nach der Regel "Wie du mir, so ich dir" scheint das Normale zu sein.
Vergebung

Wir veröffentlichen den zweiten Teil des Interviews mit Dr. Robert Enright, dem Gründer des internationalen Instituts für Vergebungsforschung in Madison (US-Bundesstaat Wisconsin). Den ersten Teil können sie hier nachlesen: Vergebung als Chance

Welchen Rat geben Sie jenen Menschen, die sich in ihrem Alltag um Vergebung bemühen?
Dr. Enright: Zuallererst steht die Vergebung Gottes vor uns, und wir dürfen Vergebung nicht einfach nur als psychologische Methode verstehen. Vergeben heisst, in das Geheimnis des Kreuzes Christi einzutreten. Das ist eine schwierige Lehre, aber es lohnt sich sehr, sie zu erlernen.

Wenn die Menschen vergeben, ohne dabei ausdrücklich die Absicht zu haben, Gott zu gehorchen, kann ihnen dieses Verhalten auch sehr viel helfen und sie ihm gegenüber öffnen.

Dann müssen diejenigen, die Vergebung erlernen wollen, tatsächlich wissen, was Vergebung ist und was sie nicht ist. Zur Vergebung gehört dazu, dass man dem Schuldigen eine bedingungslose Liebe entgegenbringt. Das ist kein Zeichen für Schwäche. Wenn man jemanden vergibt, dann kann man auch Gerechtigkeit walten lassen. Wenn das eigene Auto demoliert worden ist, kann man dem Schuldigen vergeben und ihm zugleich die Rechnung für die Reparatur schicken.

Vergebung ist ganz eng mit der Gnade Gottes verbunden. Aus diesem Grund gehören das Gebet und das Vertrauen gegenüber dem göttlichen Wirken im menschlichen Herzen mit zur Vergebung dazu. Demjenigen, der diese Quellen der Gnade nicht frequentiert, kann ich nur sagen, dass wir das Handeln Gottes nicht vollständig verstehen können. Sogar nach zwanzig Jahren Studium der Vergebung stehe ich immer wieder vor neuen Überraschungen. Und ich habe gute Resultate genauso mit erklärten Atheisten wie mit gläubigen Christen erzielt.

Wichtig ist also, für das Geheimnis der Vergebung offen zu sein und nicht so sehr auf die eigene Geschichte zu schauen.

Was sagen Sie zu einem Menschen, der seine Angehörigen beim New Yorker Terroranschlag am 11. September verloren hat? Wie kann ein solcher Mensch wieder lernen, zu vergeben?
Ich frage diejenigen, die nicht vergeben können: "Bist du bereit, herauszufinden, was Vergebung ist und was es nicht ist?" Diese Frage drängt nicht, dem anderen zu vergeben, sondern einmal zu schauen, was es mit Vergebung auf sich hat.

Demjenigen, der die ganze Dimensionen der Vergebung bereits kennt, stelle ich folgende Frage: "Bist du bereit, grundsätzlich an die Möglichkeit zu denken, demjenigen zu verzeihen, der dich verletzt hat? Willst du dich bemühen, diese Person nicht zu verletzen?" Diese Frage fordert von niemandem, den Übeltäter zu lieben. Vielmehr dient sie dazu, vom Negativen in einem selbst loszukommen und den Wunsch, es dem anderen heimzuzahlen, in Frage zu stellen.

Dann kommt die nächste Frage: "Wünscht Du der betreffenden Person das Gute?" Diese Frage führt in eine positive Richtung. Wenigstens zum vielleicht unreflektierten Wunsch, dass es jetzt um das Wohl eines anderen Menschen geht.

Alle diese Fragen sollen denjenigen, der verletzt worden ist, zur Liebe zurückführen und zur Liebe bewegen. Wenn er aber dennoch nicht dazu bereit ist, zu vergeben, so muss sein nachdrücklich ausgesprochenes "Nein" am heutigen Tag nicht notwendigerweise das letzte Wort sein. Er kann sich morgen ändern.

Jesus ist die Liebe. Wenn wir jemanden vergeben, dann vollbringen wir eine Tat der Liebe. Wann immer man bewusst oder unbewusst vergibt, fliesst in uns die Liebe Christi, die er uns durch seinen Tod am Kreuz geoffenbart hat. Vergeben heisst auch, dass jemand zugunsten einer anderen Person leidet. Trotz des Leidens, das uns deswegen aufgebürdet wird, sagen wir Ja dazu. Vergeben bedeutet, dem Leiden, das der andere mir zugefügt hat, nicht mehr so viel Bedeutung beizumessen.

Welche Projekte warten auf Sie?
Während der nächsten zehn Jahre werden wir mit Kindern arbeiten, die Kriege erlebt und in einem gewalttätigen Umfeld aufgewachsen sind. Ihnen wird man in Schulen und zu Hause beibringen, zu vergeben.

Vergebung ist ein Aspekt, den die Friedensbewegung fast vollständig ignoriert hat, obwohl es ohne Vergebung keinen dauerhaften Frieden geben kann. Da es lang dauert, Vergebung zu erlernen und wirklich zu schätzen, müssen wir bei den Kindern anfangen. Bei ihnen ist die Wahrscheinlichkeit grösser, dass sie die Lektion gut lernen.

Aber wir möchten auch alle Menschen guten Willens davon überzeugen, dass Vergebung besonders für die Kinder sehr wichtig ist und dass sie ein bedeutender Bestandteil der verschiedenen friedenserhaltenden Massnahmen werden muss.

Ziemlich häufig passiert es in Kriegsgebieten, dass Menschen mit tiefen Wunden und grossem Hass im Herzen heiraten – Gefühle, die sich auf viele Generationen übertragen. Wir möchten spezielle Kurse für solche Familien anbieten, damit sie fähig werden, den eigenen Hass zu überwinden, um ihn nicht mehr an ihre Kinder weiterzugeben.

Im Wesentlichen versuchen wir, unser Thema in Hochschulen, Schulen, Privathäusern und religiösen Gemeinschaften als so genannte "Vergebungsgemeinschaften" anzubieten. Dort können sich die Betroffenen gegenseitig stärken und zur Vergebung ermutigen. Und es geht darum, dass immer mehr Gemeinschaften dieser Art entstehen.

„Und vergib uns unsere Schuld,
Wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.“

Datum: 10.10.2005
Quelle: Zenit

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