Wunden der Gewalt

Seelische Traumatisierung verstehen und bewältigen

„Wunden der Gewalt“: Unter diesem Thema stand das 15. Riehener Seminar der Klinik Sonnenhalde, das am Dienstag auf St. Chrischona bei Basel durchgeführt wurde. In Referaten und Workshops erhielten die 750 Besucher des Seminars Einblick in Problematik und Lösungsansätze.
Aktuelles Thema: Die Folgen verborgener Gewalt
Neue Ansätze zur Therapie: Prof. Ulrich Schnyder
Nicht wegsehen: Monica Kunz
Das Riehener Seminar füllte das Konferenzzentrum auf St. Chrischona.
Es gibt Hoffnung: Werner Tschan

Gewalt herrscht nicht nur in Krisengebieten wie Irak, Afghanistan oder Kambodscha, sondern ist auch bei uns anzutreffen, bis in den engsten Familienkreis. Egal wo sie auftritt, hinterlässt Gewalt Wunden. Nicht nur körperliche, sondern vor allem auch seelische. Fachpersonen begegnen in Therapie und Seelsorge immer wieder Menschen, die in ihrer Kindheit sexuell ausgebeutet oder durch Krieg und Flüchtlingslos traumatisiert wurden.

„Durch die Gewalt wird die Welt dieser Menschen zerstört“, beschrieb Samuel Pfeifer, Chefarzt der Klinik Sonnenhalde, die Situation, „Menschen, denen sie bis dahin vertraut haben, können sie nicht mehr vertrauen. Lebensfrohe Personen werden ängstlich und ziehen sich zurück.“ Diesen Menschen müsse geholfen werden.

Ein Blick in die Forschung

Der Zürcher Psychiatrieprofessor Ulrich Schnyder zeigte anhand neuster Forschungsergebnisse, dass über die Hälfte aller Menschen im Verlauf ihres Lebens eine gravierende traumatische Erfahrung erleiden. Ein daraus bleibendes Trauma betreffe aber nur zehn Prozent. Sofort-Massnahmen würden oft bewirken, dass das bleibende Trauma verstärkt werde, kritisierte Schnyder.

Neben allen negativen Auswirkungen kann eine traumatische Erfahrung unter gewissen Umständen aber auch Anstoss zu positiven Entwicklungen geben, sagte der Referent. Menschen würden plötzlich entdecken, dass sie ihr Leben intensiver wahrnehmen und bewusster wertschätzen oder dass sie in religiöser Hinsicht weitergekommen seien.

Hinsehen oder Wegsehen?

Laut Monica Kunz, Leiterin der Fachstelle Häusliche Gewalt im Thurgau, werden jährlich in der Schweiz 45'000 Kinder sexuell ausgebeutet. Besonders betroffen seien Kinder im Alter von sechs bis zwölf Jahren. Rückblickend auf sein/ihr Leben berichte jeder achte Mann und jede vierte Frau von sexueller Ausbeutung! Aber noch immer sei sexuelle Ausbeutung ein Tabuthema, kritisierte die Fachfrau, die Opfer berät.

Kunz betonte, dass man hinschauen und das Thema aktiv im Gespräch behandeln müsse. Während man in den 70er Jahren noch von einem simplen Täterbild (alkoholisierte Arbeiter) ausgegangen sei, wisse man heute, dass die Täter in jeder Gesellschaftsschicht zu finden seien. In 75% aller Fälle würden sich Täter und Opfer kennen. Die Täter bauten eine Vertrauensbeziehung auf und nutzten dann die Hilflosigkeit und Machtlosigkeit des Kindes aus, um die eigenen Wünsche zu befriedigen.

Für die Kinder seien die Folgen sexueller Ausbeutung fatal. Das Kind nehme auf allen Ebenen Schaden: emotional, sozial, psychosomatisch und körperlich. „Sexuelle Ausbeutung ist ein Anschlag auf die Identität des Kindes“, hob die Mutter dreier Kinder hervor.

Prävention tut Not

„Intervention ist immer nur Flickwerk, weil sie zu spät kommt. Nötig ist Prävention“, sagte Monica Kunz. Trotzdem sei Intervention besser, als gar nichts zu unternehmen. Dabei sollten Fachpersonen zugezogen werden. Jede Intervention müsse den Schutz des Kindes als oberste Priorität immer im Auge behalten, mahnte Kunz.

Prävention muss fortlaufend geschehen und in die Erziehung der Kinder eingebettet werden. Die Erwachsenen müssen laut Kunz die Verantwortung mittragen, indem sie z.B. dem Kind erklären, wie Täter vorgehen. Vor allem aber, indem sie das Kind in seiner ganzen Art ernst nehmen. „Kinder nehmen im Durchschnitt sechs Mal Anlauf, bis ihnen jemand zuhört. Sie müssen schneller gehört und unterstützt werden.“

Gibt es Hoffnung?

„Ja“, meinte der Arzt Werner Tschan, Leiter des internationalen Instituts und des Beratungszentrums gegen sexuelle Grenzverletzungen in professionellen Beziehungen. Das Opfer erwarte die Hilfe der Profis und der Mitmenschen, welche durch aktive Zuwendung erbracht werden müsse. Heilung basiere immer auf Beziehungen; die Therapie allein reiche nicht aus. Auch das Gespräch allein heile nicht alle Wunden, führte Tschan aus. Oft brauche es Kunst- und Gestalttherapie, Spiritualität oder andere Formen.

Die therapeutischen Möglichkeiten hätten Grenzen. Das Trauma könne nicht rückgängig gemacht werden. Die Ziele der Therapie müssten realistisch und realisierbar sein, nur so könne mit guten Resultaten gerechnet werden. Und auch nur so könne das Opfer langsam vom Opfer zum Überlebenden werden und schlussendlich zum „Kämpfer“ in eigener Sache. Es gäbe Hoffnung, und diese zu vermitteln sei die Aufgabe der Fachleute mit all ihren Kenntnissen!

Wenn Helfen weh tut

„Wie kann ich mich meines Lebens freuen, wenn andere Menschen leiden?“ Diese Frage bewege nicht nur Woody Allen, sondern auch die Therapeuten und Seelsorger, sagte der Veranstalter Samuel Pfeifer in seinem Schlussvotum. Es sei deshalb wichtig, dass sich die Ratgebenden der Gefahren bewusst seien und wüssten, wie sie sich abgrenzen können.

Datum: 29.10.2004

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