Ein Tabu?

Spiritualität in der Psychiatrie

Wer seelisch leidet, wird heute immer häufiger als psychisch krank angesehen, bedauert Daniel Hell¸ Professor für klinische Psychiatrie an der Universität Zürich und klinischer Direktor an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. Doch gehöre natürlich nicht jeder, der seelisch leidet, in eine psychiatrische Behandlung oder gar in eine psychiatrische Klinik.
Prof. Dr. med. Daniel Hell

Eine spirituelle Öffnung der Psychiatrie würde eine Enttabuisierung des Religiösen in der Psychiatrie mit sich bringen. In Ansätzen sei dies bereits zu beobachten, so Daniel Hell im folgenden Interview.

Georges Scherrer: Mijailo Mijailovic, der Mörder der schwedischen Aussenministerin Anna Lindth gab an, "Jesus" habe ihn für diese Tat erwählt. In Argentinien sprang Anfang Jahr der 22jährige Lucas Tomas in eine Löwengrube; er gab an, "Gott" habe ihn zu dieser Tat beauftragt. Ist es statthaft, diese beiden Wahnsinnstaten in einen religiösen Zusammenhang zu setzen?
Daniel Hell: Wahnideen bei psychotisch erkrankten Menschen können die verschiedensten Bereiche des alltäglichen Lebens betreffen. Dazu gehören natürlich auch religiöse Vorstellungen, die eine Kultur prägen und die von psychotisch erkrankten Menschen in krankhafter Weise selbstbezogen übernommen werden. Religiöse Wahninhalte sind aber in unserer heutigen Zeit eher selten. Häufiger sind wahnhafte Verarbeitungen zwischenmenschlicher und familiärer Situationen oder ins Wahnhafte gesteigerte gesellschaftliche Benachteiligungen. Der Inhalt eines Wahns ist von kulturellen Umständen geprägt. So wurden früher oft Freimaurer, Juden und Kommunisten zu Themen bei Wahnkranken, während heute eher Geheimdienste (wie der CIA) oder technische Entwicklungen eine Rolle spielen.

Religiöse Wahnvorstellungen sind also nicht der Religion anzulasten, sondern sie sind eher Zeichen dafür, dass religiöse Vorstellungen im Leben eines Wahnkranken und in seiner Kultur eine Bedeutung haben. Es ist also nicht das religiöse Erleben, das krankhaft ist. Kranke Züge trägt vielmehr das isolierende Festhalten an einem Auserwähltsein im konkreten Alltag und gegenüber den Mitmenschen.

Die Beziehungen zwischen Psychiatrie - der Neurowissenschaft - und Religion waren lange Zeit schwierig. Das Religiöse wurde radikal aus den psychiatrischen Kliniken verbannt. Warum?
Es gab zwar immer einige religiös geprägte psychiatrische Kliniken, die etwa von Diakonissen oder von Ordensschwestern geführt wurden. Doch ist die Psychiatrie ein Kind der Aufklärung, also jener modernen Bewegung, welche das religiös geprägte Weltbild des Mittelalters durch wissenschaftliches Denken aufdecken und ablösen wollte. So entstand die Psychiatrie im 18. und 19. Jahrhundert als medizinische Gegenbewegung zur kirchlichen Seelsorge. Sie hat den religiösen Kontext aufgegeben und versucht, das Seelische im weltlichen Sinne zu verstehen, bis hin zur jetzigen Tendenz, das Seelische als ausschliesslichen Gehirnprozess zu verstehen.

Gibt es einen Unterschied zwischen "psychisch" leiden und "seelisch" leiden? Oder ist jemand, der "seelisch" leidet einfach "psychisch" krank, so dass er in eine psychiatrische Klinik gehört?
Der Begriff Psyche stellt eigentlich eine Übersetzung aus dem Griechischen für das Wort Seele dar. Psychisch ist aber zu einem terminus technicus in Psychologie und Psychiatrie geworden und hat den früher viel umfassenderen Sinn des Seelischen eingebüsst. In der Psychoanalyse wurde das Wort Psyche so weit säkularisiert, dass es die frühere Vorstellung von einer Seele als einzigartiger und unsterblicher Substanz verloren hat.

Der Begriff "Seele" ist heute in Psychologie und Psychiatrie auf das seelische Erleben eingegrenzt, also auf das, was ein Mensch aus erster Hand erfährt. Dazu gehört auch das Leiden. Wer leidet, wird heute gemäss der Definition der Weltgesundheitsbehörde aber immer häufiger als psychisch krank angesehen. Diese höchst bedenkliche Tendenz ist nicht unabhängig von Marktinteressen. Natürlich gehört aber nicht jeder, der seelisch leidet, in eine psychiatrische Behandlung oder gar in eine psychiatrische Klinik.

Wie unterscheiden sich aus der Sicht des Psychiaters Religion und Esoterik?
Es gibt eine aus den USA stammende Tendenz, spirituelles Erleben areligiös zu verstehen. Dieses Verständnis hat sich in den letzten Jahren auch in Europa ausgebreitet. So wird künstlich zwischen Religion und Spiritualität unterschieden. Die Gefahr der Esoterik liegt darin, dass sie auf den jahrhunderte alten Erfahrungsschatz der Grosskirchen verzichtet und sich kurzlebigen Modeströmungen verschreibt.

Die Psychiatrie bemüht sich heute, die Spiritualität in den Behandlungen zu berücksichtigen. Ist das ein allgemeiner Trend oder sind es erst wenige Kliniken, die diese Versuche wagen?
An den psychiatrischen Kliniken der Schweiz und Mitteleuropas ist Spiritualität meist noch ein Fremdwort. Wenn die Psychiatrie von Spiritualität überhaupt berührt wird, so geschieht es leider eher im esoterischen Sinn über alternative psychotherapeutische Bewegungen. Eine spirituelle Öffnung der Psychiatrie, die meines Erachtens auch eine Enttabuisierung des Religiösen in der Psychiatrie mit sich zu bringen hätte, ist erst in Ansätzen im Gange.

Haben die "Seelsorger" der Kirchen Zutritt zu psychiatrischen Kliniken?
In den meisten psychiatrischen Kliniken sind die Grosskirchen mit Seelsorgern vertreten. So arbeiten an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich sowohl ein katholischer wie ein reformierter Seelsorger im Auftrag der Landeskirchen. Diese Seelsorger haben glücklicherweise eine weit grössere Freiheit in ihrer Amtsführung, als dies für die psychiatrisch Tätigen zutrifft. Sie sind weniger von administrativen und gesundheitspolitischen Zwängen belastet und vermögen deshalb oft viel "ganzheitlicher" und offener auf die Patientinnen und Patienten zuzugehen. Sie bilden oft eine religiöse und ökologische Nische in den psychiatrischen Kliniken, die von den betroffenen Patientinnen und Patienten sehr geschätzt wird.

Viele Menschen empfinden heute das Umfeld von Klöstern wegen der Ruhe und dem beschaulichen Leben als angenehm. Das Angebot "Kloster auf Zeit" stösst auf Interesse. Können Sie sich eine Zusammenarbeit mit Klöstern vorstellen?
Ich hatte bereits Patientinnen, die direkt im Anschluss an eine psychiatrische Behandlung in ein Kloster "auf Zeit" übergetreten sind. Meine Erfahrungen sind günstig, auch wenn es durchaus auch zu Rückfällen der psychiatrischen Erkrankung kam. Wichtig scheint mir, dass sowohl Seelsorge wie Psychiatrie ihre Stärken, aber auch ihre Grenzen kennen.

Therapien in psychiatrischen Kliniken sind teuer. Der Einsatz von Seelsorgern kann sich für ein Spital finanziell lohnen, besonders wenn dieser zu einer schnelleren Heilung des Patienten führt. Werden finanzielle Überlegungen das Zusammenfinden von Psychiatrie und Theologie beschleunigen?
Das glaube ich nicht. Es wäre meines Erachtens auch problematisch, wenn die Seelsorger unter einen ähnlichen Erfolgsdruck kämen wie es die Psychiatrie heute schon ist.

Hinweis: Die Zeitschrift "Informationen aus der Psychiatrieszene Schweiz", die von Pro Mente Sana herausgegeben wird, ist in Nr. 4/03 dem Thema "Spiritualität in der Psychiatrie - ein Tabu?" gewidmet. Das Heft kann bezogen werden bei: kontakt@promentesana.ch

Daniel Hell ist sei 1991 Professor für Klinische Psychiatrie an der Universität Zürich und Klinischer Direktor an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. Sein wissenschaftliches Interesse gilt vor allem dem Verständnis affektiver und psychotischer Erkrankungen in ihrer ganzen Komplexität. Als Autor ist er mit mehreren Büchern hervorgetreten. Dazu gehören Bestseller wie "Welchen Sinn macht Depression?" und sein neuestes Buch "Seelenhunger – der fühlende Mensch und die Wissenschaften vom Leben". Er ist Mitglied der Nationalen Ethikkommission im Bereich Humanmedizin.

Datum: 04.03.2004
Autor: Georges Scherrer
Quelle: Kipa

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