Verwundete Helfer

Seelsorge an Seelsorgern in der Schweiz

Freiburg i. Ü. Viele katholische Priester und Kirchenmitarbeiter sind frustriert und überfordert. Manche brauchen selber psychologische Hilfe. Befragungen ergeben: Die Ursachen für Sinnleere, religiöse Krisen und Burnout-Gefühle bei Seelsorgern sind vielschichtig. Dass Betroffene verstärkte Begleitung brauchen, hat man auch in der Kirche der Schweiz vielerorts erkannt.

Die Krise kam auf leisen Sohlen. Hannes Mayer (Name geändert) fühlte sich lange müde und ausgelaugt, dann bekam er eine Grippe, die nicht ausheilen wollte. Der Körper des Gemeindepfarrers rebellierte gegen einen Alltag, der ihm immer mehr zur Last wurde. Er hetzte von der Taufe zur Trauung, vom Krankenbesuch zum Gottesdienst. Dabei wurde er immer weniger Seelsorger und immer mehr Gemeindemanager. Der Kontakt zu Freunden litt. Die Einsamkeit am Abend wurde unerträglich.

Einige Monate später: Hannes Mayer blinzelt entspannt in die Sonne. In der Probstei Wislikofen im Kanton Aargau kann er seelisch auftanken, zur Ruhe kommen und viele Gespräche führen. Es ist nicht sein erster Aufenthalt hier. Einige Male seit seinem Zusammenbruch hat der 54-Jährige sich Auszeiten gegönnt, hat Rat gesucht oder einen Kurs besucht. Zusammen mit anderen Kollegen nimmt er während mehreren Tagen an einer Pastoralkonferenz teil, die sich die Probleme des Seelsorgepersonals zum Thema gemacht hat.

Vielfältige Beratungslandschaft

Seelsorger in Not. Durch die Verhaftung des Pfarrers von Walenstadt SG, der sexuelle Übergriffe auf Knaben gestanden hat, rückte nicht nur das Thema sexueller Missbrauch in der Kirche ins Bewusstsein der Öffentlichkeit, sondern auch das Beispiel eines Priesters, der mit sich selbst nicht zurecht gekommen ist.

Was tut die Kirche für Priester und Kirchenangestellte, die am "Burn-out-Syndrom" durch Überbelastung, die an Alkoholismus, Beziehungsproblemen oder an religiösen Krisen leiden? Ist das aargauische Bildungshaus Wislikofen eine der wenigen Oasen, wo Betroffene auftanken können? Im Gegensatz zu anderen Ländern gibt es in der Schweiz (noch) keine überdiözesane Einrichtung, an die sich betroffene Seelsorger wenden können.

In der Erzdiözese Wien beispielsweise existiert seit Jahren eine zentrale Anlaufstelle. In Deutschland besteht mit dem "Recollectio"-Haus des Benediktinerklosters im unterfränkischen Münsterschwarzach eine Einrichtung für betroffene Seelsorger, die für ähnliche Häuser in anderen Ländern Vorbild ist.

"Es läuft viel Neues an"

Doch hat sich auch in der Schweiz auf dem Gebiet "Seelsorge an Seelsorgern" einiges getan. In Zürich wird dazu gerade eine neue Ombudstelle eingerichtet. Im Bistum Basel gibt es nicht nur von Fachkräften geleitete Beratungsstellen, an die sich betroffene Seelsorger wenden können, so Alois Reinhard, Personalverantwortlicher des Bistum Basel, es gibt auch die Schulung der Seelsorger sowie der kirchlichen Mitarbeiter selbst. Mitarbeiter sollen in Förderungsgesprächen auf ihre Selbst- und Sozialkompetenz angesprochen werden.

Verschiedene Landeskirchen bieten ihren Seelsorgern und Mitarbeitern Supervision und Meditation an. Otto Wertli, Sekretär der römisch-katholischen Landeskirche im Kanton Aargau, betont: "Auf diesem Gebiet läuft derzeit viel Neues an." Auch auf alte Traditionen werde Wert gelegt. Im Bistum Basel lade der Bischof Priester jeweils nach zehn Jahren Dienst zu einem intensiven Vierwochenkurs ein, der Rekreationscharakter habe.

Tabuisierte kranke Seelsorger

Einer, der immer wieder mit dem Problem "verwundete Helfer" in der Kirche zu tun hat, ist der aargauische Regionaldekan Rudolf Rieder. "Die Aufforderung erfolgt seit geraumer Zeit aus den Dekanaten, dass sich die Kirchenleitung für die Seelsorge an Seelsorgern verstärkt einsetzen soll", sagt Rieder. "Unter kirchlichen Mitarbeitern wird mittlerweile erkannt, dass man betroffene Seelsorger nicht einfach als pathologische Fälle von sich schieben kann. Es wird allen bewusst, dass es jeden treffen kann", fügt Rieder hinzu. Und: In der Kirchenleitung mache er diesbezüglich einen Bewusstseinswandel aus.

In seinem Bemühen, Angebote zu diesem Thema zu gestalten, hat Rieder allerdings auch ernüchternde Erfahrungen machen müssen. Sein Angebot "Sonntagabend in Wislikofen", gestaltet mit literarisch-musikalischer Umrahmung und Spaziergängen, ist nicht angenommen worden.

Das ist kein Einzelfall. Denn seelisch kranke Priester oder kirchliche Mitarbeiter sind in der Kirche vielerorts noch ein Tabu. Nachfragen machen deutlich: Der Arbeitgeber Kirche scheut sich oft, sich mit Betroffenen auseinanderzusetzen. Auch unter Priestern selbst wird vielfach beschönigt oder verschwiegen. "Gerade in der Generation, in der Seelsorger vorwiegend noch Priester sind, ist man vorsichtiger und lässt diese Dinge weniger an sich heran", sagt Rieder.

Die idealisierten Gottesmänner

Die Ursachen für das Leiden betroffener Seelsorger sind vielschichtig und liegen nicht allein an der Überbelastung, die durch den Priestermangel bedingt ist – auch wenn dies ein gewichtiger Faktor ist. Marie-Theres Beeler, Theologin und Supervisorin in Liestal BL, gehört zu jenen Personen, die eine Anlaufstelle für betroffene Seelsorger betreuen.

Bei ihren Befragungen wird ihr häufig auch die Idealisierung des kirchlichen Berufes als Ursache einer Krise genannt. Viele Priester leiden unter dem Erwartungsdruck der Gemeinde, dem Druck der Hierarchie und erleben, wie viele Erwartungen auf ihre Person projiziert werden.

Marie-Theres Beeler hat die typischen Schwierigkeiten eines katholischen Priesters so zusammengefasst: "Sie glauben, vollkommen sein zu müssen, können nicht Nein sagen, neigen zur Übererfüllung der an sie gerichteten Erwartungen. ‘Gott liebt dich in deiner Unvollkommenheit’, predigen sie zwar gern vor ihrer Gemeinde. Sich selber gestehen sie das jedoch nicht zu."

Allerdings: die gesellschaftlichen Erwartungen dessen, was ein Gemeindeleiter alles können muss, wachsen dauernd. Den einen kann der Pfarrer nicht modern genug, den andern nicht konservativ genug sein.

"Priester im Modernisierungstress" heisst eine Untersuchung des Wiener Pastoraltheologen Paul M. Zulehner, die diese Beobachtung stützt. Die Studie lässt zudem erkennen, dass Priester in besonderer Weise den gesellschaftlichen Bedeutungsverlust spüren, der die Kirche insgesamt trifft. Sie sind laut Zulehner nicht nur durch ihr Amt, sondern auch durch die "Institution Kirche" in weit geringerem Masse getragen, als dies noch vor Jahrzehnten der Fall war. Die Folge ist nicht selten Tabletten- oder Alkoholabhängigkeit.

"Pflichtzölibat fördert Suchtverhalten"

Solche und ähnliche Probleme hört der Ostschweizer Guido Tudli immer wieder, wenn Besucher das Gespräch mit ihm suchen. Tudli gehört zu einem vierköpfigen Beratungsteam, das vor einem Jahr in der Diözese St. Gallen auf Wunsch des Priesterrates als Anlaufstelle für in seelische Schwierigkeiten geratene Priester und Ordensleute eingerichtet worden ist.

Guido Tudli ist in einer Sondersituation. Der heute verheiratete Psychotherapeut war nämlich lange Jahr selber Priester. So findet er den Zugang zu seinen Gesprächspartnern rasch. Er ist aber nicht der einzige ehemalige Priester, der sich therapeutisch um das ramponierte Innenleben des Seelsorgepersonals kümmert. Er kennt einige, die aus eigener Erfahrung heraus heute "Seelsorge an Seelsorgern" betreiben.

Die Menschen, die zu ihm kommen, sind meist alkoholabhängig. Auch wenn der Pflichtzölibat nicht die alleinige Ursache für die seelischen Probleme seiner Patienten darstelle, so fördere er doch massives Suchverhalten. "Mancher betäubt seine Defizite mit Alkohol", beobachtet Tudli. Ihm begegnen kirchliche Mitarbeiter, die sich ihre Homosexualität nicht eingestehen können. Oder Priester, die zwischen Gelübde und Beziehung hin- und hergerissen sind und daran zu zerbrechen drohen.

Zeit ist reif für viele Vorhaben

Burnout-Syndrom, Sinnleere, Suchtprobleme: Das Bewusstsein für die Folgen, die der oft aufreibende Alltag für Seelsorger haben kann, scheint mittlerweile auch bei den meisten Bischöfen vorhanden zu sein. "Ich glaube, in den Kirchenleitungen hat man erkannt, dass die Bedürfnisse betroffener Seelsorger auch Mittel und Stellen braucht", sagt Rudolf Rieder.

Der Blick für diese Problematik sei geschärft, das habe jedoch wenig mit den aktuellen Skandalen um pädophile Priester zu tun. Rieder: "Die Skandale haben den Wunsch zusätzlich verstärkt, lange geplante Vorhaben in Angriff zu nehmen. Die Zeit dafür ist jetzt reif."

Datum: 26.04.2002
Autor: Vera Rüttimann
Quelle: Kipa

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