Charismatischer Lebensstil

Gaben- und gemeinschaftsorientiert leben

Mensch sein kann man nur in Beziehung zu anderen. So gesehen finden die Menschen ihre Würde da, wo sie ihre Selbstbestimmung aus Liebe zugunsten anderer aufgeben.
Sie sollten sich immer wieder ganz nüchtern fragen: Welche Gaben und Begabungen habe ich von Gott erhalten, und wie setze ich sie zum Nutzen aller ein?

Die Geistdurchdringung führt zu farbigen, einmaligen Persönlichkeiten, die mit ihrem ganz speziellen Begabungsspektrum zum Dienst an der Gemeinde und der Welt gerufen sind. So verstehen sich Gaben immer auch als Aufgaben.

Die theologischen Leitlinien der VBG geben Hinweise auf das Einüben von sechs spirituellen Traditionen. Unter der "charismatischen Tradition" steht: "In den jüngeren charismatischen Aufbrüchen wurden die Gaben des Geistes (Charismen) wieder ganz neu entdeckt. Gottes Geist durchdringt natürliche Begabungsstrukturen und weckt auch neue Gaben.

Gemeinschaftsorientiert leben

Gabengemässes Leben führt einerseits zur Entlastung, weil Begabte auch um ihre Grenzen wissen. Andererseits wissen sich die Begabten in der gegenseitigen Ergänzung aufeinander angewiesen." Wenn man der Werbung glaubt, sind heute Menschen, die mit grossem Stolz von den Plakaten herab verkünden "Ich entscheide allein", die gefragten Typen. "Stark sein", "Unabhängigkeit", "das Beste für sich alleine suchen" usw. sind die Schlagworte unserer Zeit. Der herrschende Individualismus kennt wenig grosse, gemeinsame Ziele. Die Lebensziele werden im kleinen, persönlichen Lebensraum (Wohlstand, individuelle Freiheit) gesucht. Seit der Aufklärung steht die Selbstbestimmung des Menschen im Mittelpunkt seiner Erkenntnis- und Urteilsbildung. Jede Fremdbestimmung wird verworfen. Die Abhängigkeit von anderen scheint unvereinbar mit der Würde des Menschen. Die biblische Sicht unterscheidet sich aber wesentlich davon. Sie kennt keine wirkliche Menschlichkeit ohne Beziehung. Die gegenseitige Abhängigkeit ist für wirkliche Menschlichkeit unabdingbar. Die Gottesebenbildlichkeit des Menschen drückt sich in den gegenseitigen Beziehungen aus. Mensch sein kann man nur in Beziehung zu anderen. So gesehen finden die Menschen ihre Würde da, wo sie ihre Selbstbestimmung aus Liebe zugunsten anderer aufgeben, und sie verlieren ihre Würde da, wo sie ihre "Gleichberechtigung" in den Mittelpunkt stellen.

Gegenseitige Achtung und Ergänzung

Gottes Ziel mit seiner Gemeinde ist, dass sich reife und farbige Persönlichkeiten mit einer individuellen Gabenstruktur in Liebe ergänzen. Besonders klar drückt dies Paulus mit dem Bild vom "Leib" aus. Nicht der Stärkere soll herrschen, sondern "einer achte den anderen höher als sich selbst". Gottes Gemeinde sollte ein Ort sein, wo nicht dem Begabteren alle Achtung zukommt und der weniger Begabte zu kurz kommt, sondern wo alle geschätzt werden, weil man die prinzipielle Ergänzungsbedürftigkeit kennt. Wie sich in einem Kunstwerk die Persönlichkeit des Künstlers ausdrückt, so widerspiegelt sich in der innersten Struktur aller geschaffenen Dinge die Persönlichkeit Gottes. In allem Geschaffenen liegt eine Vielfalt in der Einheit. Jedes Wesen hat seine eigene Art, es ist sich selbst und nicht irgendein anderes, aber zur gleichen Zeit gibt es Abermillionen gleicher Wesen. Das ist der Stempel der Dreifaltigkeit eines Gottes, der drei und eins ist, unendliche Vielfalt in der unendlichen Gleichheit. Genau so wie Gott, der sie schuf, sind alle Wesen zugleich einzigartig und Teil einer Vielfalt. Die Gemeinde ist ein Übungsplatz, wo wir die von Gott gegebene Einheit trotz aller Vielfalt einüben, und wo wir unsere Vielfalt entwickeln, ohne in einen beziehungsarmen Individualismus abzugleiten. Wie könnte das gehen? Echte Charismatiker wissen um ihre Begabungen und damit um den ihnen zugedachten Auftrag. Sie wissen aber auch um ihre Ergänzungsbedürftigkeit, denn nicht jeder kann alles. Wer sich daher Charismatiker nennt - und das sollten alle Christusgläubigen, denn in allen wohnt der Heilige Geist -, sollte sich immer wieder ganz nüchtern fragen: Welche Gaben und Begabungen habe ich von Gott erhalten, und wie setze ich sie zum Nutzen aller ein? Was ist meine Einmaligkeit, und wie kann sie dem Ganzen dienen?

Die inneren Antreiber

Die postmoderne Welt leidet "an der Zersplitterung der Schauplätze unseres Alltagslebens, an der Fluktuation der Sozialkontakte, an der kognitiven Überforderung durch Informationen, an der Unübersichtlichkeit der ganz verschiedenen Möglichkeitsräume", kurz am "Bigger, better, faster, more" unserer hektischen Zeit (Schulze: "Erlebnisgesellschaft"). Die Kultur der freien Wahl lässt uns ungleich mehr Wahlmöglichkeiten als den Vorfahren, erzeugt aber auch ein unaufhörliches Anschwellen von Anforderungen. Es regiert das Gesetz des Mehr. Ich muss mehr Engagement in meinem Beruf zeigen, mehr für meine Kinder, Freunde, die Karriere, Bildung, den Körper, meine Weiterbildung und für meine spirituelle Entwicklung tun. Dieses "Immer-Mehr" hat ein weit verbreitetes Lebensgefühl erzeugt: existentiellen Stress.

Die Befreiung vom Geist der Knechtschaft

Immer wieder erlebe ich, dass Freunde, die zu einer Gebetsgruppe oder einem Gottesdienstteam gehören, sich kurzfristig abmelden - meist mit der Begründung: Ich bin im Stress. Ich kann ihnen nachfühlen. Da ich so etwas wie ein freiberuflich Tätiger bin, sind es vor allem innere Antreiber, die mich stressen: Sei perfekt, zeige keine Blösse (bigger, better). Gott, der Heilige Geist, will uns von diesem Geist der Knechtschaft befreien und uns den Geist der Kindschaft geben, der mich anders bewegt als meine inneren Antreiber (vgl. Römer 8,14.15). Dieser Geist sagt mir nicht: "Wenn du nicht noch mehr betest, dann..."(more). Seine Stimme flüstert mir eher zu: "Was trägst du deine Lasten selber. Gehe doch zu Jesus, sein Joch ist sanft."
Wie werde ich diese Antreiber los? Ich vermute, indem ich mich hinsetze und auf die Stimme des Geistes höre, der mir ins Herz hinein sagt, dass ich Kind und nicht Sklave bin. Eine Viertelstunde täglich, meinte Balthasar Staehelin, der 40 Jahre lang die psychosomatische Sprechstunde an der Universitätsklinik in Zürich leitete. Eine Viertelstunde täglich still sein vor Gott und hören, als "Basistherapie", um dem Raum zu geben, der in mir neues Urvertrauen wachsen lässt. Um dem Raum zu geben, der mir zuflüstert, dass ich Kind und nicht Knecht bin.

Die äusseren Antreiber

Neben den inneren Stressoren und Antreibern gibt es auch die äusseren. Doch vermutlich täuschen wir uns da oft selber. Was mich stresst, ist nicht die grosse Leistung, die ich erbringen muss. Wir alle erleben doch, wie tief befriedigend es ist, wenn wir etwas leisten können; wenn wir mal bis an die Grenzen gegangen sind und eine Arbeit mit viel Kaffee im Kopf um 4 Uhr morgens fertig getippt haben. Was uns stresst, ist nicht die grosse Aufgabe, sondern die Tatsache, dass nach der erledigten Arbeit der Berg des Unerledigten schon wieder angestiegen ist, sich die Zahl der noch zu lesenden Artikel und Bücher vermehrt und die noch zu führenden Gespräche trotz vollem Einsatz zugenommen haben. Es frustriert uns, wenn wir nie ankommen, nie genug getan haben, wenn wir von allen Marschbefehle erhalten. Wie war es bei Jesus? Wie konnte er ohne schlechtes Gewissen vom Teich weggehen, obwohl er nur einen der vielen Kranken geheilt hatte? Das Geheimnis liegt wohl in seiner Aussage, dass er das tue, was ihn der Vater zu tun heisst. Ich erlebe dann Befriedigung, wenn ich das tue, was mich Gott durch seinen Geist zu tun heisst. Das befreit mich vom Druck, den das Unerledigte auf mich ausübt. Und dann darf ich auch das liegen lassen, was nicht mein Auftrag ist, und wenn es noch so laut daherkommt. Zentrale Übung für Charismatiker ist daher auch hier das Hören auf die Stimme Gottes. "Sei stille dem Herrn!" Zur Viertelstunde täglich kommen im Idealfall eine Stunde pro Woche, ein Tag pro Monat und eine Woche pro Jahr.

Die andere Stimme

Dieses Hören-Lernen wird mich befähigen, die feinen Einflüsterungen des Geistes im Alltag wahrzunehmen und auf sie zu reagieren. Wer so aus der Gegenwart des Geistes lebt, wird vermutlich nicht sorgenfreier und beschwingter leben. Wer sich auf seine Stimme einlässt, wird erfahren, dass sie unsere Ich-Zentriertheit bricht und uns die Nöte und Fragen der Mitmenschen, der Gesellschaft und der Kreatur ans Herz legt. Das bedeutet, dass ich neue, andere "Sorgen" erhalte. Wer sich so auf die Anliegen Gottes einlässt, wird Gottes Gegenwart erfahren. Das bedeutet nicht ein Leben ohne Schmerzen, aber ein Leben, das immer wieder Gottes unmittelbare Gegenwart wahrnimmt. Und das wird uns erfüllen, mehr als alles andere.

Datum: 23.05.2003
Autor: Felix Ruther
Quelle: Bausteine/VBG

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