Edouard Braun

„Ich ging jahrelang ohne Gott durch die Welt“

Sein Weg hat ihn an die Spitze der Schweizer Heilsarmee geführt: Edouard Braun hat 2004-07 als Kommissär gewirkt. Im Gespräch blickt er zurück auf prägende Erfahrungen und auf eine 40-jährige Tätigkeit: Menschen fanden zu Jesus Christus und brachen auf. Die Heilsarmee hat sich stark gewandelt. Edouard Braun erzählt:
Schwere Zeiten – und Wunder: Edouard Braun.
Die Hochzeit von Edouard Braun und Françoise Volet, 1966.
Fröhlich auch bei Regen: Camp an der französischen Atlantikküste.
Die Heilsarmee ist für Behinderte da.
Christus in der Öffentlichkeit bezeugen: Strassentheater.
Zwölf Mal umgezogen: Françoise Braun-Volet.
Mitarbeitende verstehen: Edouard Braun bei einem Treffen in Zürich.
125-Jahr-Jubiläum auf dem Bundesplatz, Mai 2007: Kommissär Braun im Gespräch mit dem Berner Stadtpräsidenten Tschäppät.

Nach der Konfirmation hängte ich meinen Glauben an den Nagel und ging jahrelang ohne Gott durch die Welt. Mein Vater war Kommunist und beeinflusste mich. Ich war in Bottmingen und Basel aufgewachsen. Als Möbelschreiner wollte ich die Meisterprüfung ablegen und einen Betrieb eröffnen.

Wie ein Kreisel…

Doch mit 21 hat Gott mich getroffen – unvermittelt. Ein Kollege in der Pension in Vevey, in der ich meine Mahlzeiten einnahm, hatte mir vom Glauben erzählt. Ich war an dem Tag allein und fragte mich, was mein Leben sollte, wohin meine Aktivitäten führten. Vor meinem inneren Auge stand ein Kreisel, der sich dreht – aber irgendwann ist die Energie erschöpft und er fällt um. Darin redete Gott mich an; an dem Abend bekehrte mich zu ihm. Dabei vernahm ich gleich den Ruf, nicht mehr für mich zu leben, sondern für ihn und die Mitmenschen.

Mit Clochards unter einem Dach

Ich sah keine Möglichkeit, Pfarrer zu werden; darum entschied ich mich für die Heilsarmee. Meine Eltern waren darüber nicht glücklich. Während 10 Monaten lebte ich in England mit 360 Clochards in einem Männerheim. Zurück in der Schweiz, verlobte ich mich und heiratete. Ab 1966 besuchten wir die Offiziersschule.

Häufig umgezogen

Nicht einfach war der mehrfache Wechsel zwischen Deutschschweiz und Romandie. Meine Frau ist französischer Muttersprache. Wir zogen insgesamt zwölf Mal um und lernten unterschiedliche Mentalitäten kennen. Als Landesleiter habe ich später davon profitiert. Der Bieler ist offener als der Neuenburger, der sich eher distanziert gibt. Die Vorbehalte, die ich als Basler bei der Versetzung nach Zürich empfand, lösten sich auf: Wir hatten sehr guten Zugang zu den Menschen. Orbe im Norden des Waadtlandes war ein harter Boden. Wir mussten in den ersten Monaten einiges einstecken. Danach änderte sich dies grundlegend – wir gewannen die besten Mitarbeiter überhaupt. Als Divisionsleiter in Neuenburg empfand ich das Gebiet als grosses Dorf; dasselbe Amt war in Zürich ganz anders auszufüllen.

Schwere Zeiten, Gebet und Wunder

Wir wurden als Familie recht geprüft. Unser Sohn war nicht gesund. Monate nach der Geburt anerkannte ihn die IV als invalid. Doch mit fünf Jahren wurde er gesund! Es war ein Wunder. Meine Frau erkrankte bald nach der Geburt an Multipler Sklerose und musste betreut werden. Auch sie erlebte Jahre später eine Heilung – bis heute kann sie arbeiten. Die Abwesenheit meiner Frau brachte mich dazu, Menschen in der Gemeinde vermehrt einzubeziehen. Wir bildeten Teams, was sich durchwegs bewährte. Wichtig war uns das Gebet: Morgens um sechs Uhr waren meine Frau und ich bereit, und verschiedene Gemeindeglieder kamen zu uns und beteten mit uns für die Arbeit. Wir waren nie allein. Nach dem Gebet frühstückten wir. Dies hielten wir viele Jahre durch.

Wenn wir dienen, stehen wir quer zur Gesellschaft. Ich hatte als Jugendlicher in Clubs mitgemacht und wurde, als ich mich Christus zuwandte, schief angesehen. Aber Dienen bringt auch Anerkennung.

Feiern mit Menschen von der Strasse

Von Zürich wurden wir nach Paris gesandt. Eine andere Welt. Wir lernten die Not der Clochards kennen. Ihnen fehlt viel zum Wohlbefinden – aber einige haben das Leben mit Christus entdeckt. Wir arbeiteten im fünften Stock des Hauptquartiers, um uns etwa 400 Clochards! Täglich ergaben sich Gespräche. Wenn sie unsere Anteilnahme spürten, öffneten sie sich. Am Mittwoch hielten wir Gottesdienst für sie; zu uns gesellten sich auch Männer und Frauen, die auf der Strasse lagen. 80 Personen waren manchmal da, hörten zu, öffneten sich – ein einmaliges Erlebnis für uns. Wir luden sie zu einer Entscheidung für Jesus ein. Sie konnten nach vorn kommen, sich auf einen Stuhl setzen. Sehr schnell waren sie bereit, sich Jesus anzuvertrauen. Aber es brauchte immer wieder Gespräche, um sie im Glauben weiterzubringen. Dutzende Clochards wurden meine Freunde.

Dranbleiben, wenn nichts ändert?

In der kalten Jahreszeit begannen wir abends eine Suppe und Lebensmittel abzugeben. Manchmal kamen über 400 Personen. In der Zwischenzeit ist dieser Dienst noch ausgeweitet worden. In Paris betreut die Heilarmee mehrere tausend Clochards, darunter wohl ein Drittel Frauen. Es gibt schwere Fälle, bei denen man nicht weiterkommt. Da ist Dienen nicht einfach. Wer nicht betreut werden will, den muss man seinen Weg gehen lassen. Andere kommen vorübergehend, um Geld oder Essen zu erhalten. Ab und zu vertraut sich jemand uns an, und dann können Schritte zu einer Heilung oder Verbesserung der Lebensumstände gegangen werden.

Die Heilsarmee geht mit der Zeit

In den letzten Jahrzehnten bilden sich die Heilsarmeeoffiziere als Seelsorgerinnen und Berater weiter. Wir sind heute offen für Projekte, die unsere Mitarbeiter vorschlagen. Ein kleiner Teil der Offiziere arbeitet während einiger Jahre im Ausland. Jemand aus den USA beginnt in Zürich. Mein Nachfolger, Kommissär Kurt Burger, kommt auch aus den USA. Einige Inder kommen für ein Ausbildungsjahr nach Europa. Ein Schweizer Salutist geht mit seiner kongolesischen Frau wieder nach Kinshasa. Momentan haben wir nicht zu viele Offiziere. Da und dort haben Salutisten Aufgaben von Offizieren übernommen.

Beten und die Augen offen halten

Ich bete besonders für Politiker, dass sie die richtigen Entscheide treffen. Das ist für mich ein grosses Anliegen. Weiter betone ich, dass der Mitmensch, dem wir uns zuzuwenden haben, nicht ein Schweizer ist, sondern der, der neben mir wohnt. Da wo ich wohne und arbeite, möchte ich Mitmenschen die Liebe von Jesus weitergeben, ob sie Schweizer oder Zugewanderte sind. Manche Christen können nicht predigen, aber durch ihr Leben haben sie eine Ausstrahlung und es kommt zu Gesprächen. Oft habe ich jenen, die in Gesprächen überfordert waren, Hilfe angeboten. Und so erlebte ich oft, dass Menschen zu Jesus geführt werden konnten.

Als Leiter an der Basis

Es war mir wichtig, als Leiter der Heilsarmee den Bodenkontakt nicht zu verlieren. Aus diesem Grund haben wir fast jeden Sonntag eine Gemeinde besucht und nach dem Gottesdienst mit den Leuten gesprochen. Früher war das Hauptquartier fern von den Gemeinden. Heute ist der Leiter kein grosses Tier mehr. Vor 40 Jahren war die Heilsarmee hierarchisch gegliedert, heute sind wir eine Gemeinschaft (1400 Angestellte und Offiziere in der Schweiz). Wir brauchen Vorschriften, schon fürs Finanzielle. Organisatorisch muss es stimmen, doch kommt es auf die evangelistische Kraft an – und zwar bis zum letzten Mitarbeiter. Die finanzielle Lage hat sich durch zwei Millionenlegate stark aufgehellt.

Entlastet

Nach Vorgaben, wie sie für Nonprofit-Organisationen gelten, führte die Heilsarmee in der Schweiz 2005 eine neue Leitungsstruktur ein: eine siebenköpfige Direktion als Exekutive und ein sechsköpfiger Strategierat, der monatlich zusammentritt und die grossen Linien bestimmt. Ihm gehören Nicht-Salutisten und zwei Vertreter des internationalen Hauptquartiers in London an. Der Kommissär leitet den Strategierat; der Direktion gehört er nur als Beobachter an, hat aber das Vetorecht. Ich habe dies nicht in Anspruch genommen in den zwei Jahren. Diese Leitungsstruktur, bisher allein in der Schweiz verwirklicht, entlastet den Chef vom Alltagsgeschäft. London beobachtet genau, wie sie sich bewährt. Die Heilsarmee hat sich in den letzten Jahrzehnten sehr verändert – für mich im positiven Sinn.

Früher sagte man: Herr Oberst, und: Herr Kommissär. Ich schlug schon in der ersten Gemeinde, die ich betreute, nach einigen Monaten vor, zum Du überzugehen. Ich zielte nie darauf ab, Chef zu werden, sondern wollte Menschen dienen. Wenn ich meine Stelle im Hauptquartier verlasse, werde ich einen Offizier vertreten, indem ich Besuche bei den Ruhestands-Offizieren in der Nordwestschweiz mache.

Datum: 25.02.2008
Autor: Peter Schmid
Quelle: Jesus.ch

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