Bruce L. McCormack

"Die Schweizer Reformierten haben keine gemeinsame Sprache mehr"

Die Bibel verstehen und sich in einer Sprache des Glaubens verständigen können: darum geht es in der Kirche. Der Theologe Karl Barth, der vor 40 Jahren starb, hat dazu wesentliche Impulse gegeben, sagt der US-Theologe Bruce L. McCormack. Der Professor am renommierten Princeton Theological Seminary hielt am 15. Dezember in Aarau einen Vortrag zur Aktualität Barths.
Die Reformatoren (links Calvin) brachten die Bibel neu zum Sprechen und schufen Bekenntnisse, Pfeiler der Identität der protestantischen Kirchen.
Karl Barth
Titelblatt einer englischen Bibel, in der Mitte des 16. Jahrhunderts von Christoffel Froschauer in Zürich gedruckt.
Schule des Protestantismus in Südosteuropa: die Universität von Cluj in Siebenbürgen, von den ungarischen Reformierten gegründet.
Die Kirche von Sornetan im Berner Jura.
Im Mittelalter erzählten die Kirchenportale die Geschichte des Glaubens: Das Nordportal der Kathedrale von Chartres.
Bruce L. McCormack

McCormack versteht sich als Brückenbauer zwischen Evangelicals und traditionsbewussten Reformierten - und äussert sich als Aussenstehender pointiert zur Bekenntnisfreiheit der Schweizer Kirchen (McCormacks Vortrag als PDF) . Livenet hat sich mit ihm unterhalten.

Livenet: Karl Barth galt als der bedeutendste protestantische Theologe des 20. Jahrhunderts. Was bleibt von ihm 40 Jahre nach seinem Tod?
Bruce L. McCormack: Für theologisch Interessierte bieten seine Gedanken weiterhin wesentliche Anstösse. Barths Stern scheint heute in den USA so hell wie nie zuvor. Er war imstande, die grossen christlichen Lehren neu zu formulieren und so darzustellen, dass Katholiken und Protestanten sie gemeinsam begreifen und diskutieren können. Der Vatikan hat kürzlich Barth als ökumenischen Theologen gewürdigt, der auch der katholischen Kirche geholfen habe, sich ihr spirituelles Erbe neu anzueignen. Er ist ein klassischer Theologe in dem Sinn, dass sein Ringen mit den zentralen Fragen christlicher Theologie Denker in allen Kirchen anregt und herausfordert.

Ein Theologe für Theologen?
Was er theologisch gearbeitet hat, fliesst in andere Bereiche des kirchlichen Lebens ein, davon bin ich überzeugt. Aber es ist für Christen schwer, die Sprache der Theologie zu verstehen, wenn sie darin nicht unterrichtet worden sind. Die Sprache Barths ist nicht bloss die Sprache der Kirchen vergangener Zeiten, sondern auch vieler Kirchen heute. Die Schweizer Kirchengeschichte zeigt exemplarisch, wie es geschehen kann, dass diese Sprache dunkel und gar eine Geheimsprache wird.

Im 19. Jahrhundert haben die Kirchen in den Kantonen eine nach der anderen ihr Glaubensbekenntnis aufgegeben. Aus diesem Grund sind die Mitglieder dieser Kirchen seither nicht miteinander in die Sprache des Glaubens eingeführt (socialized) worden. Sie haben kein gemeinsames Vokabular mehr, um ihren eigenen Glauben zu erkunden und auszudrücken (was auch zu extrem divergierenden Meinungen beiträgt). Dieser Faktor allein macht es sehr schwer, Karl Barth zu verstehen.

Ist die Schweiz ein Sonderfall?
Darauf kann ich nur bruchstückhaft antworten, da ich nicht alle reformierten Kirchen kenne. Fakt ist: Viele dieser Kirchen im Westen haben ein Bekenntnis oder mehrere. Die Presbyterianerkirche der USA, der ich angehöre, hat neben ihrer Kirchenordnung ein "Buch der Bekenntnisse" mit dem Apostolicum, dem Nicänum, dem Schottischen Bekenntnis, dem Zweiten Helvetischen Bekenntnis, dem Heidelberger Katechismus, der Westminster Confession, beiden Westminster Katechismen, der Barmer Erklärung, dem Bekenntnis von 1967 und einer "kurzen Darlegung des Glaubens", 1983 in Auftrag gegeben. Die neue Protestantische Kirche der Niederlande scheint unserem Vorbild zu folgen, indem sie insgesamt acht Bekenntnisse und Katechismen anerkennt. Die Reformierten in Ungarn halten sich an das Zweite Helvetische Bekenntnis und den Heidelberger Katechismus.

Was will ich damit sagen? Das Aufgeben einer Bekenntnisgrundlage für Verkündigung und Lehre mag sinnvoll gewesen sein zu einer Zeit, als Gesetzlichkeit die Freiheit der Kinder Gottes, ihren Glauben aufrichtig und integral auszudrücken, bedrohte. Aber Gesetzlichkeit ist heute nicht mehr unser Hauptproblem; ein Chaos in der Lehre (doctrinal chaos) stellt öfter das grösste Hindernis für den Glauben dar.

Vor Bekenntnissen müssen wir doch keine Angst haben! Werden sie richtig verwendet, dienen sie als "erster Kommentar" (Karl Barth) zur Bibel, als kirchlicher Guide, der uns ins Verstehen ihrer Botschaft einweist. Zudem geben uns Bekenntnisse eine gemeinsame Sprache, so dass wir miteinander gehaltvoll kommunizieren können. Ohne gemeinsame Sprache ist es sehr schwer, eine wirkliche Gemeinschaft zu bilden.

Sie haben in Ihrem Vortrag in Aarau dargelegt, dass Barth seine Lehre von der Bibel aus der Christologie, der Lehre von Christus, ableitete. Wie meinen Sie das?
Jesus ist Gott und Mensch. Die Christologie spürt diesem Geheimnis nach. Die Reformierten haben Wert darauf gelegt, dass das Göttliche und das Menschliche, seine beiden Naturen, nach ihrer Verbindung in Jesus unvermischt bleiben. Deswegen konnte Calvin Luthers Abendmahlslehre nicht folgen. Luther glaubte an die reale Anwesenheit von Jesu Leib und Blut in Brot und Wein, weil er meinte, die göttlichen Eigenschaften der Allmacht und Allgegenwart würden in Jesus der menschlichen Natur mitgeteilt. Für Calvin war das eine unzulässige Vergöttlichung der menschlichen Natur. Mit Zwingli war er überzeugt, dass der Leib Jesu nach der Himmelfahrt im Himmel weilt und nicht im Abendmahl real gegenwärtig ist.

Diese Lehre bildet den Hintergrund für Barths Lehre vom göttlichen und menschlichen Element der Heiligen Schrift. Die Schrift hat sozusagen auch zwei Naturen. Indem das menschliche Wort an Gottes Reden teilhat, wird es Gottes Wort. So ist die Bibel für Karl Barth Gottes Wort nicht in dem Sinn, dass sie es schon immer ist, sondern sie wird es, indem er sein Wort je und je neu spricht im Raum der Kirche.

Wie hat Barth die Heilige Schrift geschützt gegenüber der subjektiven Auslegung durch Christen, die lesen, was sie lesen wollen?
Als ich als evangelikaler Christ Theologie zu studieren begann, verstand ich die Bibel als Gottes geschriebenes Wort und hielt ihre Autorität hoch. Von Barth lernte ich dann eine hilfreiche Unterscheidung: Das geschriebene Wort bezeugt Gottes Offenbarung, die ihm vorausgeht; die Heilige Schrift ist ihr ursprüngliches Zeugnis. Diese Unterscheidung macht klar, dass ich zur Offenbarung nur durch die Schrift Zugang habe. Wenn ich Offenbarung und Schrift in eins setze, kann ich mich über die Offenbarung setzen, kann sie mit meinen linguistischen Mitteln meistern und sozusagen in die Tasche stecken. Nach meiner Erfahrung erwächst daraus Subjektivismus: Manche konservative Christen in den USA nehmen, was sie am Morgen in der Bibel lesen, als Gottes Wort an sich an. Sie setzen eine bestimmte Auslegung der Bibel absolut, als hätte Gott sie ihnen unmittelbar geoffenbart.

Anders ist es, wenn Offenbarung sich dem Zugriff mit diesen Mitteln entzieht, wenn sie darüber steht. Dann kann ich die Schrift nicht in die Tasche stecken, nicht über sie verfügen; ich muss mich darunter stellen und mich dem Text in einer Haltung des Gebets und der demütigen Erwartung nähern. Nach meiner Überzeugung hilft uns Barth mit seiner Unterscheidung, Subjektivismus zu vermeiden. Wir müssen demütig hören und dabei hilft es uns wahrzunehmen, was die Kirche in ihren Bekenntnissen sagte und sagt. Die Bibel lesen ist eine geistliche Übung.

Unter den Schweizer Reformierten gibt es wohl wenige bibelgläubige Christen, die Gottes Offenbarung eigenmächtig auszulegen beanspruchen - eher Theologen, die sich zu eigenwilligen oder auch abgehobenen Auslegungen versteigen, so dass das Evangelium irrelevant wirkt.
Der subjektive Umgang mit der Bibel nimmt hier andere Formen an als im Bibelgürtel der USA; das mag sein. Es hat damit zu tun, dass die theologische Ausbildung der reformierten Pfarrer an Universitäten geschieht. Diesen Hochschulen kann man nicht vorschreiben, was die Dozenten lehren sollen. Ich hoffe, dass die Universitäten auch Dozenten fördern, welche die Tradition zur Sprache bringen und die Dogmatik in reformierter Perspektive entfalten.

Die hermeneutische Theologie, die heute verbreitet ist, fragt nicht wie Barth nach Offenbarung, sondern in welchen Horizonten Menschen Religion erleben und verstehen. Warum dieser Bruch?
Er ist nicht ganz leicht zu verstehen. Es kam zu einer Abwendung von den objektiven Elementen in unserem Glauben, von Gott und Christus. Dies geschah vor allem in den 1950er Jahren, unter dem Einfluss von Rudolf Bultmann, Ernst Fuchs und Gerhard Ebeling. Hermeneutik kann ein nützliches Instrument sein, kann aber auch in eine gefährliche Abwärtsspirale führen.

In den 1960er Jahren kam es zu einer gewaltigen Umwälzung. Das Interesse an politischer Theologie liess die älteren hermeneutischen Theologien abgehoben aussehen; sie galten als zu akademisch, um praktischen Nutzen zu erbringen. Auch in den USA wurden wir durch die Umwälzungen der 60er Jahre stark beeinflusst. Politische Theologie fand grossen Anklang. Doch daneben wurde weiter Dogmatik gelehrt.

Und heute ist dogmatische Theologie für unsere Arbeit auf akademischem Niveau wichtiger als je zuvor. Wir sind herausgefordert, Dogmatik so zu betreiben, dass sie mit den Bibelwissenschaften verknüpft und mit neuen philosophischen Strömungen im Gespräch ist. Weiter hat Dogmatik sich den Herausforderungen durch die Religionen der Welt und durch die Tagespolitik zu stellen. All dies bedeutet für uns auch, dass dogmatische Theologie akademische Theologie ist. Die beiden können nicht ohne Schaden für beide Seiten getrennt werden.

Links zum Thema:
Vortrag von Bruce McCormack: Karl Barth und die Bibel
Mehr zu den christlichen Bekenntnissen
Kirchenordnung und Bekenntnisse der US-Presbyterianer

Bruce L. McCormack erwarb 1989, nach Studien in Kansas City und Basel, in Princeton den Doktorgrad der Philosophie summa cum laude. Seit 1991 lehrt er Systematische Theologie am Princeton Theological Seminary im US-Bundesstaat New Jersey, seit 1998 als Inhaber des Weyerhaeuser-Lehrstuhls. Im selben Jahr würdigte die Evangelische Kirche der Union in Deutschland seine Verdienste um die Barth-Forschung im transatlantischen Dialog mit dem Karl Barth-Preis. 2004 verlieh ihm die Friedrich Schiller Universität in Jena einen Ehrendoktor. [Mehr]

Datum: 02.01.2009
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch

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