Weiterbildung

Theologie fürs Leben studieren

Theologische Ausbildungsstätten gehen heute anders auf die Studierenden ein; die Postmoderne lässt grüssen. Livenet.ch unterhielt sich mit den Leitern dreier Schweizer Schulen: Paul Kleiner, Rektor des Theologisch-Diakonischen Seminars TDS, Michael Girgis, Co-Rektor des Instituts für Gemeindebau und Weltmission IGW, und Heinz Strupler, Leiter der Gemeindegründer- und Pastorenschule ISTL.
Paul Kleiner, Michael Girgis, Heinz Strupler.
Miteinander unterwegs: die neue Klasse am TDS Aarau am Start, August 2008.
Lernen und Austausch zur Persönlichkeitsentwicklung: IGW-Konferenz, Frühjahr 2007.
Ticket to heaven: ISTL-Studenten hinterlassen Spuren beim Billettautomaten (Einsatz im Frühling 2008).
Vermeidet Überforderungen nicht, sondern begleitet sie: Heinz Strupler, seit Jahrzehnten als Ausbilder tätig, an der ISTL-Diplomfeier im September 2008.
Voll dabei: An der TDS-Eröffnungsfeier 2008.

Livenet.ch: Wie gehen Sie mit den Herausforderungen der Postmoderne um?
Michael Girgis, IGW:
Wir boten vor Jahren Wahlkurse zum Thema an. Doch wir merkten, dass wir tiefer gehen müssen. So kamen wir auf die missionale Theologie, die sich mit Postmoderne beschäftigt. Vorstand und Studienleiter haben sich seit zwei Jahren intensiv damit befasst. Ende März und Anfang April referiert Michael Frost an zwei IGW-Kongressen unter dem Thema „Die Zukunft gestalten“. Wie nehmen wir den Auftrag zu Mission und Evangelisation im 21. Jahrhundert wahr?

Was hat die Beschäftigung mit der Postmoderne ergeben?
MG: Wir machen sie zum Pflichtbestandteil des Studiums; es ist auf neue Berufsbilder auszurichten. Manche wollen vollzeitlich für eine Gemeinde arbeiten, aber das Profil des Pastors entspricht ihnen nicht. Für den Dienst im Reich Gottes gibt es die verschiedensten Formen: Pastor im klassischen Sinn, pastoraler Leiter in einem Hauskreis-Netzwerk, teilzeitliche Mitarbeit. Wir sehen eine faszinierende Vielfalt von Möglichkeiten, wie Reich Gottes gebaut wird.

Paul Kleiner, TDS: Was machen wir als Schule mit unseren postmodernen Studierenden? Das ist für uns die Herausforderung. Wir müssen die Postmoderne nicht thematisieren – wir haben sie schon; sie kommt zu uns. Sind wir mit den Studierenden unterwegs, merken wir, dass Wahrheitsfragen weniger wichtig sind als vor 15 Jahren. Entscheidend sind Beziehungsqualität und authentisches Leben. Sind Lehrkräfte Vorbilder? Wir merken, dass Studierende heute noch viel mehr darauf achten. Nicht was wir sagen zählt, sondern wie wir es sagen und miteinander und mit ihnen umgehen. Mich beschäftigt als Schulleiter, wie wir den postmodern Geprägten helfen, ihrer Generation das Evangelium zu vermitteln.

Heinz Strupler, ISTL: Die Glaubwürdigkeit der Vorbilder ist enorm wichtig; das möchte ich unterstreichen. Spreche ich als Lehrer von Evangelisation oder Gemeindebau, kommt es darauf an, ob ich es auch mache. Sonst habe ich ein Problem.

PK: Ein weiterer Aspekt: Unsere Studierenden sind postmodern; sie gehen ernsthaft zur Sache – und zugleich haben sie ein intensives Freizeitprogramm und sind in Gemeinden aktiv. Ich war in meiner Jugend gewiss engagiert, doch sie kommen mir vor, als hätten sie noch fünf oder acht Bildschirme mehr offen. Wie sie dies mit dem Studium zusammenbringen, wie wir ihnen zu einem eigenen, vertieften Glaubensleben helfen können, wie sie gegen den Strom der Multioptionsgesellschaft schwimmen können – das fordert uns sehr heraus. Vereinfachen und verwesentlichen ist die Aufgabe.

In einer Werbung fragt eine Frau: Wer werde ich während der nächsten 24 Stunden sein? Sind die Identitäten der Studierenden mehr im Fluss als früher?
HS: Ich nehme eine grössere Verunsicherung wahr. Man kann heute in mehr Richtungen gehen als vor Jahrzehnten, in der Bibelschule Walzenhausen. Da ging es um Mission; die Leute wussten, wohin sie gingen – und sie landeten auch da. Im ISTL versuchen wir die Unsicherheit mit einem wöchentlichen Mentoring aufzufangen. Da brechen Dinge auf, mit denen ich nicht gerechnet habe. Das geht manchmal tief, ist mühsam und ernüchternd. Wir haben nicht die lieben, braven, rundum geheiligten Studenten. Sie sind mir gerade darin sympathisch.

Legen auch IGW und TDS mehr Wert auf Begleitung, Seelsorge oder Mentoring?
PK: Seit den Neunzigerjahren tauschen sich die TDS-Studierenden regelmässig aus, in Gruppen oder als Klasse. Wir haben persönlichkeitsbildende Elemente. Der Klassenlehrer / die Klassenlehrerin kümmert sich um die Studierenden. – Positiv fällt auf, dass viele Studierenden einen starken Drive haben. Sie wollen etwas bewegen. Aber es kommen mehr Leute zu uns, auch über 30, die noch nicht genau wissen, was sie wollen. Sie werfen die Karten erneut in die Luft, um zu sehen, wohin die Reise geht.

MG: Die Frage, welche Kompetenzen die Studierenden für den beruflichen Erfolg benötigen, führte am IGW zur Fokussierung auf 3 Lernfelder: Theorie, Praxis und Persönlichkeitsentwicklung. Neben der schulischen Ausbildung haben Praxis und v.a. Praxisbegleitung mit neu entwickelten Kursmodulen zu Persönlichkeitsentwicklung und Jüngerschaft die Ausbildung erweitert und vertieft. Die neuen Module sollen persönliche Prozesse der Studierenden aufnehmen oder anstossen und ihnen helfen, selbst Erneuerung zu erleben.

Das Leben bleibt länger offen.
PK: Oder man kann es nach fünf Jahren neu öffnen, in eine andere Richtung. Manchmal frage ich mich, wie die Leute dies finanziell hinkriegen.

HS: Das Bild des Pastors ist für viele postmoderne Junge konfus – und nicht erstrebenswert. Manche schnuppern bei uns und sagen: Was ich zu Hause sehe, wünsche ich mir nicht. Ihnen erklären wir, dass es neben den herkömmlichen Berufsbildern neue pastorale Konstellationen gibt. Wir müssen neue Wege suchen.

Pastorale Teams? Spüren Sie den Wunsch nach einem flexibleren Miteinander von Pfarrer und Diakon, Pastor und Jugendarbeiterin?
HS: Neues in irgendeiner Form. Das ISTL als junge Schule zieht wohl solche Leute besonders an. Die herkömmlichen Berufsbilder sind nicht überholt. Wir können uns aber heute vom Neuen Testament her eine ganz andere Vielfalt vorstellen.

MG: Ich begrüsse, dass die Studierenden heute eher im Fluss sind, sich weniger festgelegt haben. Sie suchen das Echte, fragen sich: Wer bin ich? Nicht was die Andern von mir denken oder was von mir erwartet wird, soll entscheidend sein. Das macht es komplex; man entdeckt vielleicht unerwartete Dinge. Doch wer dann an sich arbeitet, gewinnt Tiefe. Das ist eine Chance unserer Zeit, dass man nicht mehr sagt: Die Leute wollen mich so, nun bin ich als Pastor so, während 40 Jahren, damit alle zufrieden sind – und innerlich stimmt es für mich nicht.

Der Arbeitsmarkt ist – das muss man sagen – noch nicht da. Ausgeschrieben werden Stellen wie früher. Es kann sein, dass ich jemand durchaus in einem vollzeitlichen Dienst im Reich Gottes sehe. Ich muss ihm aber helfen, eine passende Stelle zu finden.

Studieren mehr Christen, um später teilzeitlich zu arbeiten?
PK: Der Wille, vollzeitlich zu arbeiten, ist bei uns nicht Voraussetzung für die Aufnahme. Wir fragen nach dem Ziel und nehmen auch Studierende an, die sich darüber noch nicht im Klaren sind. Wir akzeptieren, dass Leute nach dem Abschluss in den Vor-Beruf zurückgehen oder sich anders weiterbilden.

Die Frage ist, wie man mit dem Abschluss leben kann und den Unterhalt verdienen kann. Die Frauen stellen heute die Hälfte der Studierenden. Sind Kinder unterwegs, steht Teilzeitarbeit im Vordergrund. Zunehmend streben Männer, um ein Burnout zu vermeiden und für Partnerin und Familie mehr Zeit zu haben, 80-Prozent-Stellen an.

MG: Das patchworkartige Arbeiten ist bei uns der Normalfall. Ausser mir arbeitet im IGW niemand vollzeitlich. Alle sind daneben als Pastoren oder in der Wirtschaft tätig. In Teilzeitprogrammen studieren manche, die in ihrem Beruf bleiben wollen. Sie wollen in ihrer Gemeinde Vollgas geben und beispielsweise den Jugendbereich aufbauen – aber dafür nicht ihre Lehrerstelle an den Nagel hängen. Es ist gut, dass im Reich Gottes die Arbeit auf mehr Schultern verteilt wird. Die Gemeinde gewinnt.

PK: Wir bieten ein Vollzeit- und ein Teilzeitstudium an. Jedes Jahr haben wir eine Handvoll Leute, die nur 20-30 Prozent arbeiten wollen.

HS: Am ISTL kann man nicht Tag und Nacht studieren und sich über Jahre auf die Inhalte konzentrieren. Zudem müssen die Studierenden das, was sie lernen, ständig auf den Alltag umlegen. Es muss sich in der Realität von Beruf, Familie und Gemeinde bewähren. Die Leute müssen auf verschiedenen Ebenen zugleich Probleme lösen. Die Konflikte, die auftreten, gehen sie besser jetzt als später an. Oberflächlichkeit ist ein Problem, ja. Ein rechter Prozentsatz der Studierenden ist überfordert – aber nicht bloss wegen der Schule. Früher versuchte ich Überforderungen abzubauen, heute begleite ich sie.

Wo sehen Sie für 2009 und die nächsten Jahre die grösste Herausforderung?
PK: Wir beten jedes Jahr, dass Gott uns die richtigen Studenten schickt.

MG: Unser Traum ist, dass die Kirchen in der Gesellschaft nochmals einen Unterschied machen und sie verändern. Als eine Schule neben vielen andern möchten wir dazu beitragen. Wir bilden Studierende aus, die aktiv in der Umgestaltung der Gesellschaft mitarbeiten wollen. Christen können viel bewirken, wenn sie fähig sind, Verantwortung zu übernehmen, aktuelle gesellschaftliche Fragen aufzunehmen und lebensförderliche Beziehungen zu pflegen. Allgemeine Binsenwahrheiten verbreiten genügt nicht.

HS: Innovative Kirchen sind interessiert, mit verschiedenen Ausbildungsstätten zusammenzuarbeiten. Wir wollen einen Beitrag leisten, indem wir auf erweckliches Arbeiten Wert legen und Gebet und Evangelisation schulen. Gemeinden brauchen Leiter, deren Herzen brennen für Menschen, die Jesus Christus noch nicht kennen.

Infos zu den drei Schulen

Das Theologisch-Diakonische Seminar TDS
Das Theologisch-Diakonische Seminar TDS in Aarau hat 122 Studierende, davon 87 in vier Studiengängen (vollzeitlich und berufsbegleitend, Katechetik, Theologie/Mission) und 35 im Master-Programm, das in Partnerschaft mit dem Theologischen Seminar Bienenberg angeboten wird.

In den Studiengängen sind 56 % Frauen, 55 % kommen aus Landeskirchen. Die meisten Absolventen arbeiten heute als sozialdiakonische/r Mitarbeiter/in, Jugendarbeiter/in, Jugendpfarrer/in, Mitarbeiter/in und Berater/in in sozialen und pädagogischen Institutionen sowie im Suchtbereich.


Datum: 09.02.2009
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch

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