City Reaching

Eine Vision für unsere Städte

Reinhold Scharnowski zeigt in diesem Artikel neue Trends und Bewegungen in der christlichen Szene auf und stellt visionäre aber auch provokative Modelle vor, wie Leiter und Gemeinden lernen können die "Stadt" als ihr gemeinsames Missionsgebiet zu sehen. Das "Transformation-Video" gibt hierzu eindrückliche Beispiele von sich verändernden Städten. Was kann Gott mit unseren Städten und Regionen anfangen? Was geschieht bereits, was könnte geschehen? Wo könnte man beginnen?
Eine Stadt erreichen, heisst zuerst für sie beten!
Die neue Generation von Christen schafft sich immer mehr eigene Formen.

Gottes Geschichte mit den Menschen beginnt in einem Garten und endet in einer Stadt: eine banale Erkenntnis, aber von geistlicher Brisanz. In den 12 grössten Städten der Welt leben heute 174 Mio. Menschen. 94% der Nordamerikaner, 80% von Russland, 74% von Südamerika und 73% von Europa leben heute in Städten. Seit dem Jahr 2000 ist die Welt zum ersten Mal in der Geschichte mehr städtisch als ländlich. Lange waren Städte ein Inbegriff des Fluches, der Sünde und der Laster. Christen – und damit ihre Gemeinden - zogen in die Vororte. Heute ändert sich das langsam.

Ein Land - Stadt für Stadt

Wie "gewinnt" oder "durchdringt" man ein ganzes Land? Indem man es in überschaubare Einheiten aufteilt. Tatsache ist: Nur wenige haben eine Vision, einen Auftrag für ein ganzes Land; Städte oder Regionen aber sind eine Grösse, mit der sich die meisten Christen und Gemeindeleiter identifizieren.

Es hat in den 90ern eine Reihe von Büchern und Initiativen zu diesem Thema gegeben. Autoren wie John Dawson, George Otis, Ted Haggard und Ed Silvoso haben die geistliche Bedeutung von Städten heraus gearbeitet. Jack Dennison hat mit dem City-Reaching-Konzept begonnen, die DAWN-Strategie auf Städte anzuwenden. Wichtig ist, dass man der Versuchung widersteht, ein Programm oder ein Modell, das in Argentinien oder sonstwo entwickelt wurde und "funktioniert hat", zu übernehmen. Wie überall geht es darum, nicht Modelle zu kopieren, sondern Prinzipien zu kapieren - und sie dann, geleitet vom Heiligen Geist, in grosser Originalität am eigenen Ort umzusetzen.

Einige persönliche Beobachtungen

Ich lebe in einer Region, wo ich wie in einem Mikrokosmos viele Tendenzen mitbekomme, die auch anderswo zu beobachten sind. Einige Stichworte:

- Übergemeindliches Denken nimmt zu. Für den normalen Christen an der Basis ist es in der Regel kein Problem mehr, Konferenzen, Schulungen oder andere Anlässe zu besuchen, die entweder von anderen Gemeinden oder regional abgehalten werden. Einheit ist keine Theorie oder Pastorensache mehr.
- Immer mehr Christen wenden sich von der denominationellen hin zur lokalen Orientierung. Vor allem für die Generation unter 40 ist es nicht mehr wichtig, welcher Denomination sie angehören. Die Stadt (bzw. die Region) wird immer mehr zum Ort, wo man - quer über die Gemeindegrenzen hinweg - seine Identität und sein Wirkungsfeld hat.
- Der charismatisch-nichtcharismatische Röstigraben wird immer bedeutungsloser (wenn er auch noch nicht abgeschafft ist)
- Es ist eine deutliche Institutionsmüdigkeit zu beobachten, gerade bei engagierten Mitarbeitern. Intuitiv merken viele, dass viele herkömmliche gemeindlichen Strukturen ungefähr den Wirkungsgrad einer Edison-Glühbirne aufweisen: sie gibt vielleicht 95% Wärme und 5% Licht ab; eigentlich wäre sie aber nicht da, den Raum zu heizen, sondern zu erhellen.
- Auf der anderen Seite (oder vielleicht gerade darum) beginnen immer mehr wache Christen, sich lokal (haus- oder quartierbezogen) für die Menschen um sie herum zu engagieren: in Quartiergruppen, Nachbarschaftsgebeten, Zell- und Hausgemeinden. Der Wunsch nach einer Entschlackung innergemeindlicher Veranstaltungen und mehr Zeit für die Welt um uns herum wird immer deutlicher.
- Die Forderung, "alle unter einem Dach" in einer klassischen Pastorengemeinde zu betreuen, wird zunehmend zum schier unmöglichen Spagat, der höchstens noch ganz grossen Gemeinden gelingt. Verschiedene Gemeinden erkennen, dass sie innerhalb des Gemeinde-Spektrums der Stadt verschiedene Gaben haben und stehen dazu, dass sie nicht allen alles sein können.
- Eine Neue Generation schafft sich immer mehr eigene Formen. Die klassische Jugendgruppe hat ausgedient; allenthalben entstehen gemeindeähnliche Strukturen für junge Menschen.

Diese Trends – z.T. schon seit Jahren zu beobachten - überkreuzen und verstärken sich gegenseitig und sind in ganz Europa zu beobachten. In immer mehr Städte

- Treffen sich Pastoren und Leiter, werden Freunde und übernehmen gemeinsam die geistliche Verantwortung für ihre Stadt oder Region
- Beten Christen gemeindeübergreifend und offensiv für ihre Stadt, um Segen, Heilung und Veränderung von Missstände
- Entwickelt sich demnach ein "lokales Leib-Christi-Bewusstsein", das sich zunehmend auch in gemeinsamen Treffen und Aktionen konkretisiert.

Eine Stadt erreichen, durchdringen und umgestalten fängt an, wenn die Christen in einer Stadt ernst machen mit der Tatsache, dass Gott nur einen Leib Christi in der Stadt sieht - und sie beginnen, als dieser Leib zu handeln und geistliche Verantwortung für diese Stadt zu übernehmen.

Wein und Schläuche oder: die Wechselwirkung von geistlicher und struktureller Erneuerung

Ich habe in den letzten Monaten in der Schweiz enorm viele Christen getroffen, die irgendwo zwischen den Strukturen stehen - suchend, verunsichert, manchmal verletzt, aber offen und wartend. Überdurschnittlich viele davon stehen übrigens im reiferen Lebensalter - so etwas wie eine geistliche Midlife-crisis lässt viele ernüchtert fragen: was hat mein jahrelanger Einsatz, was haben aber auch die vielen grossen Versprechen gebracht? Wir hoffen immer mehr auf "die Erweckung". Gebet, Fasten und Erweckungssehnsucht nehmen in unserem Land zu.

Neuer Wein wird allenthalben herbeigesehnt und prophetisch erwartet. Viele fragen sich aber: Ist es nicht Zeit, auch mal über neue Schläuche zu reden? Was wäre, wenn die "Erweckung" mehr mit Strukturen zusammenhinge, als wir es bisher realisiert haben? Was, wenn wir nicht nur "höher in den Himmel", sondern auch "mehr runter auf die Erde" müssten? Tatsache ist: Strukturen - die Art, wie sich ein Organismus organisiert - haben auf die Wirksamkeit der Gemeinde einen viel grösseren Einfluss als es viele "geistliche" Menschen gemeinhin erkennen (vgl. Christian Schwarz, Natürliche Gemeindeentwicklung). Natürlich sind strukturelle Veränderungen in der Regel schwierig. Arbeit an den Schläuchen "schlaucht". Aber ich bin überzeugt, dass mancher herbeigesehnte und -erbetete Erweckungsprozess dramatische Fortschritte machen würde, wenn man sich Fragen stellen würde wie

- wie können wir dem Leib Christi in unserer Stadt effektivere Strukturen geben?
- Was könnten wir zusammenlegen, wo Synergien schaffen, Geld und Zeit freisetzen?
- Wie kann die Gemeinde schlanker und damit fitter werden, der Welt zu dienen?
- Was können wir gemeinsam besser tun als jeder für sich allein?

Wie sieht es praktisch in unseren Ländern aus?

In der Schweiz und in Deutschland gibt es in einigen Städten aktive Pastoren- und Leiternetzwerke. Diese Treffen haben in der Regel folgende Schwerpunkte bzw. Ziele:

- Einheit
- Gebet
- Seelsorge aneinander
- Erneuerung und Erweckung
- Gelegentlich und begrenzt: gemeinsame Aktion

Das sind sehr ermutigende Zeichen und ein gewaltiger Fortschritt, wenn man nur 20 Jahre zurückschaut. Standardvorwürfe wie „die Christen bekämpfen sich ja untereinander“ oder „die nehmen sich ja gegenseitig die Schäflein weg“ gelten sicher nicht mehr wie früher. Man hat den Dialog gelernt; Leiter treten aus ihrer Isoliertheit heraus und werden Freunde. Das Gebet mit- und füreinander ist eine Basis, auf der man aufbauen kann. Überhaupt: der Gebetsgeist nimmt zu.

Natürlich geht’s nicht überall reibungslos ab: da, wo man sich aufeinander einlässt, gibt es neue Herausforderungen und Probleme. Folgende Schwachstellen von Stadtinitiativen sind mir in Gesprächen aufgefallen:

- Erweckung als Reizwort – jeder füllt den Begriff mit seinen Träumen, und wer kann denn schon dagegen sein?
- Verschiedene Vorstellungen – von „zusammen beten“ über „Gemeinschaft haben“ und „einander seelsorgerlich begegnen“ bis hin zu „Bonnke einladen“ und anderen Grossaktionen ist alles vertreten. Wer gibt da eine Richtung hinein?
- Extrabelastung für Prediger: wenn keine gemeinsame Strategie da ist, für die wir uns alle einsetzen, wird ein Treffen von Pastoren leicht als Zusatzbelastung und Extraaufwand empfunden
- Visionäre klinken sich aus: Leute, die wollen, dass etwas geschieht, sind mit manchem Prediger-treffen gelangweilt. „Immer wieder redet man über die selben Sachen, aber es kommt nichts dabei raus“ habe ich einige Male gehört.

Solche Spannungen sind einerseits normal. Sie können aber auch ein Anzeichen sein, dass einem Leitertreffen noch die klare, gemeinsame Vision Gottes für die Stadt fehlt. Ab und zu – auf einer Retraite etwa - blitzt etwas davon durch; aber in den Niederungen des Gemeindealltags gehen grosse Ziele gern wieder unter.

Paradigmawechsel nötig

Für eine solche „City-Vision“ braucht es einen Paradigmawechsel – ein Umdenken in die Zukunft hinein. Eine neue Zeit erfordert eine neue Art, wie wir unsere Gemeinden, unsere Städte und unseren Auftrag anschauen. Ich bin überzeugt, dass sich dieses Umdenken auf jeden Fall lohnt und möchte versuchen, es umrissartig in sieben Thesen zu beschreiben.

1. Vom friedlichen "Komm-zu-uns" zum offensiven Hingehen

Wir leben nicht mehr im relativen Frieden eines christlichen Zeitalters, sondern im Krieg. Es gibt auf Dauer keinen neutralen Zustand – unsere nachchristliche Gesellschaft wird sich schnell zur antichristlichen entwickeln. Andrew Wells schreibt: “Es ist zu spät, unsere westliche Gesellschaft als irgendwie ’von christlichen Standards abgefallen’ zu betrachten und sie durch Predigen und Überzeugen zurückzubringen zu versuchen. Wir müssen denken und handeln lernen wie Missionsgesellschaften, die sich seit Jahrhunderten mit nichtchristlichen Kulturen beschäftigen; sie haben Wege entwickelt, diese Kulturen zu verstehen, in sie einzudringen, sie zu erforschen und die Botschaft in ihre Sprache zu übersetzen“ Es ist frappierend, wie viele Gemeinden noch voll in einer „Komm-zu-uns-bei-uns-findest-du-Gott“ – Mentalität leben. Gott jedoch macht es uns deutlich:

- „Geht hin und macht zu Jüngern“, sagte Jesus;
- der Hirte „geht hin“, um das Verlorene zu suchen (und lässt 99 Schafe dafür allein!),
- die Frau stellt ihr ganzes Haus auf den Kopf, um eine Münze zu finden
- und der Sauerteig des Evangeliums wird in einem kraftvollen Akt in den Teig der Welt hinein geknetet
- „wie sollen sie hören, wenn niemand hingeht“ – und wie sollen sie sehen, wenn es nicht sichtbar gemacht wird?

Um die Stadt zu erreichen, müssen einzelne Gemeinden sich als „Geh-Strukturen“, als offensive Vorposten des Reiches Gottes sehen lernen und praktische Wege finden, das in ihrem Gemeindealltag auszudrücken. Wo das nicht ist, wird die nach innen gerichtete, erbauliche Mentalität auch dominieren, wenn sich 20 Pastoren einer Stadt zum Gebet treffen. Vergessen wir nicht: die Gemeinde ist der einzige Verein, der zum Wohl seiner Nichtmitglieder existiert! Stadtweite Prozesse müssen der Stadt dienen und nicht nur die Christen ein wenig besser organisieren.

2. Vom Gemeinde-Individualismus zur echten „Ortsgemeinde“

Die meisten Christen sind sich einig, dass die Gemeinde als lokale und als universale Gemeinde existiert. Die Lokalgemeinde besteht aus Gläubigen, die gemeinsam den Gottesdienst feiern, während die universale Gemeinde alle Gläubigen auf der ganzen Welt umfasst. Im NT aber sehen wir klar eine dritte Struktur, die im Moment weltweit wieder entdeckt wird: die Gemeinde in der Stadt. Der Neutestamentler Rex Koivisto erklärt: "im neuen Testament gibt es drei gundsätzliche Dimensionen von Kirche: die Gläubigen, die sich häufig als Hauskirchen treffen; die Gläubigen, die sich gelegentlich als Orts /Stadtgemeinde versammeln; und die ganze Gemeinschaft der Gläubigen, die sich nicht an einem Ort treffen können, von der aber jeder Gläubiger ein Teil ist."

Paulus grüsst in Röm. 16 mehrere Male "die Gemeinde in Häusern", schreibt den Brief aber "an die Christen in Rom". Ich bin überzeugt, dass Gott nur eine Gemeinde am Ort kennt, die sich in vielen Versammlungen und Gruppen trifft. Natürlich befand sich Paulus in der beneidenswerten Lage, dass es noch keine Denominationen und Konfessionen gab. Ich bin aber überzeugt, dass hinter dem Aus-druck "die Christen in Rom (Korinth, Houston, Zürich, Thun)" mehr als historische Zufälligkeit steht. Der Wohnort oder die Region ist eine gemeinsame Identifikationsgrösse der meisten Christen; es ist der Bereich, wo wir am ersten und am natürlichsten Zeugen sind. Hier suchen wir der Stadt Bestes. Persönliche Beziehungen geschehen selbst im Internet-Zeitalter in der Regel regional, im Rahmen des natürlichen Lebensraumes.

Der biblische Befund ist ziemlich eindeutig: die Ortsgemeinde ist die grösste strukturelle Grenze, die die Gemeinde im NT hatte. Das ist kein Zufall. Am Ort können Christen ein gemeinsames Bewusstsein entwickeln und auch gemeinsam handeln. Bereits in einer Provinz (einem Kanton) ist das viel schwieriger. Gerade in einer Zeit, in der sich neue Hauszellen, -gemeinden und Quartiergruppen entwickeln, ist die "Stadt-Schau" wichtig, damit die Gemeinde am Ort sich nicht atomisiert, sondern eine gemeinsame Leib-Christi-Identität entwickelt. Von dieser gemeinsamen Identität her bekommen die Kleingruppen einen lokalen Bezugsrahmen und eine öffentliche Identität: "wir gehören zur Regio-Gemeinde (Thun oder Oberemmental oder Basel...)"

Aber auch die herkömmlichen Kirchen und Freikirchen könnten von einer regionalen Dach-Identität ganz neue Bedeutung erhalten, nämlich eine gabenorientierte: Gemeinde A ist gut in Sozialarbeit, Gemeinde B hat eine hervorragende Bibelschule, während Gemeinde C ausgesprochen prophetisch ist. Wiederum haben sich eine Menge visionärer Jugendleiter in Gemeinde D angesammelt - warum muss jede Gemeinde ihr kleines Jugendgrüppchen am Leben erhalten? Wie, wenn die Stadt-Gemeinde gemeinsam die Gründung einer powermässigen Jugendchurch für die verlorene Generation anpacken würde - mit den besten Leitern der Stadt?

3. Vom falschen Entweder-Oder zur biblischen Kooperation

Das Neue Testament gibt uns - nicht zuletzt im Bild des "fünffältigen Dienstes" - eine klare Ver-ständnishilfe, nicht eine Begabung gegen die andere auszuspielen. Paulus betet, dass die Gemeinde die "Länge, Breite, Höhe und Tiefe" erkennt (Eph.3.18) - wir sollen nicht nur "eindimensional" denken und leben. Um in unseren Städten weiterzukommen mit dem Reich Gottes, müssen wir eine multi-dimensionale Schau bekommen und Wege finden, die verschiedenen Gaben in Synergie einzusetzen, statt sie in Entweder-Oder´s zu neutralisieren.
Konkret: ich denke, in jeder Stadt hat es unter der geistlichen Leiterschaft Begabungen in alle fünf Richtungen

- Nach oben: die Propheten, Beter und Fürbitter (visionaries)
Menschen, die weit in der unsichtbaren Welt leben, stark im Gebet sind und Gottes aktuelle Weisung hören und erkennen können
- Nach vorn: die "Apostel" (pioneers)
Menschen, die innovativ und strategisch Neues entwickeln und pionierhaft strukturelle Grundlagen legen (häufig übergemeindlich)
- Nach rechts: die Evangelisten (communicators)
Menschen, die das Evangelium so in unsere Kultur hineinreden, dass es verstanden wird
- Nach links: die Hirten (carers)
Menschen, die sich konkret um das Wohl von anderen, vor allem des Volkes Gottes, kümmern
- In die Tiefe: die Lehrer (trainers)
Menschen, die tief in der Schrift graben und andere in Lehre und Praxis anleiten

Aus diesen verschiedenen Gaben - die übrigens keine neue Elite, sondern - s. Eph. 4.11f - eine Trainingsstruktur sind - stellt sich das Team von Leitern der Stadt zusammen. Die Hirten sind enorm wichtig (Seelsorge!), die Lehrer sind nötig, um andere zu trainieren, und die Evangelisten entwickeln effektive Wege, Menschen anzusprechen. Wenn wir aber in unseren Städten substantiell vorankommen wollen, müssen wir lernen, die Gaben des Propheten und die des Apostels zur Synergie zu bringen – gerade weil sie so unterschiedlich ausgerichtet sind. Die „Esras“ (Gebetsleiter) und die „Nehemias“ (die Aktivisten) müssen zusammenfinden. Wolfgang Simson bringt es auf die kurze Formel: "Prophetisch Hören - apostolisch-strategisch Handeln". Prophetische Leute setzen ihre ganze Hoffnung auf „Erweckung“, und die kommt senkrecht von oben. Apostolische Leute sind an substantiellen Plänen und konkretem Aufbau interessiert. Beide müssen lernen, sich zu ergänzen.

4. Vom "Einander stehen lassen" zum Miteinander-Gehen

Wenn wir die Dynamik des Reiches Gottes für eine Stadt wirklich verstehen, dann kann es nicht nur darum gehen, dass wir einander mit unseren verschiedenen Gaben "stehen lassen". Man kann einander auch im Regen stehen lassen! Die Aufgabe, die Gott uns stellt, ist, die Vielfalt dieser Begabungen in eine Dynamik umzusetzen und zusammen einen Weg zu gehen.
Man kann dieses Umdenken noch etwas anders ausdrücken:

5. Von "Gemeinschaft" als Selbstzweck zu funktionaler Einheit

In bezug auf Gemeinschaft haben wir in unseren Städten in den letzten Jahren erstaunliche Fortschritte gemacht. Heute gibt es häufig innerhalb von Denominationen grössere Spannungen als zwi-schen den Denominationen. Am Wohnort haben wir Gottesdienste, Gebetstreffen und Jugendveranstaltungen, in denen die Einheit erfreulich ist. Die theologische und beziehungsmässige Einheit hat eindeutig zugenommen. Aber wir dürfen hier nicht stehen bleiben. Das schöne Wort "Allianz" bedeutet nicht Kaffeetrinken und Freude aneinander (so schön und wichtig das ist), sondern laut Lexikon "Bündnis zum gemeinsamen Angriff". Wir bestärken unsere Gemeinschaft immer wieder durch Worship-Nights, Gebetstreffen, Jesusmärsche und Gottesdienste im Stadion. Das alles sind wunderbare Symbole unserer Einheit, die Zeitungen berichten vielleicht darüber, aber unsere Städte bleiben noch unverändert. Carlos Mraida warnt uns davor, Einheit um ihrer selbst zu suchen: "Der Brennpunkt der Einheit der Kirche muss unser Auftrag sein", schreibt er. "So lange Lehre oder Erfahrung die Bereiche sind, um die sich unser Gemeindeleben dreht, werden wir uns immer wieder trennen". Wir müssen alles tun, was wir können, um auf allen Ebenen der Gemeinde sinnvolle Beziehungen zueinander zu haben, aber es ist der Auftrag Christi, die Verlorenen der Stadt zu erreichen, der uns langfristig auf dem gleichen Weg hält. Der Vorteil: diese Art von Einheit verlangt keine Kontrolle und keinen Konformismus; theologische Differenzen sind möglich. Was der Einheit Kraft, Richtung und Bestand verleiht, ist der Auftrag.

6. Von "permanenter Evangelisation" zum Denken vom Ziel her

Über diesen Auftrag müssen wir uns neu klar werden. Natürlich werden wir bis zur Wiederkunft Jesu evangelisieren. Aber haben wir uns schon einmal Gedanken gemacht, was wir eigentlich in unserer Stadt erreichen wollen? Was ist unser Ziel? Kann man es irgendwie definieren? Die wenigsten werden solch ein Ziel auf Anhieb formulieren können; aber vom Neuen Testament scheint der Auftrag darin zu bestehen, dass jeder Mensch die Gelegenheit erhalten muss, eine intelligente Entscheidung für oder gegen Jesus zu treffen - und dass durch veränderte Menschen sich auch Strukturen und Umstände verändern; das Reich Gottes soll durchbrechen.
Ich bin überzeugt, dass eine unklare (bzw. gar keine) Vorstellung, was wir in unserer Stadt erreichen wollen, dazu führt, dass nicht mit voller Kraft evangelisiert wird. Warum heute etwas anstreben, das wir vielleicht auch morgen anpacken können? Warum dem Auftrag „Jünger zu machen“ mit Priorität nachkommen, wenn er sowieso bis zur Wiederkunft läuft und man gar nicht wissen kann, wie weit man damit gekommen ist?
Es geht sicher nicht um irgendwelche mechanistischen Zielsetzungen; aber in immer mehr Städten stellen sich Leiter der Frage: wohin wollen wir eigentlich gehen? Was will Gott in unserer Stadt erreichen? Kann man irgendwie feststellen, wie weit wir mit dem Missionsauftrag sind? Wie sähe eine Stadt aus, in der das Reich Gottes durchgebrochen ist?
Ein Denken und Arbeiten vom Ziel her ergibt eine grundsätzlich andere Arbeitsweise als „irgendwie vorwärts machen“. Plötzlich ergeben sich einzelne Schritte, Prioritäten werden erkannt, und es kommt eine Langzeit-Dynamik in die Evangelisation der Stadt, die vorher nicht da war.

7. Von taktischen Einzelmassnahmen zu langfristiger Strategie

Nun merken wir: wenn wir von einem Ziel her rückwärts denken, geht es nicht um Taktik oder einzelne Methoden sondern um die Entwicklung einer Strategie. Die Begriffe "Strategie" und "Taktik" kommen aus der Militärsprache. Der kühle Kopf hinter dem Schlachtplan ist oft wichtiger als die Fäuste im hitzigen Zweikampf. Eine Strategie ist die grosse, umfassende Art, wie man zur Erreichung eines Ziels vorgeht. Sie wirkt langfristig und zielt auf die ganze Stadt ab. Taktische Einzelmassnahmen – wie eine Grossevangelisation, ein Alpha-Kurs, VIP-Gottesdienste oder eine Traktataktion – sind Methoden der Umsetzung.
Eine Strategie

- geht von einem Ziel aus – sie weiss, was sie erreichen will
- gibt einen grossen Rahmen, in dem jede Gemeinde ihren Platz finden kann
- setzt Prioritäten
- bewahrt vor Kräfteverschleiss
- hilft die Effektivität unserer Aktionen zu beurteilen
- und hilft auch, guten Gewissens einmal „Nein“ zu sagen.

Typische Fragen, die zu einer Strategie führen, sind:
Wie gehen wir mit unseren Ressourcen (Menschen, Zeit, Geld, Gaben) so haushälterisch und weise um, dass wir nichts verschwenden, wirklich Gott geehrt wird und der Missionsbefehl erfüllt wird?

- Was geschieht, wenn nichts geschieht - oder wenn wir so weitermachen wie bisher?
- Wo sind die Bereiche, in die das Zeugnis des Evangeliums hineingepflanzt werden muss? Welche Bevölkerungsgruppen in unserer Stadt sind "unerreicht"?
- Wer ist derzeit am offensten für das Evangelium, wo bahnen sich Öffnungen an, worauf sollten uns deshalb unsere Ressourcen konzentrieren?
- Welche Quartiere, Vororte oder soziale Gruppen haben keinen Zugang zu einer lebendigen Gemeinde? Wie können wir ein „Schaufenster der Liebe Gottes“ in jedes Quartier pflanzen?
- Was tut Satan in unserer Stadt? Zur Strategie gehört auch, einen gewissen Einblick zu haben in das, was der Feind Gottes tut. Paulus sagt dazu: „Es ist uns nicht unbekannt, was er (Satan) im Schilde hat." Wo sind die unsichtbaren Blockaden und Machtzentren
- Welche Gemeinden haben welche besonderen Stärken, auf die sie sich konzentrieren sollten (statt dass alle von allem ein bisschen machen)?
- Was können wir gemeinsam besser tun, als es jeder allein kann? Wie können wir unsere Ressourcen klüger und besser einsetzen?

Ohne gemeinsame Vision keine gemeinsame Richtung

Die Kräfte der Christen gleichen oft einem Haufen Nägel, zufällig auf den Boden geschüttet. Strategie bringt ein unsichtbares "Magnetfeld" in diesen Haufen. Man beginnt sich auszurichten. Prioritäten werden klar.

Die Kraft der Information

Wie erkennen wir diese Prioritäten? Viel Unklarheit und Nebel existiert, wo die klare Information fehlt. Satan liebt Nebel. Wahrheit macht frei. Bevor Nehemia die Stadt erneuerte, sammelte er die Fakten, die ihm halfen, ein klares Bild der Aufgabe zu bekommen.
Sobald wir von einer Komm-zu-uns- zu einer Geh-Mentalität übergehen und nach einer Strategie fragen, müssen wir Informationen zusammentragen, und zwar grundsätzlich in drei Bereichen:

- das Erntefeld (die Gesellschaft),
- die Erntearbeiter (die Gemeinde)
- und die unsichtbare Welt, die ihren Einfluss ausübt.

Wir müssen uns Fragen stellen wie:

- Wie viele Gemeinden gibt es? Wo sind sie, wie gross, wo wirken sie?
- Wo sind Haus-, Quartier- und Gebetszellen?
- Welche Wege der Evangelisation sind besonders fruchtbar?
- Was ist die geistliche Geschichte unserer Stadt? Wo gibt es Blockaden oder Altlasten aus der Vergangenheit? Wo sind die okkulten Kraftzentren?
- Wie ist die Bevölkerungsentwicklung?

Es geht nicht um Information um ihrer selbst willen – keiner will vor allem viele Zahlen. Die Fakten, die zusammengetragen werden, müssen interpretiert und zu einer „prophetischen Botschaft“ werden, die dann ein Baustein zur Erkenntnis einer Strategie ist.

City Vision: ich habe einen Traum

Wenn ich skizzieren müsste, wie – als Ergebnis eines Paradigmawechsels - eine City-Vision vor Ort aussähe, komme ich ins Träumen:

- Mir träumt, dass es im Jahr 2005 es in der Schweiz 10 Regionen gibt (Gross-, Mittel und Kleinstädte sowie ländliche Gebiete), in der die bewussten Christen sich zu einer Art Regio-Gemeinde zusammengefunden haben.
- Die Leiter dieser Regio-Gemeinde übernehmen gemeinsam die geistliche Verantwortung für dieses Gebiet - im Gebet und in konkreter Aktion
- Eine Untersuchung hat gezeigt, wo die geistlichen Schwerpunkte der Stadt liegen; man weiss etwas über Geschichte und prägende Ereignisse – und wie damit umgehen. Dauernd werden neue Fakten bekannt und von der Leiterschaft verarbeitet.
- In jedem Quartier existieren Hausgruppen, Gebetszellen oder gar Hausgemeinden, die sich als Gottes Brückenkopf für ihr Quartier verstehen und auch danach handeln. Man ringt um die Menschen des Quartiers und lebt Christentum auf selbstverständliche Art. Diese Zellen multiplizieren sich ständig, und keiner fragt "aus welcher Gemeinde kommst du"
- Alle Christen der Region treffen sich viermal oder mehr im Jahr zu einem Grossgottesdienst, in dem neben gemeinsamem Lobpreis eine starke Botschaft apostolische Herausforderung und prophetische Richtung gibt - etwas, was man in den Kleingruppen nicht so hört
- Eine gemeinsame Zeitung oder homepage verbindet und macht nach aussen transparent
- Jede "Gemeinde in der Gemeinde" hat vom Ganzen her eine klare Identität, die mit ihrer Lage und ihren Stärken zu tun hat
- Wo es möglich ist, gründet man miteinander "Kirchen für die Neue Generation / Jugendkirchen" und setzt die besten jungen Leiter dafür frei
- Zwischen den einzelnen Teilgemeinden herrscht freier Personenverkehr und Mitgliederaustausch.
- Die Leiter dienen einander mit ihren Gaben. Wer am Boden liegt, wird ermutigt; wer aus-spannen muss, wird vertreten; wer eine Vision hat, teilt und diskutiert sie hier - keiner muss seine Kleingemeinde, sein Territorium oder seine wirtschaftliche Existenz verteidigen.
- Wo es sinnvoll ist, werden Aktionen zusammengelegt: Schulungen, Alpha-Kurse etc.
- Teilgemeinden tun sich zusammen, um grössere Projekte zu verwirklichen (Videothek, Rol-lerbahn, Kinderkrippe, Altersheim, christliche Schule, Gassenküchen...)
- Sogar einige Gemeinden schliessen sich zusammen. Geld wird freigesetzt, und einige Prediger werden zu "weltlichem Dienst" ausgesandt, wo ihnen viel wohler ist und was sie sich insgeheim schon lange gewünscht haben. Die Leiterschaft betet und plant auf der anderen Seite Neugründungen von Zellen oder Quartiergemeinden und packt sie gemeinsam an
- Wenn ein Glied leidet, leiden und tragen alle mit: wenn eine Gemeinde in finanzielle oder personelle Schwierigkeiten gerät, tragen und helfen alle mit. Die Öffentlichkeit und die Medien realisieren, dass die Christen nicht mehr eine zersplitterte und darum uninteressante Minderheit, sondern in ihrem gemeinsamen Auftreten eine Grösse sind, die ernst zu nehmen ist. Endlich weiss man, wer wer ist.
- Die Folge: Satans beliebte Methode "Teile und herrsche" zieht nicht mehr. Die Stadt oder Region erlebt eine geistliche und soziale Transformation.
- Solche veränderten Städte prägen das Land. In einigen Jahren ist die Anzahl der lebendigen Christen auf 20 oder 30% gestiegen, was eine Region nach der anderen enorm verändert.

Vorwärts gehen

Ich bin überzeugt: wenn wir nicht wollen, dass sich regionale Leitertreffen totlaufen oder in der Harmlosigkeit versinken, brauchen wir von Gott eine Gesamtvision für unsere Städte, die wir in langfristige Ziele übersetzen. Es geht um mehr als nur ab und zu einen stadtweiten Gottesdienst zu feiern, Gebetstreffen zu haben und alle paar Jahre eine evangelistische Grossaktion zu starten (so gut das auch alles ist). Es geht um eine langfristige, von Gott erbetene, durchdachte und konsequent verfolgte Strategie, die das Ziel hat, dass deutlich mehr Menschen zu Christen werden, der geistliche, moralische und soziale Zerfallsprozess vieler Städte aufgehalten wird und das Reich Gottes in unseren Städten eine unüberschaubare Realität wird. Ted Haggard drückt es (ein wenig amerikanisch) so aus: "Wir müssen es den Leuten in unserer Stadt schwer machen, zur Hölle zu gehen".
Hier geht es nicht um Gleichschaltung der Instrumente, aber um ein gemeinsames Musikstück, das sie spielen - jeder in seiner wunderbaren Verschiedenheit. Werden wir Gottes Geist erlauben, die Instrumente der einzelnen Gemeinden so zu orchestrieren?
Wer soll den Auftrag Christi für unsere Städte erfüllen, wenn nicht die Gemeinde, die darin wohnt? wer soll in Gottes Sinne „der Stadt Bestes suchen“, wenn nicht die Christen, und zwar gemeinsam? Ich glaube, dass Gott die Gemeinde in der Stadt dazu berufen und ausgerüstet hat. Und ich bin überzeugt, dass in dieser Synergie ungeahnter und bisher ungenutzter Segen verborgen liegt.

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"Wir brauchen nicht noch mehr Strategien. Was wir brauchen, ist mehr Gebet"
Klingt gut, nicht wahr? Sätze wie diese sind im Moment "in" und finden allenthalben Beifall. Aber sind sie deswegen auch wahr? Ich halte das Entweder-Oder von Strategien und Gebet für eine gefährliche Sackgasse:

1. Wir haben ja gar keine Strategien!
Auf eine Stadt oder ein Land bezogen, haben wir zwar manche gute Ideen und ein paar taktische Methoden, die wir anwenden (wie etwa den Alpha-Kurs), aber Strategien (im umfassenden, langfristigen Sinne) haben wir noch kaum. Einer der Gründe - das gilt besonders für die Schweiz - ist der Mangel an wirklicher Führung und Leiterschaft auf Stadtebene. Wir sind gut darin, dass jeder irgendwo einen Beitrag gibt, aber oft schwach, diese vielen verschiedenen Stimmen zu einem Chor zu orchestrieren. Entweder will niemand Verantwortung für eine dienende Leiterschaft übernehmen, oder er wird demokratisch neutralisiert - mit Bedenken aller Art. Wie viele mutige Ansätze werden gekillt, weil irgend jemand irgendwo ein Problem hat! In einem förderalistischen System langfristig wirklich etwas aufbauen, das ist eine Herausforderung!

Dieses Entweder-Oder, auf das ich immer wieder stosse, ist letztlich auch ein Zeichen für

2. Das spiritualistisch-technokratische Dilemma
Christian Schwarz kommt das Verdienst zu, Klärung in diesen Vorgang gebracht zu haben: sobald etwas nach "machbar" riecht, treten garantiert die auf den Plan, die sagen, man müsse "vor allem beten". Es gehe nicht um Organisation, sondern um Organismus. Und alle nicken mit den Köpfen und falten die Hände. Wie oft habe ich das erlebt! Natürlich ist Beten das Entscheidende und die Quelle von allem – aber man wird den Verdacht nicht los, dass es bisweilen eine Verlegenheitslösung ist, weil wir uns in der strategischen Diskussion doch nicht einigen können (und die wir häufig gar nicht seriös angepackt haben). So bleibt vieles in der Schwebe - und in separaten Räumen. Die einen Beeten oben im Dachkämmerlein wie wild (auch wenn sie manchmal nicht so recht wissen, was läuft), und die andern planen unten im Büro (und hoffen, dass Gott es segnet).

Wir müssen die Falle dieses spiritualistisch-technokratischen Dilemmas erkennen! In ihr verpufft ein grosser Teil der Energie des Volkes Gottes! Das „Ora“ und das „Labora“ müssen wieder zum selbstverständlichen Herzschlag geistlichen Planens werden.

Datum: 04.02.2004
Autor: Reinhold Scharnowski
Quelle: DAWN europan network

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