Die wahre Revolution geschieht im Dorf
Die Bevölkerung von 1100 Millionen wächst und wächst (wöchentlich um die Bevölkerungszahl der Stadt Zürich), und mehrere Mega-Städte entwickeln sich stürmisch. In manchen der 600'000 Dörfer hält die Moderne mit Strom und fliessendem Wasser erst Einzug. Kein Land weist eine derartige kulturelle und religiöse Vielfalt auf wie Indien. Und die sozialen Spannungen sind nach wie vor immens. Die Fluten, die nach schweren Monsunregen in den letzten Wochen über Nordindien kamen, haben nach UN-Angaben 20 Millionen Menschen ihr Obdach genommen.
Orte des Lichts und der Liebe
Die evangelischen Christen, die für die Achtung der gleichen Würde aller Menschen eintreten, haben in 200 Jahren Beachtliches erreicht. Ihre Spitäler und Schulen gehören zu den lichtvollsten Stätten Indiens, sind vorbildliche Beiträge zur Entwicklung des Riesenlandes. Der selbstlose Einsatz von Mutter Teresa und ihren Schwestern hat ihr die Verehrung des Volks gebracht. Doch das Kastendenken prägt die Gesellschaft weiter – obwohl die Verfassung von 1950 „Unberührbarkeit“ als aufgehoben erklärte und jede Diskriminierung wegen Kastenzugehörigkeit verbot. Extreme Hindus, organisiert in den Massenorganisationen des Sangh Parivar, beharren auf dem Vorrang der Hindu-Kultur in einer Zeit, da Indien sich der Weltwirtschaft geöffnet hat und westliche Einflüsse zunehmen.
Verleumdet
Damit verbunden sind Drohungen und Attacken gegen aktive Christen in zahlreichen Ecken des Riesenlandes. Regionale Hindu-Medien verleumden Katholiken und Protestanten als Agenten fremder Mächte, die Inder ihre angestammten (Hindu-)Kultur entfremden wollten. Die Hasskampagne verschont auch die Einrichtungen nicht, welche Christen zum Wohl der Bevölkerung führen: Medizinern und Nonnen, Pflegerinnen und Lehrern wird vorgeworfen, sie hülfen den Menschen bloss, um sie zum Religionswechsel zu verleiten. Dieser wurde bisher in sechs Gliedstaaten verboten; ein unionsweites Verbot, von den radikalen Hindus angestrebt, wurde durch den überraschenden Wahlsieg der Kongresspartei Sonia Gandhis und ihrer Verbündeter 2004 verhindert.
Howell: „Zeit Gottes“
Richard Howell, Leiter des Kirchenbunds der Evangelical Fellowship of India (EFI), unterstrich im Mai an der Open-Doors-Jahrestagung in Aarau das dynamische Wachstum der indischen Christenheit. „Es ist eine besondere Zeit, die Zeit Gottes“, sagte Howell. Täglich nähmen 7’000 bis 10’000 Menschen den Glauben an Christus an. Das stelle die Kirchen – vielerorts einfache Hausgemeinden – vor gewaltige Herausforderungen, besonders bei der Schulung junger Christen und Leiter.
Von den über 160 Millionen Dalits (Kastenlose) und gegen 100 Millionen Adivasis (Stammesangehörige) haben sich in den letzten 30 Jahren viele Christus zugewandt, wodurch zahlreiche Dörfer verwandelt wurden. Bisher als willige Arbeitskräfte ausgebeutet, werden Dalits, wenn sie ein neues Selbstbewusstsein entwickeln, ganz besonders zur Zielscheibe des Hasses extremistischer Hindus. Jeden Tag werden laut Howell in Indien zwei Dalits ermordet, zwei Dalit-Frauen vergewaltigt, zwei Häuser von Dalits angegriffen.
Im Punjab wurden Weihnachtsfeiern gestört. Weiter haben mehrere Fälle von Vergewaltigungen in Madhya Pradesh oder die Verhaftung eines Arztes unter abstrusen Anschuldigungen die Christen alarmiert. Ende April wurde im westlichen Gliedstaat Rajasthan der protestantische Missionar Walter Massey brutal zusammengeschlagen. Christliche Gruppierungen organisierten anschliessend in der Hauptstadt Jaipur einen grossen Friedensmarsch, um auf die schwierige Situation aufmerksam zu machen. In den Gliedstaaten, die den Religionswechsel verboten haben, werden auch immer wieder Christen wegen angeblich missionarischer Aktivitäten verhaftet.
Heilen und Gutes tun
Die drei Wachstumsfaktoren der indischen Kirche sind nach Howell das Wort, die Wunder und die Werke. „Wir wissen nicht, weshalb in der indischen Kirche gegenwärtig so viele Heilungen geschehen, aber sie geschehen.“ Dabei gingen einfache Menschen, ohne eine besondere Gabe, zu anderen Menschen, beteten für diese – und viele werden gesund. Howell forderte zum Gebet für das Riesenland, das ein starkes Wachstum der Mittelschicht und zugleich weiterhin mehrere hundert Millionen Arme verzeichnet: Fast ein Drittel der Inder lebten heute unter der Armutsgrenze, verdienten also weniger als einen Dollar pro Tag.
Datum: 15.08.2007
Autor: Peter Schmid