Gespräch mit Christoph Albrecht

Wer den Menschen missachtet oder unterdrückt, trifft Gott

Hunderttausende von katholischen Basisgemeinden setzen in Lateinamerika die Impulse der Theologie der Befreiung um, während es in Europa diesbezüglich noch viel zu tun gibt, sagt der jesuitische Theologe Christoph Albrecht. Die Nachrichtenagentur Kipa unterhielt sich mit ihm über die Aktualität der Befreiungstheologie, die Vatikan-Kritik an Jon Sobrino und bodennahe Spiritualität.
„Die Erlösung beginnt im Jetzt“: Christoph Albrecht
4 Szenen aus einer Hauskirche in Mexico.
Kirche in Cusco Peru.

Kipa: Christoph Albrecht, Sie bezeichnen sich als Befreiungstheologen. Wovon wollen Sie uns oder sich befreien?
Christoph Albrecht: Der Theologie der Befreiung geht es um die Befreiung von jeder Art von Gewalt. Neben der akuten gibt es auch viele Formen struktureller Gewalt: Junge Menschen finden keine Lehrstelle, Asylsuchende werden des Landes verwiesen, aber erhalten dazu nicht einmal die Mittel zum Reisen, Frauen erhalten für die gleiche Arbeit immer noch weniger Lohn als Männer, Kapital ist profitabler als Arbeit. Diese und noch viele andere Formen von Gewalt sollen überwunden werden.

Deshalb möchte ich dazu beitragen, dass die Bedeutung der Theologie der Befreiung für die europäische Kirche und für die Weltkirche wie auch für die Gesellschaft überhaupt besser erkannt wird. Im Bildungshaus Notre-Dame de la Route in Villars-sur-Glâne bei Freiburg begleite ich spirituelle Übungen nach der Art des Ignatius von Loyola und Kurse zur Kommunikation und Konfliktnutzung. Dabei geht es – durch die Klärung und Vertiefung der Gottesbeziehung – immer auch darum, bei den Teilnehmenden die eigene Dynamik der Befreiung von verinnerlichten Gewaltstrukturen zu fördern.

Auch andere geistliche Gemeinschaften stehen den Menschen auf diese Weise bei. Ist die Befreiungstheologie heute darum noch nötig?
Natürlich könnte man einfach von Theologie sprechen, wenn es nicht eben auch Theologien gäbe, die zur Legitimation von Unrechtssystemen beitragen. Theologie der Befreiung hingegen thematisiert bewusst die Tatsache, dass wir vor dem Unrecht niemals neutral bleiben dürfen.

Befreiungstheologische Impulse sind heute an vielen Orten in der Seelsorge durchaus präsent, wenn auch in anderer Form als vor zwanzig Jahren. Dennoch ist es vor allem auch in Europa wichtig, immer wieder von der Theologie der Befreiung zu sprechen. Denn auch hier gibt es theologische Strömungen, die eine kirchliche Praxis ohne Bezug zur sozialen, politischen und wirtschaftlichen Realität verlangen. Den Widerstand gegen Unterdrückung, Ausgrenzung und Ungerechtigkeit aufzugeben, wäre aber nicht nur ein Verlust für die Theologie, sondern auch ein Verrat am Evangelium.

Welche Rolle spielt die politische Dimension der Befreiungstheologie?
Unsere Aussagen und unser Handeln haben immer eine politische und ökonomische Relevanz. In Lateinamerika hat ein Grossteil der katholischen Kirche realisiert, dass die Kirche nicht "unpolitisch" sein kann. Schweigen zu ungerechten gesellschaftlichen Verhältnissen macht uns zu Komplizen derjenigen, die diese Verhältnisse erzeugen und verteidigen. Genau deshalb braucht es die "vorrangige Option für die Armen", das heisst eine entschiedene Parteinahme für die Opfer von ungerechten Strukturen.

Der Theologie der Befreiung wird auch manchmal vorgeworfen, Erlösung nur als Befreiung auf politischer Ebene zu begreifen. Dies ist falsch. Aber sie wehrt sich gegen eine Erlösungslehre, die nur das Jenseits am Ende der Zeiten im Blick hat. Denn die Erlösung beginnt im Jetzt und wir sind dazu berufen, daran mitzuwirken.

Wie sieht diese Arbeit in der Praxis aus?
Erstens, dass wir besonders auch als kirchliche Gemeinschaften Orte bilden, in denen Behinderte, Alte, Kinder, Alleinerziehende, Einsame, Erwerbslose, Asylsuchende nicht nur bestenfalls Zaungäste sind, sondern vollwertige Mitglieder der Gemeinschaft. Zweitens, dass wir uns als Einzelne und Gemeinschaften nicht mehr am Geschäft jener Konzerne beteiligen, die Ethik nur zu Marketingzwecken auf ihre Fahnen schreiben, sondern die Marken des fairen Handels unterstützen. Drittens können wir wirtschaftlich und politisch für die lokale und regionale, also dezentralisierte Grundversorgung und gegen die Deregulierung und Privatisierung eintreten. Viertens, indem wir jede Initiative unterstützen, die die unbedingte Würde der Menschen verteidigt.

Selber engagiere ich mich neben meiner Arbeit im Bildungshaus in verschiedenen Vereinigungen, die das Bewusstsein für Gerechtigkeit, Demokratie, Menschenrechte und einen ökologischen Lebensstil fördern.

Die vatikanische Warnung vor den Schriften des Befreiungstheologen Jon Sobrino verdeutlicht, dass nicht alle in der Kirche von einem solchen Einsatz überzeugt sind…
Die Glaubenskongregation würdigt ausdrücklich den Einsatz Sobrinos für die Armen und sie unterstreicht, dass dies eine Aufgabe der ganzen Kirche sei. Dann kritisiert sie allerdings mit spitzfindigen Argumentationen seine Christologie. Die Haltlosigkeit dieser Vorwürfe lässt vermuten, dass es ungenannte (kirchen-)politische Gründe sind, die zu diesem Schreiben geführt haben. Jedenfalls steht die V. Versammlung der lateinamerikanischen Bischofskonferenzen (CELAM) an. Dieses dreiwöchige Treffen von 176 Kardinälen und Bischöfen wird am 13. Mai im brasilianischen in Aparecida durch Papst Benedikt XVI. persönlich eröffnet. Der Schlag gegen Sobrino ist womöglich ein Einschüchterungsversuch gegen alle, die an eindeutigen Stellungnahmen zugunsten einer solidarischen Kirche mit den "Armgemachten" arbeiten.

Welchen theologischen Zusammenhang sehen die Befreiungstheologen zwischen biblischer Botschaft und konkretem Handeln?
Der Theologie der Befreiung geht es nicht nur um eine Orthodoxie, sondern auch um eine Orthopraxis. Diese besagt, dass es nicht genügt, das Richtige zu glauben und zu lehren, sondern auch dass wir das Richtige tun. Wenn nun die biblische Botschaft von der Befreiung vom Tod und von der Knechtschaft spricht, dann ist es unsere Aufgabe, daran auch konkret zu arbeiten. Dies darf nicht nur auf der individual-spirituellen Ebene geschehen. Vielmehr muss man sich auch dafür einsetzen, dass alle Menschen unter menschenwürdigen Bedingungen leben können. Das gilt nicht nur im Kontext der wirtschaftlichen Ungerechtigkeit, in dem die lateinamerikanische Theologie der Befreiung bekannt geworden ist, sondern auch für andere Kontexte der Unterdrückung. So gibt es heute auch afrikanische, asiatische, feministische, ökologische und andere Theologien der Befreiung.

Die Auseinandersetzungen mit der vatikanischen Glaubenskongregation haben die Befreiungstheologen in ein besonderes Licht gerückt und sie etwa mit dem Vorwurf konfrontiert, sie verbreiteten marxistisches Gedankengut…

Die Gesellschaftsanalyse von Marx wurde als ein Instrument der Gesellschaftsanalyse verwendet, aber nicht als Ideologie. Doch in der Spannung des Kalten Krieges war es ein leichtes Spiel, fortschrittliche Frauen und Männer, die in der Seelsorge wirkten, als Kommunisten zu bezeichnen, um sie als Atheisten abzustempeln. Der US-amerikanische Geheimdienst CIA hat dabei fleissig mitgemischt und auch vorgegeben, dass in Lateinamerika nicht die Kirche als solche, sondern nur die mit den Armen engagierten Gemeinschaften und Personen verfolgt werden sollen. Diese unerhörten Gemeinheiten sind durch verschiedene Dokumente belegt, so zum Beispiel durch den 1975 an die Öffentlichkeit geratenen "Banzerplan".

Der gebürtige Basler Christoph Albrecht (41) gehört dem Jesuitenorden an. Er bezeichnet sich als Befreiungstheologen. Das Interesse für diese Bewegung kommt in seiner 2005 publizierten Dissertation mit dem Titel "Den Unterdrückten eine Stimme geben" zum Ausdruck. Albrecht lebte während zwei Jahren in Bolivien, wo er unter anderem kirchliche Basisgemeinden kennen lernte. Er ist Leiter des Bildungshauses Notre-Dame de la Route bei Freiburg.

Datum: 14.04.2007
Autor: Georges Scherrer
Quelle: Kipa

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