Im Gespräch mit Gottfried Locher

„Wir kennen keinen Gott jenseits von Gottes Sohn“ – Wege zum Aufbruch der reformierten Kirchen

Der Mensch steht nicht allein. „Wir werden als Leib von Christus immer zusammen mit anderen von Gott angesprochen“, sagt Gottfried Locher, Vizepräsident des Reformierten Weltbundes. Im zweiten Teil des Livenet-Gesprächs skizziert er, wie eine Erneuerung des Gottesdienstes die Kirchen belebt.
„Reformierte Gottesdienste mit Abendmahl feiern“: Gottfried Locher
Mit Ballonen allein können wir nicht ins Neue Jahr treten.
Die Kirche steht im Dorf – was bewirkt die Gemeinschaft der Christen?
Erneuerung: auf die echten Bedürfnisse der Menschen eingehen.
Weitergeben, was Christus uns geschenkt hat: Gottfried Locher
Leuchtender Turm: das Zürcher Grossmünster

Livenet: Gottfried Locher, wie können reformierte Christen in unserer Gesellschaft als Kirche wieder mehr Profil gewinnen?
Gottfried Locher: Indem wir uns zuerst einmal von dieser Profilfrage lösen. Wir müssen uns nicht darum kümmern. Profil bekommen wir im besten Fall geschenkt. Das Kirchesein können wir auch nicht machen; es wird uns gegeben. Kirche sein heisst in der Kraft des Heiligen Geistes stehen. Aber: wir haben sehr wohl gehört, wie wir diesen Heiligen Geist erleben können.

Nach gut protestantischer Auffassung geschieht dies zuerst im Wort und im Sakrament. Was heisst: Wenn wir Profil haben und gewinnen möchten, müssen wir Gottesdienste gestalten, in Kirchen, wo die Leute gern hingehen und Gott ganzheitlich erleben können – durch das Hören des Wortes, das Sehen, das Erleben der Gemeinschaft, im Wort und im Sakrament.

Ich meine, dass wir uns auch in die Ökumene mit diesen Ansichten profiliert einbringen sollen: Wir haben einseitig nur noch das gesprochene Wort, die Predigt, betont. Es ist nicht reformatorisch, nur noch das Wort in den Mittelpunkt zu stellen. Es geht um Jesus Christus als Wort Gottes, gehörtes und erlebtes Wort Gottes, und das erleben wir im Gottesdienst im Abendmahl nicht weniger als bei der Predigt.

Hier brauchen wir dringend ein Umdenken: ein Gottesdienst ist ein Abendmahlsgottesdienst. Ich plädiere dafür, unsere Gottesdienste regelmässig als Abendmahlsgottesdienste zu gestalten. Das Abendmahl gehört in eine Predigtliturgie hinein. Weder das Eine noch das Andere sollte überbetont werden. Wir brauchen eine Balance zwischen der Predigt, die das Abendmahl in Zusammenhang mit Jesu wirken Leben setzt, und einem Abendmahl, das die Predigt visualisiert. Dann können wir uns darauf verlassen, dass uns Profil zufällt.

Das tönt ‚katholisch’…
Wir müssen uns langsam von unserer Aversion davor lösen, was – Gott bewahre – allenfalls katholisch sein könnte. Fragen wir doch einfach, was der Sache gerecht wird. (Die römisch-katholische Kirche tut das übrigens auch: Die Predigt, unser reformiertes Lieblingskind, hat seit dem 2. Vatikanischen Konzil in der Messe viel mehr Platz bekommen.)

Im Gottesdienst nehme ich doch an etwas viel Grösserem, Älterem, Erprobterem teil, als ich mir liturgisch selber zusammenbasteln könnte. Wollen wir nicht auch, gut reformiert, nach den alten Quellen des Glaubenslebens fragen und sie für unsere Zeit neu fassen? Die Zeichen des Gottesdienstes sind Wort und Sakrament, und man sollte daran nicht herumschrauben.

Es sind die Pfeiler, auf denen die Vermittlung des Geistes im Gottesdienst vor sich geht. Wenn uns wirklich so viel an der Ökumen liegt, wie wir Protestanten gerne betonen, dann sollten wir vielleicht auch auf die Ökumene hören, wenn es um die Gestaltung der Liturgie geht. Das ist dann nicht einfach ein katholischer Blick, sondern auch ein anglikanischer oder lutherischer, ein methodistischer oder orthodoxer.

In die andere Richtung gedacht: Nachdem Zwingli 1525 mit den Täufern gebrochen hatte, wurde der Pfarrer der Garant der reinen Lehre. Gehört zur Erneuerung des reformierten Gottesdienstes mehr Teilnahme von Nicht-Theologen?
Wenn wir das eben Genannte ernst nehmen, darf der Gottesdienst nicht erstarren, sondern er soll dynamisiert werden. Ich kann ich mir gut vorstellen, dass eine Predigt auch unter Beteiligung von Laien stattfindet, dass dialogisch gepredigt wird, dass Teilnehmende Zeugnis geben, dass weitere Elemente zugelassen werden – bis hin zur Zungenrede. Aber warum das Eine gegen das Andere ausspielen? Wort und Sakrament immer im Gottesdienst zu haben, wäre auch ein wichtiges ökumenisches Zeichen.

Manchmal hat man den Eindruck, dass wir in reformierten Gottesdiensten oft vom grossen Ja Gottes hören – und dabei Christus und der Heilige Geist in den Hintergrund treten.
Ich habe diesen Eindruck auch. Wir sollten wieder zu uns selbst, zu unserer Gotteserfahrung zurückfinden. Wir kennen Gott durch Jesus Christus. Und wenn wir von Gott sprechen, dann nicht ohne den, der gesagt hat: ‚Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben’. Sonst sprechen wir von einer Chimäre. Wir kennen keinen Gott jenseits von Gottes Sohn, sonst hören wir auf falsche Propheten. Entschieden am menschgewordenen Gottessohn festuhalten: das ist auch die Bedingung für einen ehrlichen interreligiösen Dialog.

Nochmals: Im Gottesdienst, in Wort und Sakrament, kommt dies zum Ausdruck. Wenn es uns gelingt, auch für andere Erfahrungen des Heiligen Geistes Raum zu schaffen, dann können wir spüren, was die Dreieinigkeit Gottes an Reichtum für unser Glaubensleben bedeutet.

Die reformierten Kirchen der Schweiz sind im Evangelischen Kirchenbund SEK zusammengeschlossen. Viele Christen erkennen sich nicht mehr in seinen Stellungnahmen. Wie kann er wieder zu einer Kraft werden?
Es ist zu einfach, dem Kirchenbund fehlende Kirchlichkeit vorzuwerfen. Der Kirchenbund ist das Produkt seiner Mitgliedkirchen. Wenn er nicht kirchlich, christlich und biblisch argumentiert, dann liegt das in der Verantwortung seiner „Besitzer“, also in erster Linie der reformierten Kantonalkirchen.

Es müsste ein Aufbruch bei den Kirchen stattfinden, wenn man einen anderen Kirchenbund will. Dieser Aufbruch würde beinhalten, worüber wir jetzt sprechen: eine Erneuerung des Gottesdienstes, des christlichen Engagements, auch des christlichen Profils. Wenn das in den Kirchen geschieht, geschieht es auch im Kirchenbund. Reformierte Kirche ist Kirche von unten nach oben.

Und was soll die Theologie?
Sie ist die Chance für die Erneuerung der Kirche! So war es jedenfalls in der Zeit der Reformation: es wurde theologisch argumentiert. Sie ist das Mittel, um nicht im Zeitgeist und den aktuellen Moden aufzugehen. Wir brauchen eine sattelfeste, exakte, spannende Theologie, welche uns aus ängstlichen Strukturen, verschämter Öffentlichkeitsarbeit und verkümmerten Liturgien herausreisst.

Theologie und Gottesdienst: das gehört zusammen, und das gilt eigentlich in allen Konfessionen. Theologie ist Nachdenken über den Glauben aus dem Glauben heraus, nicht einfach von einem angeblich neutralen Standpunkt her. Eine Theologie, die von der unangenehmen Botschaft von Jesus Christus an eine fragwürdige Welt spricht: das braucht die Kirche.

In der hermeneutischen (auf das Verstehen fokussierten) Theologie werden Deutungen eines biblischen Textes gegeneinander ausgespielt, das Ereignis selbst tritt in den Hintergrund, und Uneingeweihte verstehen nicht mehr, worum es wirklich geht…
Dann lassen Sie etwas Katholizität gegen diese theologische Freigeisterei zu und sagen Sie: Wir haben ein Problem hier (Globalisierung etwa oder das Partnerschaftsgesetz, wenn ich ethische Beispiele nehme), und wir können nicht einfach aus unserer Weisheit von heute und hier heraus dieses Problem theologisch beantworten. Das ist nicht redlich, nicht ehrlich einem viel grösseren Wissensschatz von Theologie und Christentum gegenüber. Schauen wir nach, was andernorts gesagt wird und zu anderen Zeiten gedacht worden ist.

Unsere Kirchenleitungen müssen deshalb nach der grösseren kirchlichen Zusammenarbeit suchen, Kontakte nach aussen knüpfen – dasselbe würde auch für die Freikirchen gelten, denn die meisten Schweizer Freikirchen haben von sich nicht gerade den Eindruck, dass sie vielleicht auch von der Weisheit anderer (geschweige ökumenischer) Partner lernen könnten. Wenn alle überzeugt sind, die Wahrheit sitzt sowieso bei uns, beim meinem eigenen hic et nunc (Hier und Jetzt), dann braucht man keine Katholizität und keine Ökumene. Dann muss man sich allerdings auch fragen lassen: Ist das die ganze Versöhnung der Christenheit?

Die grosskirchliche Theologie deutscher Sprache hat die Beiträge des angelsächsischen Raums lange Zeit kaum wahrgenommen.
Als ich studierte, konnte man noch sein Staatsexamen machen, ohne ein einziges nicht-deutsches Buch in die Hand zu nehmen. Das hat sich grundlegend geändert. Aber was immer noch stimmt: unsere protestantischen Kirchen funktionieren nicht international. Wir können problemlos in Zürich an einer neuen Kirchenverfassung arbeiten, ohne zu schauen, was denn etwas in der Church of Scotland oder bei den amerikanischen Presbyterianern an Verfassungsrevisionen nachzulesen wäre.

Die akademische Theologie ist mehrsprachig geworden (mindestens noch englisch), aber die kirchlichen Texte werden nur in der eigenen Sprache wahrgenommen. Schon zwischen deutsch- und französischsprachiger Schweiz wird nicht viel von dem ausgetauscht, was die Kantonalkirchen veröffentlichen.

Was treibt Gottfried Locher nach sechs Jahren beim SEK um?
Ich habe eigentlich nur ein Thema, das mich wirklich umtreibt: die Erneuerung unserer Kirche. Ich spüre in vielen Menschen die Hoffnung auf einen Aufbruch, Freude daran, miteinander die Botschaft Jesu Christi zu teilen und weiterzugeben, sie im Alltag umzusetzen, zuhause, unter Freunden, in der Gesellschaft, im Staat, in der Welt. Zu all dem brauchen wir eine glaubwürdige, gut sichtbare, ökumenisch verantwortliche Kirche. Nicht vergeblich heisst es im Glaubensbekenntnis „ich glaube (an) die Kirche“, sie ist Instrument Gottes, Gemeinschaft der Gläubigen, und Wegweiser für die Menschen.

Aufbruch heisst auch: Umkehr, persönliche Umkehr wie auch gemeinsame Umkehr. Für den Gebrauch dieses Wortes, Umkehr, wurde ich sehr kritisiert. Ich stehe dazu: Unsere reformierten Kirchen müssen umkehren, zurückkehren in eine grössere Kirchlichkeit. Wir können nicht immer weiter nur in uns selber kreisen. Dass das für andere Kirchen ebenso gilt, das will ich gerne anfügen. Aber ich bin nun einmal reformiert, und die reformierte Kirche ist jene, für die Sie und ich und viele Andere jetzt Verantwortung tragen.

Mehr zum Thema:
www.jesus.ch/index.php/D/article/643-Jahreswechsel/
www.jahreswechsel.livenet.ch

Pfr. Dr. theol. Gottfried Locher arbeitet als Vizepräsident im Reformierten Weltbund. Er ist zuständig für die ökumenischen Dialoge auf Weltebene und für die Stärkung der Gemeinschaft unter den Mitgliedkirchen. Er lebt in der Region Bern.

Reformierter Weltbund:
http://warc.jalb.de/warcajsp/side.jsp?news_id=8&part2_id=22&navi=12

Reformierte Kirchen der Schweiz
www.ref.ch

Datum: 30.12.2005
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch

Werbung
Livenet Service
Werbung