Räume der Stille liegen im Trend

Stille

Eine Tagung der Universität Freiburg kam zum Schluss, das liturgische Beten stecke in der Krise. Im Gegensatz dazu steht die wachsende Beliebtheit dieser alten Form des Gebets in verschiedenen evangelischen Häusern und Kirchen der Schweiz.

"Das ritualisierte liturgische Gebet und die Angebote der Stille sind eine Chance für Menschen, die den Draht zum kirchlichen Leben verloren haben", meint Roman Angst, Seelsorger der ökumenischen Bahnhofskirche in Zürich. Den 400 bis 700 Menschen, die laut Angst pro Tag die Kapelle besuchen, biete sich ein stiller Raum der Besinnung. Stündlich wird das "Weg-Wort" des Tages an die Wand projiziert. Vier Mal am Morgen und einmal am Abend findet eine kleine Liturgie statt. "Viele Menschen schätzen diese Gottesdienstform", betont Angst. "Sie hilft ihnen, in die eigene Gebetshaltung zu finden."

Auch bei den Freikirchen scheint sich die Einstellung gegenüber traditionellen Formen des Gottesdienstes zu ändern. "Ich vernehme bei Menschen aus freien Gruppierungen oft anfängliche Skepsis, vor allem gegenüber dem liturgischen Beten", berichtet Felix Ruther, Leiter der Vereinigten Bibelgruppen (VBG). "Wer es aber in einem meiner Kurs einmal erleben durfte, denkt anschliessend ganz anders darüber." In vielen VBG-Kursen bete man zumindest das traditionelle Morgen- und Abendgebet. "Wer seit Jahren betet, wird immer mehr zu vorformulierten Gebeten und einfachen Wiederholungsgebeten greifen", meint Ruther. Wie schon Luther erlebe er, dass man "genug an seinen einfachen Gebetlein" haben könne. Gerade die kraftvolle Sprache der Psalmen im Stundengebet verleihe oft der eigenen Sprachlosigkeit Worte, so Ruther.

Im Haus der Stille "Sunnebad" finden schon seit über 20 Jahren drei Tagzeitengebete statt: das Morgengebet, das Mittagslob und das Abendgebet. "Liturgische Abläufe, gleichbleibende Gebete, vertraute Texte und Lieder können uns in die Gegenwart Gottes führen und dienen der Sammlung vor Gott", erklärt Susanna Oppliger vom Leitungsteam des Chrischona-Gästehauses in Sternenberg (ZH). Auch Christen, die nicht bewusst liturgische Gebete verwendeten, trügen ein Stück Liturgie in sich, so Oppliger. Die persönliche Einkehr und Stille vor Gott ist auch Urs Schaub vom Hotel Seeblick in Emmetten wichtig. Die Heimstätte der Schweizerischen Pfingstmission (SPM) bietet ihren Gästen seit dem 1. Januar 2003 einen Raum der Stille an. "Der Raum ist als Ort der Ruhe für unsere Individualgäste gedacht", begründet Schaub die Neuerung. Der Raum stehe 24 Stunden offen. Am Morgen wird eine Andacht zur Tageslosung geboten, am Abend zeigt man die aktuellste Sendung von "Fenster zum Sonntag".

Auch christliche Gemeinschaften beobachten ein Wiederaufleben des Stundengebets. "Ich weiss von Orten, wo es früher schon bestanden hat. Dort wird das Tagzeitengebet nun erneut eingeführt", bestätigt Schwester Ruth Knüssi den Trend. Die Stille habe wieder mehr Wert, meint die in der Leitung des Diakonieverbands Ländli tätige Schwester. "Heute steht das Dienen nicht mehr allein im Vordergrund", erklärt sie. "Uns ist genauso wichtig, einfach vor Gott zu sein. Es zählt nicht mehr nur das, was ich tue, sondern auch das, was ich bin."

Christliche Klostergemeinschaften übernahmen die jüdische Tradition eines festen Morgen-, Mittag- und Abendgebets. Die bekanntesten Teile des auf diese Weise entwickelten Stunden- oder Tagzeitengebets sind die morgendlichen Laudes ("Lobgesänge"), die Vesper (Abendgebet) und die Komplet ("Vollendung"), ein Nachtgebet. Dazu kommt die Matutin um Mitternacht und die Gebete zur 1., 3. und 6. Stunde, genannt Prim, Terz und Non.

Die alte Form scheint – entgegen dem Schluss der Tagung an der Universität Freiburg – wieder im Aufwärtstrend. Dieser Ansicht ist auch Roman Angst. Je weniger sich die Entfremdung von der Gemeinde aufhalten lasse, desto mehr müsse man solche Angebote machen, so Angst. "Liturgisches Gebet und Angebote der Stille wird es immer geben müssen", ist der Bahnhofseelsorger überzeugt.

Datum: 10.02.2003
Quelle: ideaSpektrum Schweiz

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