Weltanschauung und Reich Gottes

«Das Evangelium muss subversiv bleiben»

Der pr
Weltansicht
Loren Cunningham.
Bieler Theologe Walter Dürr. (Foto: Fritz Imhof)
Weltanschauung und Reich Gottes

omovierte Bieler Theologe Walter Dürr ist Mitbegründer der «Schule für biblisch-christliche Weltanschauung». Wie kann sich in der Postmoderne das Evangelium als wirksame Kraft in allen Lebensbereichen erweisen? So heisst eine der Grundfragen dieser Schule. Die damit verbundene Reich Gottes-Theologie vertiefte Dürr im Rahmen seiner Dissertation.

Magazin INSIST: Walter Dürr, was hat Sie dazu geführt, sich intensiv mit Weltanschauungen zu befassen?

Walter Dürr: Loren Cunningham, Pionier der Bewegung «Jugend mit einer Mission» (JMEM), sprach schon vor vielen Jahren darüber, dass der Glaube in alle Bereiche des Lebens hineinwirken solle. Dazu kam eine Bemerkung von Franky, dem Sohn des Kulturphilosophen Francis Schaeffer. Er sagte: «Es wird Zeit, dass wir unsere guten Leute nicht nur an die Bibelschule schicken, sondern in alle Gesellschaftsbereiche hinein.»

Dahinter steckt die Überzeugung: Der Glaube muss nicht nur in der Kirche, sondern im ganzen Leben wirksam sein. Wenn er nur für das Seelenheil da ist und nicht auch für das ganze Leben, kann er nicht die ganze Wahrheit sein. Wenn es denn stimmt, dass Gott der Schöpfer des ganzen Kosmos ist, kann er nicht nur auf den religiösen Bereich beschränkt werden. Gemäss einer biblischen Weltanschauung ist der Glaube für alle Lebensbereiche wichtig.

Als Mitarbeiter von JMEM habe ich dann mitgeholfen, die «Schule für biblisch-christliche Weltanschauung» aufzubauen, um diese Überzeugung umzusetzen. Wir wollten dazu beitragen, dass der Glaube reflektiert wird und die Glaubenden in die Lage versetzt werden, in allen Lebensbereichen Verantwortung zu übernehmen. Dieses Ziel habe ich später in meiner Doktorarbeit weiter verfolgt und vertieft.

Wie kam es zu Ihrer Doktorarbeit?

Als ich vollzeitlich angestellt wurde, riet mir mein damaliger Pfarrer, mich ständig weiterzubilden. So habe ich schon in den Jahren bei JMEM immer wieder Schulungskurse belegt und diese später mit einem Bachelor in Christian Ministries zusammengefasst.

Aufgrund meines wachsenden Interesses an weltanschaulichen Fragen war es nur noch ein kleiner Schritt zum Studium der Theologie und Philosophie in Fribourg. Ich wollte die verschiedenen Impulse aus den USA für unseren Kulturraum weiter bearbeiten und in der deutschsprachigen Theologie verorten, dies war mitverantwortlich für meine Doktorarbeit über die JAHU-Bewegung. Sie befasst sich mit der Frage, wie sich Gemeinschaften, Kirche und Gesellschaft entwickeln sollten, damit Reich Gottes-Kriterien darin zum Tragen kommen.

Wie definieren Sie eine «christliche Weltanschauung»?


Ich bin überzeugt: Es gibt «die» christliche Weltanschauung, doch sie ist nie in unserm Besitz, weil unsere Erkenntnis immer begrenzt ist. Allein Gott kennt sie, wir können uns nur an sie herantasten. Es gibt nicht einfach 17 Punkte, die man auswendig lernen kann. Vielmehr geht es um Werkzeuge, die uns helfen, die Wirklichkeit wahrzunehmen und zu gestalten.

Dabei bleiben wir Lernende und Entdeckende. Wir kennen zwar die Grundzüge einer biblisch-christlichen Weltanschauung. Ihre Grundlage ist die Bibel, das Wort Gottes, deren Aussagen wir in die heutige Zeit übersetzen und übertragen. Dabei gibt es Kernaussagen wie z.B. «Gott ist der Schöpfer des Universums», oder «Gott ist eine Person, die heute handelt». Eine biblisch-christliche Weltanschauung ist aber weniger auf Kernaussagen aufgebaut, sie wird durch Vergleiche deutlich. Was geschieht, wenn wir von einem Schöpfer ausgehen oder eben nicht? Wenn dieser Schöpfer nur am Anfang geschaffen hat und deshalb heute nicht mehr handelt? Haben wir es mit einem distanzierten Gott zu tun oder vielmehr mit einem liebenden Gott, der mit uns durch die Tiefen unserer Existenz – «durch den Dreck» – geht?

An unserer Schule formulieren wir die Reich Gottes-Lehre in einem Bild und sprechen dabei von der Länge, Breite und Tiefe des Reiches Gottes. Mit der Länge sprechen wir die Zeitachse an: Gott ist der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, also der Gott der Generationen. Er zeigt sich als menschenfreundlicher Gott, der bei den Menschen wohnen will.

Dieses Gottesbild bestimmt auch unser Menschenbild. Wenn wir von der «Breite» des Reiches Gottes sprechen, ist der ganze Raum der Wirklichkeit angesprochen: «Gott ist Herr über alle Lebensbereiche, nicht nur über den religiösen.» Was heisst das praktisch, wenn wir keinen Gottesstaat aufbauen wollen? Mit der Tiefe des Reiches Gottes ist die Versöhnung und Wiederherstellung aller Dinge angesprochen.

Zusammengefasst: Die biblisch-christliche Weltanschauung bezeugt, dass Jesus Christus der Herr des Kosmos ist und nicht der damalige Cäsar. Heute sind damit alle «Herren» dieser Welt gemeint – ob wirtschaftlicher oder politischer Art – welche im Moment die Macht ausüben. Ihnen gilt die Botschaft: «Ihr seid nicht das Letzte! Ihr alle steht unter einem Herrn, sein Name ist Jesus Christus.»

Dass «Jesus Herr ist» steht quer zur landläufigen Überzeugung, der Glaube sei Privatsache. Mit dieser «Irrlehre der Moderne» hätten die ersten Christen nicht als Märtyrer sterben müssen! Es ist eine historische Tatsache, dass für sie Jesus der «Kyrios» und damit als Herr für das gesamte Leben zuständig war. Dementsprechend war dem Cäsar nur zu geben, was zu ihm gehört. Diese Überzeugung war revolutionär. Die ersten Christen waren bereit, dafür zu sterben. Diesen Glauben gilt es zurückzugewinnen, zu leben, zu reflektieren und inkarnatorisch1 in diese Welt zu bringen.

Kann man in unserer postmodernen Zeit überhaupt noch eine Weltanschauung verteidigen?

Die Postmoderne tut uns einen unglaublich guten Dienst, indem sie uns hilft, die Kritik an der Moderne, die wir früher schon geübt hatten, schärfer und tiefer zu formulieren und die «Götzen der Moderne» zu entlarven. Sie unterstützt uns in der Einsicht, dass die Absoluta der Moderne gar nicht so absolut sind.

Doch die Postmoderne ist in ihren Antworten auf die Moderne nicht gleich überzeugend wie mit ihrer Kritik an ihr. Sie tendiert dazu, die alten Götzen der Moderne mit neuen Götzen zu vertauschen. Das Christentum hatte immer auch ein religionskritisches Potenzial; es kritisierte mit seinem Monotheismus alle andern damaligen «Götter». Wenn nun Richard Dawkins von uns fordert, einfach noch den letzten Gott abzuschaffen, um aufgeklärt und vernünftig zu werden, verkennt er diese religionskritische Dimension des Christentums.

Wie aber gehen wir mit dieser Kritik am Christentum um?

Indem wir zuerst einsehen: Kritik am Christentum tut uns gut. Sie war immer auch ein Feuer der Reinigung, weil sie uns auf Dinge hinweist, die tatsächlich hinterfragt werden müssen. Sie bringt uns weiter, wenn beide Seiten bereit sind, an einen Tisch zu sitzen und die eigenen Voraussetzungen offen zu legen.

Wer sagt, das Christentum sei falsch, muss diese Aussage begründen können. Das ist doch eine Einladung zu einem vernünftigen Gespräch über diese Begründungen. Wenn sie also den Dialog mit uns führen, tun die Kritiker dem Christentum einen guten Dienst. Wer aber das Christentum nur lächerlich macht, müsste selber zeigen können, dass seine Welt¬anschauung wirklich bessere Früchte hervorbringt.

Was sagen Sie zur Kritik, das Christentum habe in der Geschichte eine lange Blutspur hinterlassen?

Es gibt tatsächlich eine Blutspur. Christen haben Fehler gemacht, wie alle andern Menschen auch. Wir finden in der Geschichte der Kirche aber immer auch «subversive» Kräfte, die darauf hingewiesen haben, dass das jeweilige Fehlverhalten der Christen nicht den Absichten ihres Gründers entsprach. Wir glauben ja, dass unser Herr uns einen Auftrag hinterlassen hat, der uns auch in unserm Vorgehen verpflichtet. Ja, es gab fürchterliche Dinge wie z.B. die Kreuzzüge. Doch diese haben nie dem Mandat des Meisters entsprochen.

Daneben müssen wir allerdings auch festhalten, dass in der Realpolitik der europäischen Geschichte der Nationalismus viel prägender war als das Christentum. Wenn sich ein neuer «Cäsar» als Herr über alles aufspielte, hat das nie gute Früchte produziert. Es stellt sich deshalb die Frage nach dem Verhältnis zwischen Glaube und Politik.

Zur Zeit Jesu wurde die Frage, wie sich das Reich Gottes in Israel zum damaligen Imperium, dem Römischen Reich, verhalten solle, von Pharisäern, Essenern, Sadduzäern und Zeloten ganz unterschiedlich beantwortet. Die Lösungsansätze reichten vom Rückzug aus der Gesellschaft (Essener) auf der einen bis hin zum bewaffneten Kampf gegen die Römer (Zeloten) auf der anderen Seite.

In diese hochexplosive Situation hinein sagte Jesus: «Selig sind die Friedensstifter, denn sie werden Gottes Kinder heissen.» Er wandte sich damit sowohl gegen den Rückzug als auch gegen den bewaffneten Kampf. Mit der friedlichen Vermittlerschaft verwies er auf einen mittleren Weg, mit dem das System von innen her «subversiv» erneuert werden sollte. Mit dieser Methode haben die frühen Christen das römische Reich in nur dreihundert Jahren «reformiert».

Wo ist der Kulturphilosoph Francis Schaeffer nach wie vor aktuell? Wo braucht er Ergänzung?

Francis Schaeffer hat einer ganzen Generation eine intellektuelle Tür geöffnet. Er hat die damaligen frommen Denkverbote eingerissen und den Evangelikalen «erlaubt», in alle Wissensbereiche hineinzugehen. Er hat einer Generation von Theologen neue Bereiche eröffnet. Das war spannend! Schaeffer musste sich aber gegen ein hyperkonservatives Milieu durchsetzen, das ihm auch Grenzen setzte.

So wie mit Luther die Reformation nicht zu Ende war, so müssen auch Schaeffers Antworten auf die Fragen seiner Zeit für uns heute weiter entwickelt werden. Schaeffer lebte in der Hochblüte der Moderne und im Kalten Krieg. Heute stehen wir in einem Übergang zur Postmoderne. Darauf kann uns Schaeffer wenig Antworten geben.

Wo liegen denn die heutigen Herausforderungen?

Das Christentum muss heute dem Vorwurf begegnen, nur Teil eines Machtspiels zu sein. Wir müssen also deutlich machen, dass der Meister selbst nicht Macht ausgeübt, sondern die Ohnmacht des Glaubens durch seinen Tod und seine Hingabe am Kreuz gelebt hat. Er hat «subversive Macht» ausgeübt, die sich weder durch Waffen, wirtschaftliche Möglichkeiten noch durch begriffliche, apologetische Mittel durchsetzen muss.

Die Kirche darf nicht die Leitinstanz sein, die sich über alle andern Bereiche erhebt. Der Glaube muss sein ideologiekritisches Potenzial einbringen. Der verabsolutierte Relativismus – Papst Benedikt XVI. hat dies als «Diktatur des Relativismus» bezeichnet – muss genauso hinterfragt werden wie die neuen Absolutismen, die sich als Alternative anbieten, wie zum Beispiel der Islam oder der Konsumismus. Jesus hat sich gegen jedes Imperium gewandt!

Europa ist geistesgeschichtlich und politisch in vielem anders geprägt als die USA. Inwiefern liefern Autoren aus den USA kompatible Antworten für Europa? Wo müssen sie ergänzt oder korrigiert werden?

Ein Freund sagte mir vor Jahren: «Komm mir nicht mit Rezepten aus den USA. Diese kann ich mir selbst aus dem Internet herunterladen. Was mich interessiert ist das, was ihr davon kompostiert.» Entscheidend ist immer das, was mittelfristig Leben fördert.

Wir können Inspiration und Motivation von unseren Geschwistern aus dem angelsächsischen Raum erhalten, doch dann muss in einem zweiten Schritt die Arbeit der Umsetzung in unsere Kultur und unseren Sprachraum geschehen, sonst bleibt vieles nur heisse Luft. Dabei gilt es zwei Gefahren zu verhindern. Einerseits Überzeugungen wie «die deutsche Theologie braucht keinen internationalen Dialog, wir haben ja alles». Auf der anderen Seite das unreflektierte Übertragen aller Rezepte, die anderswo zu Wachstum und Erfolg geführt haben.

Wie können Christen ihre Werte und Weltanschauung in Wirtschaft, Schule und Politik tragen?

Zuallererst einmal mit Fachkompetenz und harter Arbeit. Niemand hat auf uns gewartet, und in der Postmoderne will niemand mehr von oben herab «belehrt» werden. Wer aber mit dienender Leistung überzeugt, auf den wird man auch in anderen Belangen hören wollen.

Es genügt aber nicht, dass wir nur unseren Fachbereich meistern. Wir müssen die biblisch-christliche Weltanschauung gründlich erarbeiten, bevor wir inmitten der säkularen oder esoterischen Weltanschauungen unseren Beitrag konstruktiv und alternativ einbringen können. Es geht also um Fachkompetenz, Weltanschauungskompetenz, und – last but not least – Vermittlungskompetenz.

1 inkarnatorisch: wörtlich «Fleisch werdend»; der Glaube soll konkrete Gestalt und Struktur in unserer Welt annehmen.

Pfr. Dr. theol. Walter Dürr, 52, ist verheiratet mit Kathrin;
gemeinsam haben sie drei Söhne. Sein Werdegang in Kürze: 1974-78 Ausbildung als Elektronik-Mechaniker. Ab 1980 Arbeit in der kirchlichen Jugendarbeit, parallel dazu Weiterbildung als Werkstudent an der Pacific & Asia Christian University, Kona, Hawaii (USA). Ab 1984 Aufbau eines Arbeitszweiges von Jugend mit einer Mission in der deutschen Schweiz. 1985 Abschluss eines Bachelor of Arts (BA) in Christian Ministries. 1986-92 Studium der Theologie und Philosophie (Nebenfach) an der Universität Fribourg. Ab 1994 Leitung der landeskirchlichen Ge¬meinschaft Jahu in Biel. Ab 2000 Dissertation bei Prof. Leo Karrer an der Theologischen Fakultät der Universität Fribourg.


Webseite:
www.jahu.info

 

Datum: 26.04.2011
Autor: Fritz Imhof
Quelle: Magazin INSIST

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