Was der Vernunft ohne Bezug zum Glauben fehlt

Die Menschen in Ostasien „beten, opfern, befragen Orakel, befolgen Riten, weil dies kulturell vorgegeben ist und als lebensdienlich angesehen wird“.
Jürgen Habermas
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Was motiviert zum Kampf für Gerechtigkeit?

Wann trägt Religion zum Zusammenleben der Menschen Gutes bei? Zu dieser Frage veröffentlicht die Neue Zürcher Zeitung seit dem letzten März Beiträge. Am Samstag erschienen eine ostasiatische Perspektive und ein Plädoyer von Jürgen Habermas für gemeinsame Lernprozesse von Vernunft und Religion.

Seit dem 11. September 2001 nehmen auch säkular eingestellte westliche Menschen der Erkenntnis zur Kenntnis, dass Religion in der Spät-Moderne nicht verschwindet. Angesichts heisserer religiöser Reibungen und Konflikte lässt die Neue Zürcher Zeitung seit März 2006 Fachleute zum Thema schreiben: Was ist eine gute Religion?
Am Samstag relativierte Jochen Teuffel, lutherischer Theologieprofessor in Hongkong, den europäischen Religionsbegriff und stellte der kopflastigen Religion eine schlechte Prognose. Weder das Chinesische noch das Japanische hätten einen Begriff, „der das ausdrückt, was Europäer unter Religion verstehen“. Die Religionsgemeinschaften dort lehrten geregelte Lebensführung (Diätetik) und böten Rituale an, schreibt Teuffel. Die Menschen in Ostasien „beten, opfern, befragen Orakel, befolgen Riten, weil dies kulturell vorgegeben ist und als lebensdienlich angesehen wird“.

Mit Religion das Schicksal verbessern

Dabei sind Geister sehr wichtig, gerade bei Krankheit. „Um solch eine Bedrohung abzuwenden, ist die richtige religiöse Diätetik gefordert, wie zum Beispiel die Anrufung einer Gottheit, Fasten“, der Einsatz eines Unheil abwendenden Zaubermittels oder ein Sündenbekenntnis. Was funktioniere, werde zur Nachahmung empfohlen, notiert Teuffel und illustriert damit einen ganz anderen, nutzungsorientierten Zugang zu Religiosität. In Europa ist laut dem Theologen „viel von Religion die Rede, ohne dass Menschen religiös tätig wären“. Wenn die Religion sich im Denken, in „Sinnstiftung“ und das Bewältigen von Grenzsituationen erschöpfe, genüge das nicht. „Religion bleibt so zwangsläufig auf das Ästhetische reduziert. Sie hat, da eine religiöse Diätetik nicht greifen kann, auf Dauer kaum Bestandsaussichten in Europa.“

Totenfeier ohne Pfarrer für Max Frisch – in der Kirche

Grundsätzlicher setzt sich der deutsche Philosoph Jürgen Habermas mit Religion in der von der Aufklärung bestimmten europäischen Kultur auseinander. Er regt eine selbstkritische Auseinandersetzung der säkularen Vernunft mit Glaubensüberzeugungen an. Eingangs verweist Habermas auf die Totenfeier für den Schriftsteller Max Frisch, der jedes Glaubensbekenntnis verweigert, aber doch eine Trauerfeier für sich in der Zürcher Kirche St. Peter gewünscht hatte, allerdings ohne Amen. „Kein Priester, kein Segen“, erinnert sich Habermas. „Die Trauergemeinde bestand aus Intellektuellen, von denen die meisten mit Religion und Kirche nicht viel im Sinn hatten.“

Gegenseitige Anerkennung nötig

Die säkulare Vernunft sei über das Dunkle „ihres nur ihres nur scheinbar geklärten Verhältnisses zur Religion beunruhigt“, schreibt Habermas. Die Weltreligionen ragten „als das sperrigste Element aus der Vergangenheit in diese Moderne hinein“. Für das Gespräch zwischen Religionsgemeinschaften und säkularen Gruppen müssten zwei Voraussetzungen erfüllt sein: „Die religiöse Seite muss die Autorität der ‚natürlichen’ Vernunft, also die fehlbaren Ergebnisse der institutionalisierten Wissenschaften und die Grundsätze eines universalistischen Egalitarismus in Recht und Moral, anerkennen. Umgekehrt darf sich die säkulare Vernunft nicht zur Richterin über Glaubenswahrheiten aufwerfen, auch wenn sie im Ergebnis nur das, was sie in ihre eigenen, im Prinzip allgemein zugänglichen Diskurse übersetzen kann, als vernünftig akzeptiert. Sowenig die eine Voraussetzung aus theologischer Sicht trivial ist, so wenig ist es die andere aus philosophischer Sicht.“

Auf einem Auge blind

In der Moderne ist die „von Augustin bis Thomas hergestellte Synthese aus Glauben und Wissen zerbrochen. Zwar hat sich die moderne Philosophie … das griechische Erbe kritisch angeeignet, sich aber gleichzeitig vom jüdisch-christlichen Heilswissen abgestossen. Während sie die Metaphysik zu ihrer eigenen Entstehungsgeschichte rechnet, verhält sie sich zu Offenbarung und Religion wie zu einem Fremden, ihr Äusseren. Mit dieser Abschiebung bleibt die Religion freilich auf eine andere Weise gegenwärtig als die verabschiedete Metaphysik.“

Habermas stellt Jerusalem und Athen, die jüdisch-christliche religiöse Überlieferung und die griechische philosophische Tradition, nebeneinander: „Wenn aber religiöse und metaphysische Weltbilder ähnliche Lernprozesse in Gang gesetzt haben, gehören beide Modi, Glauben und Wissen, mit ihren in Jerusalem und Athen basierten Überlieferungen zur Entstehungsgeschichte der säkularen Vernunft, in deren Medium sich heute die Söhne und Töchter der Moderne über sich und ihre Stellung in der Welt verständigen.“ Und er fordert, dass sich die Vernunft weiter mit Religion beschäftigt – gerade wenn diese etwas Dunkles aufweist. Er wendet sich sowohl gegen Hegel, der die Religion der Philosophie ein- und unterordnete, als auch gegen die „die bornierte, über sich selbst unaufgeklärte Aufklärung, die der Religion jeden vernünftigen Gehalt abstreitet“. Zum Sinn der Säkularisierung formuliert Habermas, sie habe „weniger die Funktion eines Filters, der Traditionsgehalte ausscheidet, als die eines Transformators, der den Strom der Tradition umwandelt“.

Was der modernen Vernunft abgeht

Der 77-jährige Denker möchte mit seinen Überlegungen „die moderne Vernunft gegen den Defaitismus, der in ihr selber brütet, mobilisieren“. Ihm geben „Tendenzen einer entgleisenden Modernisierung“ zu denken, mit der ein rein säkulares Denken ohne religiöse Bezüge offenbar nicht zu Rande kommt. „Der Entschluss zum solidarischen Handeln im Anblick von Gefahren, die nur durch kollektive Anstrengungen gebannt werden können, ist nicht nur eine Frage der Einsicht.“ Angesichts einer „spröden Vernunftmoral“ (Habermas über Kant) werde einsichtig, „warum der aufgeklärten Vernunft die religiös konservierten Bilder vom sittlichen Ganzen - vom Reich Gottes auf Erden - als kollektiv verbindliche Ideale entgleiten müssen. Gleichwohl verfehlt die praktische Vernunft ihre eigene Bestimmung, wenn sie nicht mehr die Kraft hat, in profanen Gemütern ein Bewusstsein für die weltweit verletzte Solidarität, ein Bewusstsein von dem, was fehlt, von dem, was zum Himmel schreit, zu wecken und wachzuhalten.“ So diagnostiziert Habermas das Versagen der säkularen Vernunft angesichts der enormen Menschheitsprobleme.

In der Folge kommt der Philosoph auf das zu sprechen, was er „unerwartete spirituelle Erneuerung“ und die „beunruhigende politische Rolle religiöser Gemeinschaften weltweit“ nennt: „Abgesehen vom Hindu-Nationalismus sind der Islam und das Christentum die Hauptquellen dieser Beunruhigung… die katholische Weltkirche und vor allem die dezentralisiert vernetzten und weltweit operierenden Bewegungen der Evangelikalen und der Muslime.“

Datum: 13.02.2007
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch

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