Nicht so Claude-Alain Humbert. Er hat sich vorgenommen, Schneisen zu schlagen in den Dschungel. Mit immensem persönlichem Aufwand hat er im Lauf von sieben Jahren Kurzportraits von 370 Kirchen, religiösen und spirituellen Gruppierungen, Zentren und weltanschaulichen Bewegungen erstellt. Herausgebracht hat das Nachschlagewerk von stolzen 606 Seiten schliesslich, nach längerer Sponsorensuche des Autors, der Traditionsverlag Orell Füssli. Das Buch kann als Sammlung von Reiseberichten gelesen werden – Reisen zu „spirituellen Orten“, wie Humbert sagt, der bereits früher Artikel über religiöse Gruppen für Lexika und Nachschlagewerke verfasst hat. Er bemüht sich, unvoreingenommen auf die Gemeinschaften einzugehen und sachlich und unpolemisch zu schreiben, mit „einfühlender Distanz“, wie der Sektenkundler Georg Schmid im Vorwort kommentiert. Nach Besuch und Recherche hat Humbert den Gemeinschaften jeweils Gelegenheit geboten, auf sein Portrait mit Änderungsvorschlagen zu reagieren. Manche Sätze geben ihr (oft problematisches, sektiererisches) Selbstverständnis ungebrochen wieder, was das Buch zugleich farbig und seine Lektüre anspruchsvoller macht. Den evangelischen Landes- und Freikirchen und in Zürich beheimateten Werken, Vereinen und Initiativen (MEOS, ÜMG, Pfarrer Sieber, aber auch Diakonissen Neumünster, SEA, City-Kirche, Polizeivereinigung…) widmet Humbert ein knappes Viertel seines Buchs. Die Ziele von „Campus für Christus“ erfasst er mit den Sätzen: „Das Werk möchte dazu beitragen, dass der Missionsauftrag Jesu Christi erfüllt wird. In jedem Dorf sollen lebendige Zellen entstehen und von der Schweiz aus geistliche Ströme ins Ausland fliessen.“ Der unauffälligen Brüderbewegung, ihren Gemeinden und Abspaltungen widmet Humbert nicht weniger als fünfzehn Seiten. Dagegen gewinnt das Christliche Zentrum Buchegg, laut Humbert mit 1400 Mitgliedern eine der grössten Pfingstgemeinden Europas, überhaupt keine Konturen; die Ausführungen über die Geschichte und Spiritualität der Pfingstbewegung dominieren. Bei der Jugendkirche ICF geht Humbert auf die G-12-Jüngerschaftsgruppen ein und zitiert die Aussage eines Leiters, Überläufer aus anderen Gemeinden würden nicht gerne gesehen, da sie „meistens Probleme verursachen“. Die evangelisch-reformierte Landeskirche, die Zürich seit Zwingli und Bullinger das Gepräge gab und heute auf dem Stadtgebiet in 33 Gemeinden verfasst ist, wird auf bloss drei Seiten abgehandelt – gleich wie Lutheraner, Anglikaner und Waldenser! Dass bei der Bibelauslegung „jeder Gemeindepfarrer ‚sein eigener Papst’“ sei, ist mindestens ungenau. Vom spirituellen Leben der Reformierten ist nicht die Rede: ein Mangel des Buchs, den Humbert im Nachhinein bedauert. In der Darstellung der grossen Religionsgemeinschaften reicht Humberts Religionsführer als „Momentaufnahme“ nicht an andere Werke heran, die von Wissenschaftlern über Jahrzehnte perfektioniert wurden. Bei der Fülle der Informationen, die der Autor verwertet, und den ausgreifenden geschichtlichen Rückblenden kann es nicht ausbleiben, dass relevante Einzelheiten fehlen. So wäre bei der römisch-katholischen Kirche (ihre Orden werden auf über 40 Seiten vorgestellt!) zu sagen, dass in Zürich bald 500 Jahre nach Zwingli ein Weihbischof wirkt. Die duale Struktur der Kirche – hier der Bischof als Träger geistlicher Vollmacht, da die landeskirchliche Körperschaft, die die Steuern erhält – wird nicht erwähnt. Die Stärke von Humberts Werk liegt anderseits darin, dass er Angaben zu nicht weniger als 13 fremdsprachigen katholischen Gottesdiensten macht (Versammlungszeiten, Kontaktpersonen, Literatur und Web-Adressen) sowie 24 katholische Vereinigungen, papsttreue wie romkritische, vorstellt. Das Selbstverständnis der Muslime charakterisiert Humbert u.a. mit den folgenden Sätzen: „Der Islam wird von den Muslimen als die älteste und universalste Religion angesehen. Da im weitesten Sinne ein Muslim jemand ist, der sich bewusst und freiwillig dem Willen Gottes hingibt, waren nach dem Verständnis der Muslime auch alle vorhergehenden Propheten Muslime (so auch Jesus, Moses, Abraham sowie Adam, der erste Mensch auf Erden), da sie sich alle dem Willen Gottes hingaben…“ Das Verhältnis der Muslime zu den älteren Religionen wird, wie der Verfasser richtig anmerkt, auch von ihrer Meinung bestimmt, Juden und Christen hätten die Heiligen Schriften verfälscht. Im Islam-Kapitel werden nicht nur die sunnitischen Gruppen, sondern auch das schiitische Ahl-Bayt-Zentrum, die Ahmadiyya-Bewegung, die Aleviten und die Bahai vorgestellt. Der „Verein der konvertierten Muslime in der Schweiz“, eine Anzahl von Türken gegründeter Vereine und Sufi-Gruppen sind erwähnt. Laut Humbert werden in Zürich ein Dutzend Räumlichkeiten als Moscheen genutzt. Das Mormonentum ist ein Fall für sich. Humbert zeigt, ohne zu kommentieren, das dem Christentum fremde Gottesbild auf: „Gott war einstmals wie der Mensch, und der Mensch kann durch kontinuierliche Weiterentwicklung werden wie Gott.“ Ausführlicher als die Modereligion Buddhismus (25 Seiten) werden die „Vereinigungen mit Herkunft aus dem Hinduismus“, darunter boomende Guru-Bewegungen, beschrieben. Im Artikel über die Scientology geht Humbert auf die kostspieligen Kurse (Auditing) ein. Fehler im Detail (die Schriftenmission der Zeugen Jehovas wird von der ‚Tract Society’ zur ‚Track Society’) werden für den interessierten Leser den Wert des Buchs nicht schmälern, umso mehr als es zeigt, wie die Selbstherrlichkeit der Sektenführer oft genug zum Abgang vieler Anhänger führte. Claude-Alain Humbert:„Spirituelle Orte“
Wenig über die Reformierten und die Pfingstgemeinde am Bucheggplatz
Fülle von Informationen – in einer Momentaufnahme
32 Seiten über Islam
Sekten, Esoteriker, Freidenker und östliche Religionen
Webseite: www.religionenzuerich.ch
Religionsführer Zürich
370 Kirchen, religiös-spirituelle Gruppierungen, Zentren und weltanschauliche Bewegungen der Stadt Zürich
Orell Füssli Verlag, Zürich 2004
ISBN 3-280-05086-3
Datum: 12.02.2005
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch