„Calvin fasziniert mich“

Eva-Maria Faber
Pastor der Genfer, Lehrer der Völker: Jean Calvin. (H.H. Meeter Center for Calvin Studies, Grand Rapids, MI.)
Eva-Maria Faber sprach im November an einer Tagung in Fribourg über Calvins Kirchen- und Amtsverständnis.
Museum der Reformation.

Der Genfer Reformator, der vor 500 Jahren geboren wurde, hat die Zuwendung Gottes zu den Menschen betont. Die katholische Theologin Eva-Maria Faber, Rektorin der Theologischen Hochschule Chur, weist im Gespräch mit Livenet auf seine facettenreiche Persönlichkeit hin.

Livenet: Frau Faber, Calvin sprach die Christen als Erwählte Gottes an. Wie bringen Sie diesen Gedanken heute zum Ausdruck?
Eva-Maria Faber:
Dahinter steht, dass Gott sich den Menschen zuwendet. Ich würde formulieren, dass Gott sich zu den Menschen hingezogen fühlt und mit ihnen Gemeinschaft haben möchte. Er erwählt sie, das heisst: Er spricht ihnen zu, dass sie kostbare Geschöpfe sind, und möchte sie in sein Leben hineinziehen. Er passt sich ihnen an, um ihnen nahezukommen, spricht mit ihnen, wie man mit Kindern spricht.

Heute stellen sich viele Gott als Kraft oder als Schicksal vor. Doch er ist eine Person – dies kommt im Erwählungsgedanken zum Tragen. Gott ist zwar keine endliche Person, die wir abgegrenzt denken müssten. Gott handelt aber aus personaler Freiheit heraus – und äussert diese Freiheit darin, dass er sagt: Ich will Gemeinschaft mit euch haben. Daraus wächst Beziehung und personale Liebe. Mit Gott als Kraft und Energie ist das nicht möglich.

Calvin gilt als strenger Lehrer der Kirche. Welche seiner Schriften lesen Sie am liebsten?
Das wechselt durchaus. Der systematische Denker, den man in der ‚Institutio’* wahrnehmen kann, fasziniert mich. An dieser ganz wichtigen Schrift kommt man nicht vorbei. Aber interessant ist dann auch, den Bibelkommentator und den Prediger zu lesen. Da entdecke ich Calvins Phantasie und Kreativität. Sein Bemühen, den Menschen etwas mitzugeben, kommt in jenen Schriften viel stärker zum Ausdruck.

Calvin war ein frühreifer Denker. Findet man in seinen späten Schriften Altersmilde und -weisheit?
Calvin hat beide Seiten. Er ist sicher der strenge und manchmal harte Reformator gewesen, der für bestimmte Positionen gekämpft hat. Doch das Kriterium der angemessenen guten Amtsführung des Kirchenleiters ist für ihn Milde, Geduld und Mässigung. Vor allem soll er die Menschen ermutigen und ihnen Trost zusprechen. Das war für Calvin viel wichtiger als die strenge Seite.

…auf der Grundlage, dass sie von Gott erwählt sind.
Ja. Der Kern ist tatsächlich die Erwählungslehre und nicht – wie man meistens sagt – die Prädestinationslehre, in der neben die Erwählung gleich die Verwerfung tritt. Der ursprüngliche, für Calvin bestimmende Gedanke ist die Erwählung; auf diesem Grund kann er den Menschen Trost zusprechen. Er hat nicht nur seine Bürger von Genf im Blick, sondern auch die Reformierten in Frankreich, die verfolgt werden. Ihnen soll die Gewissheit zugesprochen werden, dass sie in Gottes Händen geborgen sind, weil er, der sie erwählt hat, sie nicht im Stich lassen wird.

Das ist die Grundmotivation in der Erwählungslehre. Die Kehrseite der Verwerfung kommt in den Predigten kaum vor, sondern wird in der ‚Institutio’ den Theologen dargelegt. Calvin findet sie in der Schrift und auch in der Tradition. Aber sein Herz schlägt für den Erwählungsglauben.

Erwählung zum Leben, das der Herrlichkeit und Ehre Gottes dient.
Ja, das ist etwas ganz Wichtiges. Ich finde es auch für uns heute heilsam, dass man nicht nur fragt: Was tut uns jetzt gut? sondern auch die andere Perspektive wieder wahrnimmt. Die Schöpfung ist nach Calvin dafür da, Gott zu loben. Das ist in seinem Psalmenkommentar und anderen Büchern ein ganz wichtiges Motiv.

Die Menschen sollen alle Bereiche des Lebens zur Ehre Gottes gestalten und ordnen. Trägt dieses Verlangen zur Strenge bei, die man dem Calvinismus zuschreibt?
Bei Calvin ist noch etwas anderes wichtig, was auch beim Erwählungsglauben eine Rolle spielt: Er lebt in einer Zeit der Unsicherheit und der Umbrüche. Das Lebensgefühl seiner Epoche ist davon bestimmt (vgl. Luthers Lied ‚Ein feste Burg ist unser Gott’). Die Welt ist aus den Fugen geraten. Die blutige Verfolgung der Reformierten in seiner französischen Heimat geht Calvin zu Herzen. Da kommt die Frage auf, woran wir uns halten können.

Deswegen ist wichtig: Das Heil, das von Gott her kommt, ist von Ewigkeit her bestimmt und kommt nicht sozusagen per Zufall zu uns. Es gründet in Gottes Ewigkeit. Dann geht es darum, diese Ordnung Gottes zu ergründen und sich in sie einzufügen. Zu dieser Ordnung gehört, dass wir Gott loben, also das tun, wozu wir geschaffen sind, das Ziel erfüllen, was uns gegeben worden ist. Calvin fragt nicht nur, was wir sind, sondern vor allem, wozu wir geschaffen worden sind.

Der US-Gelehrte William J. Bouwsma setzt in seinem Buch über Calvin** bei dessen Angst an.
Ja, aber er übertreibt dabei meines Erachtens ein wenig. Calvin war gewiss sensibel für das Abgründige, das er in den Zeitläuften empfand. Aber es gibt auch den positiven Calvin, der die Schönheit der Schöpfung als Wunderwerk staunend wahrnimmt und sich an ihr freuen kann – bevor er von Unordnung und Sünde spricht. Im Kommentar zu 1. Mose distanziert er sich von den Kirchenvätern, die Noahs Betrunkenheit mit seiner Unerfahrenheit entschuldigen wollten. Calvin schreibt, er könne nicht glauben, dass man so lange ein so köstliches Gewächs verachtet habe. Er hat das Leben auch genossen.

Die Grenze zwischen Frankreich und der Schweiz war noch nicht so alt. Kann man sagen, dass Calvin Franzose blieb?
Er blieb jedenfalls seinen verfolgten französischen Mitglaubenden sehr verbunden. Ihre Situation war ihm ständig vor Augen, wenn er in Genf in geordneten Verhältnissen lebte. Mit der Gründung der Académie, der Predigerschule, schuf er die Grundlage, Frankreich mit evangelischer Verkündigung zu durchdringen. Er trug Sorge dafür, dass die reformierten Kirchen (auch in den Niederlanden und Osteuropa) mit gesunder Lehre stabilisiert werden konnten.

Calvin für heute: Was sagt er uns, wo bringt er uns als Christen weiter?
Ich bin fasziniert von Calvin, weil ich ihn entdeckt habe als im positiven Sinn ernsthaften, tiefschürfenden Theologen. Wir sind herausgefordert, auf Fragen des Glaubens ganz solide Antworten zu geben. Dies scheint mir wichtig in einer Zeit, in der wir meinen, wir könnten uns die Dinge pragmatisch hinbiegen. Bei Calvin merkt man, dass er sehr sorgfältig geforscht und studiert und um Antworten gerungen hat.

Seine Ausrichtung auf die Ehre Gottes tut uns heute gut. Er hilft uns, von einer selbstbezogenen Frömmigkeit wegzukommen und staunend und lobend Christen zu sein.

Wie schätzen Sie seine ökumenischen Qualitäten ein?
In seiner Zeit verfestigte sich die Kirchenspaltung. Doch er war sehr um die Einheit der Kirche bemüht. Im reformierten Bereich tat er alles für die Einigung in Lehrfragen und gegenseitige Anerkennung (Zürich und Genf). Heute gibt es meines Erachtens auch Verständigungsmöglichkeiten mit der katholischen Theologie und Kirche, allein schon deswegen, weil Calvin sich sehr mit der Tradition beschäftigte. Zum Beispiel Bernhard von Clairvaux kennt er sehr gut. Er hat mit dieser Tradition gelebt. Wenn wir uns heute auf sie besinnen, kann das zur Verständigung beitragen.

Dr. theol. Eva-Maria Faber (*1964) ist Rektorin der Theologischen Hochschule Chur. Die Professorin für Dogmatik und Fundamentaltheologie hat 1999 unter dem Titel „Symphonie von Gott und Mensch“ ein Buch über Calvins Theologie veröffentlicht.

* Institutio – Unterricht in der christlichen Religion. Das dogmatische Hauptwerk von Jean Calvin ist ein Klassiker evangelischer Theologie.
** William J. Bouwsma: John Calvin, A Sixteenth Century Portrait, Oxford University Press, 1988

Datum: 05.01.2009
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch

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