Theologe Urs Baumann

Sinn der christlichen Religion aufzeigen

Der Schweizer Theologe Urs Baumann fordert eine modernere Sprache in den Kirchen. Die christlichen Kirchen würden vor der schwierigen Aufgabe stehen, neu einsichtig zu machen, was Christsein eigentlich bedeute.
Prof. Dr. Urs Baumann
Gott
Wo

Der Professor für Theologie an der Universität Tübingen, Urs Baumann, beschäftigt sich in seinen Forschungen mit der religiösen Situation im Umbruch, ihren Krisen und Chancen. Im Interview äussert sich der aus Zürich stammende Schweizer über die Zukunft des Christentums und die Herausforderungen an die Theologie.

Priska Sauer-Longinotti: Unter den heutigen Christen kursieren oft recht diffuse Glaubensvorstellungen.
Urs Baumann: Viele Christen glauben inzwischen auch an die Wirksamkeit von Steinen oder an die Wiedergeburt. Manche verstehen sogar zentrale Inhalte des Christentums nicht mehr. Sie fragen sich zum Beispiel, wie sie sich Gott vorstellen und ihn als DU ansprechen können. Sie haben eher das Bild von einer anonymen Universalkraft, die alles lenkt, oder von einem Lebensimpuls. Wenn Gott so offen definiert wird, gibt es nach Umfragen selbst in den neuen Bundesländern plötzlich keine Atheisten mehr.

Sind Menschen heute weniger gläubig als noch vor Jahrhunderten?
Sie sind nicht mehr und nicht weniger gläubig als früher. Zu jeder Zeit haben sich Christen ihren eigenen Reim auf den Glauben gemacht. Aber früher war der Einzelne viel mehr Teil einer Familie oder einer Gemeinde. Eingebunden in diese Solidarität dachte wohl mancher, ich verstehe das mit der Auferstehung oder der Gottessohnschaft zwar nicht, aber wenn das alle glauben, wird es wohl stimmen. Heute glauben Menschen nicht einfach nur einer Autorität, sondern wollen selbst von etwas überzeugt sein. Sie machen sich ein Stück weit zum Massstab dessen, was sie für wahr halten, wohlwissend, dass sie manches allein nicht beurteilen können.

Jedes Jahr beklagen die beiden grossen Kirchen einen Verlust an Mitgliedern. Ist das Christentum eine Auslaufreligion?
Die Gläubigen laufen deswegen davon, weil ihnen Religion, wie sie die Kirchen präsentieren, nicht mehr plausibel erscheint. Sie fühlen sich nicht angesprochen und können mit manchen Glaubenssätzen nichts mehr anfangen. Die Sache, um die es der alten Kirche in ihren Bekenntnissen von Nizäa und Konstantinopel ging, ist ohne weit reichende theologische Studien kaum mehr verstehbar. Das liegt vor allem an der Veränderung der Sprache aber auch der Weltsicht. Das blosse Festhalten an den dogmatischen Formeln garantiert also nicht automatisch den rechten Glauben. Wer gegen seine persönliche Überzeugung Dinge für wahr hält, nur weil sie von ihm erwartet werden, betrügt sich selbst und ist in Wirklichkeit nicht gläubig.

Das Problem in der Theologie ist, dass hier sehr oft mit Begriffssystemen gearbeitet wird. Statt hinter die Kulissen zu sehen, wird einfach noch ein Begriff darauf gestülpt. So entsteht ein immer komplexeres, anspruchsvolleres Gedankengebäude. Viele Nicht-Theologen sagen, wenn das so kompliziert ist, kann doch was nicht stimmen. Wenn sie die Spitzfindigkeiten hören, mit denen theologisch die Auferstehung erklärt wird, kommt der Verdacht auf, dass da gar nichts dahinter steht. Die Gefahr ist, dass sie schliesslich die gesamte christliche Lehre für absurd halten.

Was bereitet zum Beispiel Probleme?
Wichtige theologische Begriffe wie Wesen, Substanz, Gnade, Himmel und Hölle sind fremd geworden oder haben eine andere Bedeutung. Unser Verständnis davon entspricht kaum mehr dem ursprünglichen Sprachgebrauch des Evangeliums. Zum Beispiel das Wort Vater. Zur Zeit Jesu war der Vater eine autoritäre Gestalt, und der Sohn schuldete ihm unbedingten Gehorsam.

Wir erziehen aber unsere Kinder dazu, selbstständige Menschen zu werden. Sie sollen nicht alles blindlings tun, was Eltern ihnen sagen, sondern ihren eigenen Weg gehen. Der Vater ist nicht einfach die autoritäre Gestalt, die die Familie kommandiert. Für viele Menschen stellt der Vater sogar, überspitzt gesagt, eine negativ besetzte Person dar, die nie da ist, wenn sie gebraucht wird und immer dann auftritt, wenn es unpassend ist. Solch eine Erfahrung auf das Gottesverhältnis zu übertragen wirkt verheerend.

Braucht die Kirche eine Übersetzung der alten Begriffe, so dass sie für Nicht-Theologen verständlich werden?
Es genügt nicht, die alten Bekenntnisformeln zu wiederholen und zu kommentieren, so wichtig dies ist. Die christlichen Kirchen stehen vor der schwierigen Aufgabe, neu einsichtig zu machen, was Christsein eigentlich bedeutet. Bekenntnistexte müssen so formuliert sein, dass sich der Christ mit seinem persönlichen Credo auch darin aufgehoben fühlt, und nicht etwas anderes denkt als er sagt.

Im Neuen Testament wurde einfach die Umgangssprache verwendet. In dieser Unmittelbarkeit war die Sache Jesu den damaligen Zeitgenossen verständlich. Auch heute muss eine zeitgemässe theologische Sprache ohne Schnörkel und Umwege benutzt werden. Wenn Sie ein neues Handy kaufen und es gibt dazu nur eine chinesische Anleitung, kaufen Sie sich lieber ein anderes Mobiltelefon. Also sollten wir Theologen nicht chinesisch reden, sondern deutsch und deutlich. Das gilt natürlich noch viel mehr für offizielle kirchliche Instanzen.

Muss die Kirche weg von alten Glaubensbekenntnissen?
Die heutige Theologensprache ist immer noch weitgehend geprägt durch die griechische und mittelalterliche Philosophie. Jedem Theologen ist es selbstverständlich zuzumuten, dass er sich mit diesen alten Texten auseinander setzt. Wichtig ist dabei freilich, den Inhalt zu verstehen, ohne die Formeln einfach blind zu reproduzieren.

Es wäre von grossem Wert, wenn die Christenheit eine gemeinsame Sammlung von Bekenntnistexten für unterschiedlichste Gelegenheiten besässe, beispielsweise zur Trauung, zu wichtigen Festtagen oder zur Beerdigung. Sie könnten als autorisierte Glaubensbekenntnisse ähnlich wie die Psalmen in verschiedenen Lebenslagen gesprochen werden. Dabei sollten sorgfältig ausgewählte Texte aus der Antike ebenso Eingang finden wie neu verfasste. Ich denke aber, es wird nie gelingen, eine Kommission einzusetzen, die erfolgreich ein vollkommen neues Glaubensbekenntnis der Christenheit zu formulieren vermöchte.

Manche Kirchenvertreter fürchten in einer moderneren theologischen Sprache eine Anbiederung an den Zeitgeist.

Ich meine natürlich nicht, man müsse um jeden Preis die Marotten der jeweiligen Mode mitmachen und ihnen ein religiöses Mäntelchen umhängen. Es geht vielmehr darum, den Sinn der christlichen Religion im Horizont der Lebenserfahrung heutiger Menschen aufzuzeigen, keine falsche Anbiederung also.

Viele Christen kehren der Kirche den Rücken, weil sie mit der Frage, wie Gott Ungerechtigkeit und Unglück zulassen kann, nicht fertig werden. Macht es sich die Theologie nicht zu leicht, im Falle von Katastrophen oder persönlichen Schicksalsschlägen einfach auf die Unverständlichkeit Gottes hinzuweisen?
Menschen, die wirklich in das sprichwörtliche Loch gefallen sind, helfen nicht einfach Worte und schöne Erklärungen. Sie brauchen Menschen, die sie auf ihrem Weg durch die Finsternis begleiten, sie ertragen und ihnen helfen, auf der anderen Seite wieder ans Ufer zu kommen. Das kann nur im Vertrauen und Glauben geschehen, dass selbst eine absurde Situation, etwa der Tod eines geliebten Menschen, die Zerstörung einer Existenz durch Krankheit oder Arbeitslosigkeit, den Sinn des eigenen Lebens nicht endgültig vernichtet.

Wenn ein Mensch dann eine neue Perspektive erhält, beginnt er vielleicht auch, sein bisheriges Leben anders zu verstehen, ihm einen neuen Sinn zu geben. Er sieht dann vielleicht, das Geschehene war entsetzlich und für ihn auch völlig unverständlich, aber es gibt ein neues Leben. Nur mit sehr viel Glück gelingt die Integration einer persönlichen Katastrophe in die eigene Geschichte, so dass ein Mensch am Ende sagen kann, wäre das damals nicht geschehen, wäre ich nicht zu dem geworden, der ich jetzt bin. Darin kann er eine Führung Gottes sehen, wie einen roten Faden durchs Leben. Doch solche lebensgeschichtlichen Prozesse lassen sich im Vorfeld nicht theologisch steuern.

Autorin: Priska Sauer-Longinotti

Datum: 13.01.2004

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