Gegen den Strom

Radikalpietisten in der Schweiz

Wie viel eigenständige Frömmigkeit lässt die Kirche zu? Eine Fachtagung in Zürich beleuchtete die Konflikte zwischen der Obrigkeit und Leuten, die selbst den Heiligen Geist reden hörten oder das Endgericht kommen sahen, in früheren Jahrhunderten.
Zunehmendes Interesse für eigenständige Fromme: J. Jürgen Seidel organisierte die Tagung.
Wenn Gott Zebaoth ‚brüllet‘: von Urs Leu vorgestelltes Manuskript aus der Zürcher Zentralbibliothek.
Die Baronin, die alle Schablonen sprengte: Christine Nöthiger-Strahm schilderte die Reisen von Juliane von Krüdener durch die Schweiz.
Juliane von Krüdener mit ihrem Sohn.
Die Polemik der Theologen orientierte sich am grossen gegen die Täufer gerichteten Buch des zweiten Zürcher Reformators Heinrich Bullinger.
Von Anfang war die Neigung zur Radikalität da: Hans Schneider und Rudolf Dellsperger in Zürich.

Im Zeitalter zwischen der Reformation und dem Untergang der Alten Eidgenossenschaft 1798 schrieben die Gnädigen Herren vor, was und wie zu glauben war. Abweichler wurden verfolgt und aus den reformierten Orten verbannt. Herzenshingabe und unkontrollierte Aktivitäten, die Verweigerung des Gottesdienstbesuchs sowie direktes Aufnehmen und Umsetzen biblischer Worte galten als subversiv. An der Universität Zürich fand dazu vom 5.-7. Juni eine wissenschaftliche Tagung statt. Theologen und Historiker befassten sich mit dem „Radikalpietismus im schweizerischen und internationalen Beziehungsfeld“.

Die Offenbarung – selbst gelesen, anders verstanden

Die Reformation von Zwingli, Bullinger und Calvin setzte eine Entwicklung in Gang, die bis heute nicht abgeschlossen ist. Die staatskirchlichen Theologen mochten die evangelische Lehre noch so rechtgläubig-solide vertreten; nach dem reformatorischen Grundsatz, dass alle die Schrift lesen und von ihr belehrt werden sollten, lasen einige auch die Propheten und namentlich die Offenbarung – und erwarteten den Einbruch des Reiches Gottes in ihrer Zeit (was in Umbruchs-, Kriegs- und Katastrophenzeiten näher lag).

Der drückenden Steuerforderungen der Obrigkeit müde, sehnten viele eine gerechtere Ordnung herbei. Als Schwärmer galten jene, die sich den kirchlichen und staatlichen Autoritäten nicht mehr unterordneten, statt ihres Pfarrers Predigten in sich die Stimme des Heiligen Geists vernehmen wollten und darum den verordneten Gottesdienst nicht besuchten. Manche hegten und verbreiteten (teils mit der Bibel unvereinbare) Sonderlehren.

Unglaubwürdige Pfarrer

Oft erhoben sie angesichts erstarrter Kirchlichkeit und blasser oder moralisch unglaubwürdiger Verkündiger den Anspruch, den Schlüssel für die Vollendung der Reformation zu haben. Verfolgt und vertrieben wurden solche radikalen Pietisten vor 1750 regelmässig, wenn sie an ihrem Ort auffielen – etwa durch wunderbare Heilungen –, mit glühendem Sendungsbewusstsein Anhänger sammelten oder die geltende Ordnung an den Pranger stellten. Zum Täufertum hatten manche radikale Pietisten* „eine grosse Affinität“ (R. Dellsperger); die offizielle Polemik warf sie auch sonst in einen Topf mit ihnen.

Fromme in der Kirche

Die Fachleute unterscheiden von dieser radikalen, separatistischen Strömung den kirchlichen Pietismus, der nach einem bekannten Wort „in, wenn immer möglich mit, aber nicht unter der Kirche“ leben will und seine Gemeinschaftsformen in Absprache mit der Kirchenleitung gestaltet. Beide Pole (zwischen denen es zahlreiche Abstufungen gibt) eint die pietistische Frömmigkeit, welche persönliche Umkehr zu Christus, die Erfahrung der Wiedergeburt und Hingabe im Alltag, Bibellesen und Gemeinschaft mit dem Ziel der Mission in den Vordergrund rückt.

Die Vorträge der Zürcher Fachtagung dienten als Schlaglichter auf bekannte und unbekannte Gestalten und Gruppen. Eingangs bezog der Organisator Jürgen Seidel, Titularprofessor an der Uni Zürich, die Phänomene des 16.-18. Jahrhunderts auf die unübersichtliche religiöse Szene von heute, in der Übernatürliches und paranormale Fähigkeiten faszinieren.

Durchgehende Strömung

Rudolf Dellsperger, emeritierter Professor für Kirchengeschichte in Bern, unterstrich, dass die Neigung radikaler Pietisten zur Absonderung und (gescheiterte) Versuche, sie einzubinden, ihr Entschluss zu eigenen Gemeinschaftsformen und innerkirchliche Reformbemühungen zeitlich nicht getrennt werden können. Der Radikalpietismus sei in der Geschichte des Pietismus „nicht eine Phase, sondern eine Strömung gewesen, die sich durchgehalten hat“.

Zuflucht in Neuenburg

Im Berner Mattequartier lebte eine Prophetin. Die Gnädigen Herren stellten 1699 radikale Pietisten vor Gericht; einige Theologen, die von ihren Überzeugungen nicht lassen wollten, wurden verbannt. Mit Schriften und Briefen wirkten sie gleichwohl weiter auf ihre Heimat ein, manche aus dem zu Preussen gehörigen Neuenburg. Dort gab es laut Dellsperger an mehreren Orten Kolonien von Pietisten: „Sie kamen als Radikale ins Land – nach teils abenteuerlichen Odysseen“. Samuel Göldin, der am Berner Münster geamtet hatte, wurde 1702 des Landes verwiesen, weil er dem Pietismus nicht abschwören wollte, und reiste 1710 nach Pennsylvania aus: der erste reformierte Pfarrer in der neuen Welt.

Mündige Laien

Der Zürcher Zunftmeister Bodmer wurde all seiner Ämter enthoben und 1721 verbannt. 1717 hatte der Rat in einem Mandat vor Inspiration, Separation und Irrlehren gewarnt. Bodmer, der von der Mündigkeit aller Laien ausging, hatte radikalpietistische Literatur verbreitet und die Verdorbenheit der Pfarrer angeprangert. Junge Geistliche, die sich solchen Gedankengängen offen zeigten, wurden auch im Herrschaftsbereich von Schaffhausen und St. Gallen im Amt suspendiert oder sonst diszipliniert.

Sonderlehren

Urs Leu von der Zentralbibliothek Zürich berichtete am Symposium vom Wundarzt Johann Jakob Ammann (1586-1658), der bisher durch seine Beschreibung des Heiligen Landes bekannt war. Dem Ehegericht der Zwinglistadt musste er 1624 Red und Antwort stehen, weil er nicht zur Kirche ging. Ammann berief sich nach der Art von Theosophen auf den Heiligen Geist und erklärte, er sei bereit zu emigrieren. 1634 gab er zu Protokoll, Christus habe sein Fleisch direkt aus dem Himmel empfangen. Als Leibarzt des Grossmünsterpfarrers entging Ammann der Ausweisung. Weitere Verhörprotokolle lassen Leu einen Kreis von Spiritualisten in Zürich vermuten; wie sie sich trafen, ist kaum mehr zu erhellen.

Prediger des Gerichts

1635 wurde der Prophet und Gerichtsprediger Ludwig Giftheil („König David II.“), der den Glaubenszwang und die Kriege anprangerte und auf die Vernichtung des Papsttums hoffte, aus Zürich ausgewiesen. Ein Buch, das Ammann der Stadtbibliothek vermachte, stammt von Paul Felgenhauer. Der Anti-Kriegs-Prophet aus Böhmen hatte Visionen für die Endzeit und erwartete den Einbruch des Tausendjährigen Reichs, die Bekehrung der Juden und der Türken. Ein letztes Mal zu reden gab Ammann 1648, als er einem schwedischen Adligen, der in Zürich weilte, voraussagte, sein Bruder würde deutscher Kaiser werden. Nach 1700, am Ende der Camisardenkriege in Südfrankreich, fanden Propheten den Weg in die Deutschschweiz.

Gottes Weisheit – aber bitte vernünftig

Die Theologenschulen in Zürich und reformierten Städten Deutschlands stellten sich um 1700, als der Pietismus eine Herzensfrömmigkeit kultivierte, gegen das direkte Reden Gottes ins Herz des Menschen, das „innere Wort“. Der Glarner Kulturhistoriker Hanspeter Marti beleuchtete an der Tagung die Vorgänge, die dazu führten, dass die Schulen Gottes Weisheit auf dem Weg der philosophischen Vernunft erschliessen wollten. Spekulativ-mystische Entwürfe wie der von Gottfried Arnold, der 1698 seine Geschichtsprofessur in Giessen aufgab, wurden auch in Zürich abgelehnt. Bereits bahnte sich die Aufklärung an, in der die historische Bibelkritik einsetzte.

Eine Razzia ruft der nächsten

Hans Schneider, Professor für Kirchengeschichte in Marburg, beleuchtete die Anfänge des Zürcher Pietismus anhand einer Streitschrift, die Johann Heinrich Schweizer vermutlich 1698 verfasste. In jenem Sommer wurden bei einer Haussuchung fast 300 Bücher beschlagnahmt, darunter „die gefährlichsten Autoren dieses und des vergangenen Säculi“, wie er einem Freund schrieb. Der Fund veranlasste die Obrigkeit durchzugreifen; dabei zeigte sich, dass die religiösen Querköpfe Beziehungen nach Bern und Schaffhausen pflegten.

Den Glauben leben

Im Zuge der Repressions-Kampagne skizzierte Schweizer, worin die Gefahr für den Staat bestand. Als erste der 17 Punkte nennt er, dass diese Leute das „andere, innerliche lebendige Wort“ höher achteten als die Bibel und behaupteten, selbst Offenbarungen, Gesichte und Träume empfangen zu haben. Gefahr sah Schweizer auch darin, dass die Bewegung „mehr die früchte des glaubens, als den glauben und die gründtliche erkantnus der wahrheit, welche da zur godtseligkeit rühret, suchet“. Er warf der Gruppe der Pietisten vor, sie teile den Wiedergeborenen in einen äusseren und einen inwendigen Menschen und halte den letzteren für sündlos.

Privat = verdächtig

Was damals auch nicht sein durfte: dass sie „die Privatzusammenkünfften als ein hilffsmittel zu sonderbahrer heiliger Verbrüderung liebet und dieselben der offentlichen Versammlung vorziehet“. Weitere Sonderlehren und Bräuche der Spiritualisten und Pietisten gaben dem Autor Anlass, sie zu verdammen. Wie Hans Schneider ausführte, fanden sich den bei der Haussuchung konfiszierten Büchern fast keine von kirchlichen, gemässigten Pietisten; daher scheint ihm, „dass dieser frühe Zürcher Pietismus sich weitaus radikaler darstellt als etwa der Berner“. Ein Bemühen um eine kirchliche Integration sei schwerer erkennbar.

Weitere Referentinnen und Referenten sprachen über Juliane von Krüdener, Johann Jakob Welsch, Lavater, Margarethe Peter, Franz Wirz und Beziehungen von Schweizer Pietisten nach Deutschland. Der Organisator J. Jürgen Seidel beschloss die Tagung mit Beobachtungen zum Radikalpietismus in der Schweiz im 19. und 20. Jahrhundert. Die Vorträge sollen in einem Buch gesammelt werden.

* Aus dem Prospekt der Zürcher Fachtagung:
„‘Radikalpietismus‘ dient als Oberbegriff für die zahlreichen staats- und kirchenkritischen, nonkonformistischen neugläubigen Kreise, die häufig den Weg in die Separation gewählt haben und nicht selten auf unmittelbare göttliche Inspiration vertrauen. Mitunter bewegen sie sich am Rand der christlichen Tradition und in Superlation biblischer Teilaussagen. Ein breites Spektrum religiöser Erfahrungen, Herzensfrömmigkeit und mystischer Bekenntnisse, teils gepaart mit asketischen Neigungen, ist ihnen eigen. Den einerseits ausgeprägten Tendenzen zu subjektiver Überhöhung religiöser Erlebnisse steht die grenz- und länderübergreifende Gemeinschaft von ‚Gotteskindern‘ gegenüber.“

Datum: 23.06.2008
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch

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