Jesus und der Nebel der Gnostiker

Tchacos-Kodex: Teil des Manuskripts
James M. Robinson
Ekkehard Stegemann

Zum Wissen um Jesus, die zentrale Gestalt der Weltgeschichte, trägt der neu veröffentlichte Judas-Papyrus nichts bei – er vernebelt sie vielmehr. Der Text, mehrere Generationen nach den Evangelien verfasst, ist bestimmt vom Verlangen einer gnostischen Sekte, Jesus in ihrem Sinn umzudeuten.

„Warum wurde Jesus verraten?“ Mit beachtlichem medialem Getöse hat die National Geographic Society das so genannte „Judas-Evangelium“ in der Karwoche unter die Leute gebracht. Die Frage ziert das Cover der neusten deutschen Ausgabe ihrer Zeitschrift, welche sich von biblischen Themen in der Regel fernhält und dem evolutionistischen Menschenbild frönt. Aber zu Karfreitag darf auch mal der Judaskuss aufs Titelblatt – der Da Vinci Code lässt grüssen.

Die Papyrus-Handschrift aus dem 3. oder 4. Jahrhundert enthält in koptischer Übertragung aus dem griechischen Original ein Traktat mit dem Titel «Das Evangelium des Judas». Dieser Titel sei das Aufregendste am Text, schreibt der renommierte Religionswissenschaftler und Papyrusexperte James M. Robinson in der NZZ. Denn neue Auskünfte über die Ereignisse in der Karwoche des Jahres 30, als Jesus von Judas verraten wurde, gebe er nicht.

Gnostiker: böser Schöpfer-Gott – guter Licht-Gott

„Stattdessen geht es um eine gnostische Sekte aus der Zeit um 150 n. Chr., die bei dem Kirchenvater und Häresie-Chronisten Irenäus von Lyon um 180 erwähnt wird“, erklärt Robinson. „Diese Gnostiker behaupteten, dass der Gott, der das Böse in der Welt erschaffen habe, ein böser Gott sein müsse, dieweil es jenseits der Himmel ein Reich des Lichts gebe, in dem ein verborgener, unbekannter, guter Gott walte. Dieser geheime Gott nun sende von Zeit zu Zeit seine Abgesandten auf die Erde, um daselbst den göttlichen Funken, der in den Herzen der wenigen Auserwählten schlummere, zu entfachen. Es sei jedoch der böse Schöpfergott gewesen, der die Bibel inspiriert habe. In ihr würden jene Abgesandten aus dem Reiche des Lichts verdammt.“

Judas umgedeutet: ein Abgesandter aus dem Reich des Licht.…

Was hat dies nun mit Judas zu tun? Wie Robinson schreibt, „glaubten die Gnostiker also erkannt zu haben, dass die in der Bibel Verdammten in Wahrheit die allwissenden Emissäre aus dem Reich des Lichts sind, nämlich Kain, die Sodomiter und im Neuen Testament natürlich Judas Ischariot.“ Die Gnostiker, die der frühen Kirche den rechten Glauben streitig machten, wurden von der Zeit der Apostel an als Sektierer erkannt. Denn Christen glauben: Es gibt nur einen Gott; er ist der Schöpfer von allem und erlöst den ganzen Menschen durch Christus, den Menschensohn. Die Bekämpfung der völlig unbiblischen gnostischen Lehre war neben der Verfolgung durchs Römische Reich der härteste Test für die ersten Christen.

Der Judas-Papyrus zeigt einen ganz anderen Jesus als die vier Evangelien der Bibel. Ein Ausschnitt mag als Beleg dienen. Als einziger der Jünger wagt es Judas, in einem Gespräch vor Jesus hinzustehen, „aber er konnte ihm nicht in die Augen sehen und drehte sein Gesicht weg. Judas sagte ihm: ‚Ich weiss, wer du bist und woher du gekommen bist. Du bist aus dem unsterblichen Reich von Barbelo’. (…) Weil er wusste, dass Judas über etwas Erhabenes nachsann, sagte Jesus zu ihm: ‚Tritt weg von den anderen, und ich werde dir die Geheimnisse des Königsreichs eröffnen. Du vermagst es zu erlangen, aber nicht ohne grosse Schmerzen’.“

…und der einzige wahre Jünger!

Der koptische Text braucht für ‚Geheimnisse’ das griechische Wort ‚mysterion’, wie der Basler Neutestamentler Ekkehard Stegemann in der NZZ erläutert: „Bald stellt sich heraus, dass von den zwölf Jüngern allein Judas ein Organ für diese Belehrungen hat, während die übrigen, die namenlos bleiben, Jesus nicht verstehen. Deswegen nimmt Jesus den Judas zuweilen allein bei Seite und instruiert nur ihn. Unfähigkeit und Unverständnis für das Geheimnis dort und Verständnis und Gelehrigkeit hier“ – Judas ist im Text der Einzige, der Jesus versteht. „Die anderen Jünger sind Anbeter eines niederen Gottes, des Demiurgen, der das Gefängnis der materiellen Welt geschaffen und die göttlichen Lichtfunken der Seele in das Gefängnis des Körpers gesteckt hat.“

Jesus litt, weil er Judas ins Herz sah

Wer den Text liest, erkennt mühelos: Er ist kein Evangelium, das mit zusätzlichen verlässlichen Informationen ein neues Licht auf Jesus und seinen engsten Kreis wirft, sondern eine gnostische, um die Gestalt von Jesus gewobene Mär. Vor diesem Hintergrund ist auch die Umdeutung des Verrats – National Geographic fragt: „Bat Jesus seinen Jünger, ihn preiszugeben, um so Gottes Willen zu erfüllen?“ – historisch unsinnig und bedeutungslos. Die biblischen Evangelien bezeugen, dass Jesus zutiefst traurig war über die geheime Absicht des Judas, ihn zu verraten, ihn aber nicht daran hinderte (Johannes 13,21-30).

Unschöne Geheimniskrämerei um einen geschmuggelten Text

James Robinson wartet wie die gesamte Fachwelt auf die wissenschaftliche Publikation aller Texte der Handschrift, die, weil “unrechtmässig ausgegraben und aus Ägypten geschmuggelt“, an das Land zurückzugeben ist (sie soll in Kairo ausgestellt werden). Der nach der Zürcher Antiquitätenhändlerin Frieda Nussberger-Tchacos benannte «Tchacos-Kodex» enthält insgesamt vier Texte. Zwei von ihnen kennt man bereits vom berühmten ägyptischen Fundort Nag Hammadi. Das vierte Fragment, das „Buch des Allogenes“, ist unbekannt; laut Robinson könnte es für die Forschung mehr hergeben als der Judas-Text.

Robinson kritisiert die Geheimniskrämerei von zwei der drei Herausgeber der englischen Übersetzung, Rodolphe Kasser und Marvin Meyer. Er verweist darauf, dass die International Association for Coptic Studies kurz nach ihrer Gründung mit Unterstützung der beiden Wissenschaftler 1976 eine Resolution verabschiedete, die derartige Monopolansprüche verhindern sollte…

Englische Übersetzung des „Judas-Evangeliums“

Datum: 22.04.2006
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch

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