Die Katholiken, Rom und die Welt

Das Volk Gottes bleibt bevormundet

40 Jahre nach dem Ende des II. Vatikanischen Konzils hat sich die römisch-katholische Kirche nur teilweise mit der Moderne versöhnt. Nach innen ist sie eine Autokratie geblieben. – Eine Bilanz von Michael Meier.
Die feierliche Eröffnung des II. Vatikanischen Konzils am 11. Oktober 1962 in der Peterskirche
Vatikanisches Konzil
Papst Johannes XXIII.
Johannes Paul II
Kirchliche Würdenträger vor 40 Jahren.
Petersplatz in Rom
Katholische Messe

Man übertreibt kaum, wenn man das II. Vatikanische Konzil, das am 8. Dezember 1965 zu Ende ging, ein Epoche machendes Weltereignis nennt. Es versammelte die Führungsspitze der gesamten römischen Weltkirche. 2700 Bischöfe aus aller Welt rangen in Rom drei Jahre lang engagiert und kontrovers um die Erneuerung der Kirche, um ihren Platz in der Welt nach der Aufklärung.

Zur Selbstfindung der Kirche hatte der 78-jährige Papst Johannes XXIII. aufgerufen. Er forderte das Konzil auf, die „Fenster der Kirche weit zu öffnen“ und einen „Sprung vorwärts“ zu tun, einen Sprung ins Heute. Das Programmwort, das der Bauernsohn Angelo Roncalli dem Konzil mitgab, hiess Aggiornamento, Verheutigung. Diese sollte die Strukturen und die Lehre der Kirche à jour und sie mit der Moderne in einen konstruktiven Dialog bringen.

Vorkonziliare Bunkermentalität

Dass die Kirche ihre selbst gewollte Isolation aufgab, war längst überfällig. Die vorkonziliare Kirche mit ihrer uniformen Theologie und Frömmigkeit lebte auf einer Insel der Seligen. Im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatte sie sich angesichts der Bedrängnis durch den siegreichen Liberalismus wie in einer Festung verschanzt.

Bis zum II. Vatikanum liess sie sich ganz vom Abwehrreflex gegen die Französische Revolution und die Aufklärung bestimmen: Im Syllabus errorum von 1864, einem Katalog von 80 Zeitirrtümern, hatte Papstkönig Pius IX. die liberalen Freiheitsrechte in globo verurteilt, die Glaubens- und Gewissensfreiheit genauso wie die Freiheit der Presse und der Niederlassung. Das I. Vatikanische Konzil von 1870 krönte diese Bunkermentalität mit dem Doppeldogma vom Primat und der Unfehlbarkeit des Papstes.

Es war freilich eine Ironie der Geschichte, dass die Kirche nur fünf Jahre vor dem grossen Traditionsbruch der 68-er-Jahre aufbrach, um sich mit der Moderne zu versöhnen. Die Leistung von Johannes XXIII. wird damit nicht geschmälert. Berühmt geworden ist seine fulminante Eröffnungsrede, in der er die Absicht des Konzils umriss: „Wir sind nicht auf der Erde, um ein Museum zu hüten, sondern um einen blühenden Garten voller Leben zu pflegen“, geisselte der greise Papst die verkrusteten Strukturen. Und den christlichen Kulturpessimismus vor Augen, forderte er dazu auf, „den Unglückspropheten entschieden zu widersprechen, die immer nur Unheil vorhersagen, als stünde das Ende der Welt bevor“.

Das erste pastorale Konzil

Das II. Vatikanum war das erste pastorale, seelsorgerliche Konzil der Geschichte. Anders als frühere Konzilien sah es davon ab, Lehren festzulegen und andere zu verurteilen. Heute ziehe die Kirche es eben vor, „die Medizin der Barmherzigkeit anzuwenden, als die Waffen der Strenge zu gebrauchen“, proklamierte der Papst.

40 Jahre später ist die von progressiven Theologen wie Hans Küng und anderen formulierte Schelte vom „Verrat am Konzil“ zum geflügelten Wort und der restaurative Kurs der Kirchenleitung zur Gewohnheit geworden. Das darf aber nicht vergessen machen, was das Konzil an substanziellen Reformen gebracht hat. Es bedeutete zunächst den Bruch mit einer als Societas perfecta, als vollkommene Gesellschaft, verstandenen Kirche, die der Welt nicht bedarf. Das Konzil war nicht mehr einer idealen Gegenwelt verpflichtet, sondern der Solidarität mit der realen Welt.

Es wollte nicht die „Wahrheiten an sich“ verkünden, sondern die Autonomie der weltlichen Wirklichkeit respektieren.

Fortschrittsoptimistischer Ton

Skizziert ist die Öffnung der Kirche zur Welt hin in der Pastoralkonstitution ‚Gaudium et Spes’, Freude und Hoffnung, dem wohl bedeutendsten Dokument des Konzils, mit dem es in fast fortschrittsoptimistischem Ton in der Gegenwart ankommen wollte. Ihre Zeitgenossenschaft beweist die Kirche dort mit dem berühmt gewordenen politischen Programm, „nach den Zeichen der Zeit zu forschen und sie im Licht des Evangeliums zu deuten“. In seiner Enzyklika ‚Pacem in Terris’ von 1963 hatte Papst Johannes XXIII. den Aufstieg der Arbeiterklasse, die Emanzipation der Frau und das Freiheitsstreben der Kolonialvölker als solche Zeichen der Zeit gesehen.

Die Konstitution sprengte auch das jahrhundertealte Bündnis zwischen Thron und Altar, zwischen Kirche und Staat. Mit nicht weniger als 200 Jahren Verspätung anerkannte die Kirche die demokratische Staatsform und die liberalen Menschenrechte, insbesondere die Gewissens- und Religionsfreiheit. Die Erklärung über die Religionsfreiheit proklamierte stolz, es gehöre zum freien Selbstvollzug des Menschen und zur Menschenwürde, dass jeder frei nach seinem Gewissen glauben und handeln dürfe.

Anspruch auf Monopol aufgegeben

Eine eigentliche kopernikanische Wende in der römischen Kirche! Denn sie brach mit der vorkonziliaren Überzeugung, die katholische Kirche als die alleinige Hüterin des wahren Glaubens habe einen Monopolanspruch auf die öffentliche Religionsausübung. Das war im Prinzip auch der Abschied vom katholischen Staat des 19. Jahrhunderts (wie Italien oder Spanien), wo es für die Nichtkatholiken kein Recht geben sollte, ihren Glauben öffentlich zu bekennen. Mit der Erklärung hat sich die katholische Kirche dazu durchgerungen, die positive Religionsfreiheit auch den anderen Religionsgemeinschaften zuzugestehen.

Wegweisende Fortschritte des Konzils waren auch das Bekenntnis zur historischkritischen Forschung, also zur modernen Bibelexegese und zu einer Liturgiereform, die es den Ortskirchen erlaubt, die Messe in der jeweiligen Volkssprache zu feiern.

Die Reform hat zur Dezentralisierung der Kirche beigetragen, und aus der reinen Klerusliturgie ist die Feier des Volkes Gottes geworden. Die so genannte Judenerklärung ‚Nostra aetate’ rang sich zur Verurteilung des Antisemitismus durch, verbunden mit einer teilweisen Anerkennung der kirchlichen Schuldgeschichte gegenüber den Juden: Die Rede vom Gottesmord sollte der Vergangenheit angehören.

Militante Gegenbewegung

Doch es bleibt der Vorwurf vom Verrat am Konzil. Er hat seinen Grund vor allem in der Ambivalenz der Konzilstexte. Den mehrheitlich reformwilligen Konzilsvätern blies ein rauer Wind vor allem aus Kreisen der Kurie ins Gesicht. Von den 2700 Bischöfen lancierte eine Minorität von rund 300 Exzellenzen eine militante Gegenbewegung, die das alte zentralistisch-monarchistische Kirchenbild favorisierte. Es entstanden viele Kompromisstexte, offen für unterschiedliche Lesarten.

Das Konzil blieb somit nicht nur in seinen Texten, sondern auch in seiner Wirkungsgeschichte ambivalent. Durch die konservative Lesart von Papst Paul VI., des Nachfolgers von Johannes XXIII. und vor allem Johannes Paul II. sowie (Kardinal) Joseph Ratzingers wurden die konziliaren Reformen zum Teil wieder zurückgenommen.

Beispielsweise im Bereich der Ökumene: Bis Mitte des 20. Jahrhunderts hatte sich die römische Kirche geweigert, in der ökumenischen Bewegung mitzumachen, weil sie fürchtete, sonst ihren Anspruch, die allein wahre Kirche Jesu Christi zu sein, verraten zu müssen.

Protestanten: nicht Kirche im Vollsinn

Im Ökumenismusdekret des Konzils anerkannte sie nun, dass in den anderen christlichen Konfessionen „vielfältige Elemente der Heiligkeit und der Wahrheit“ zu finden sind, betonte aber zugleich, dass nur die katholische Kirche den „Zutritt der ganzen Fülle der Heilsmittel“ gewähren könne. Obsiegt hat die letztere Lesart: Die Abendmahlsgemeinschaft bleibt bis heute eine Utopie, und im Dokument ‚Dominus Iesus’ aus dem Jahr 2000 mochte Kardinal Ratzinger den Konfessionen der Reformation nur den Status von kirchlichen Gemeinschaften, nicht aber von Kirchen im Vollsinn zugestehen.

Bis heute heftigst umstritten ist die Kirchenkonstitution, in der die Konzilsväter das alte und das neue Kirchenbild nebeneinander stellten. Die neuen Zentralbegriffe wie „Volk Gottes“ und „Priestertum aller Gläubigen“ postulierten, dass nicht nur die Amtsträger, sondern alle Getauften miteinander die Kirche bilden. Die früher einseitig hierarchisch verstandene Kirche wurde nun in ihrem geschwisterlichen Miteinander gesehen. Der Gemeinschaftsgedanke kam vor der Institution.

Kleriker weiterhin übergeordnet

Der Volk-Gottes-Begriff betont die gleiche Würde und Verantwortung aller Gläubigen sowie den Vorrang der Gemeinschaft aller Getauften vor allen Unterscheidungen der Ämter. Dennoch stellte das Konzil dem Priestertum aller Gläubigen erneut die hierarchischen Weihestufen – Bischof, Priester, Diakon – unverändert gegenüber. Keine Überwindung des klerikalen Kirchenbildes also.

Die Anerkennung der Laienmitarbeit durch den Volk-Gottes-Gedanken ist der Furcht gewichen, die Kirche könnte sich zu Lasten des hierarchischen Amtes demokratisieren. Die vom Konzil eigentlich mit neuer Würde bedachten Laientheologen fungieren heute als Lückenbüsser für die immer weniger werdenden Priester. Es bleibt den Laien verwehrt, die Sakramente zu spenden. Reformer sprechen von einer Zwei-Stände-Kirche.

Primat des Papstes gestärkt

Die Kirchenkonstitution wollte auch die päpstliche Leitungsgewalt mit einer Aufwertung der bischöflichen Verantwortung ausbalancieren. Die neue Lehre von der Kollegialität der Bischöfe hätte das weltweite Bischofsamt ermächtigen sollen, zusammen mit dem Papst in Glaubens- und Sittenfragen zu entscheiden. De facto aber zementierte das Konzil den Verfassungskonflikt: Das auf dem I. Vatikanum definierte Dogma vom Primat des Papstes wurde so bekräftigt, dass dieser in der Praxis über dem Kollegium steht und dessen Initiativen unterbinden kann.

Beredtes Zeugnis dieser Doppelbödigkeit ist die neue Einrichtung der Weltbischofssynode, die statt mitentscheidende legislative bloss beratende Kompetenzen hat – und meist zu einer unverbindlichen Diskussionsveranstaltung verkommt. Mit dem Bischofsamt hat das Konzil die Ortskirchen aufgewertet. Die Bistümer in aller Welt sollten nicht länger blosse Filialen oder Verwaltungsbezirke der Universalkirche, sondern eigenständige Kirchen sein.

Bischöfe als Befehlsempfänger des Vatikans

Mit gezielt konservativen Bischofsernennungen allerdings hat vor allem Johannes Paul II. die Bistümer wieder ganz unter seine monarchischen Fittiche genommen, ebenso mit der Ernennung von linientreuen Theologen. Früher waren die Bischöfe legitimiert, den Theologieprofessoren in ihren Diözesen die Lehrerlaubnis zu erteilen. Heute benötigen sie dazu das Nihil obstat (Bestätigung) der römischen Glaubenskongregation.

Damit werden die Bischöfe zu Befehlsempfängern degradiert, und die theologische Forschungsund Lehrfreiheit ist beschnitten. Von der angestrebten Dezentralisierung der Kirche also keine Spur, im Gegenteil: Selbst die Kurienreform, die Papst Paul VI. nach dem Konzil durchführte, perfektioniere nur die Schlagkraft des zentralistischen Regimes. „Noch nie in der Kirchengeschichte hat Rom so viel Macht und Einfluss wahrgenommen wie heute“, sagt der evangelische Theologe Reinhard Frieling. „Noch nie war die römisch-katholische Kirche so sehr Papstkirche wie seit etwa 30 Jahren.“

Ortskirchen am Gängelband

Wie sehr Rom die Ortskirchen bevormundet, zeigen die Bremsmanöver bei den nationalen Umsetzungbewegungen des Konzils, zu denen die Kirchenleitung selber ermutigt hatte. In der Schweiz versuchte die Synode 72, die vor genau 30 Jahren zu Ende ging, als eine Art Kirchenparlament die Impulse des Konzils zu verwirklichen. Die Synode des Bistums Chur beschloss etwa, dass alle kirchlichen Ämter durch Wahlen besetzt werden, an denen die betroffenen Gläubigen direkt oder repräsentativ beteiligt sind. Doch solche Vorschläge hatten nie die geringste Chance, von Rom genehmigt zu werden; sie sind längst schubladisiert und weit gehend vergessen worden.

Lateinamerika: Ein Aufbruch…

Weit folgenreicher als in der Schweiz hat sich das römische Veto gegen die ortskirchliche Emanzipation in Lateinamerika ausgewirkt. Ohne das Konzil wäre das Profil einer lateinamerikanischen Kirche als „Kirche der Armen“ nicht möglich gewesen, hält die deutsche Professorin für Dogmatik, Margit Eckholt, fest.

Die Befreiungstheologie war in konzilsnahen Kreisen entstanden; und ihre Option für die Armen war ein Impuls des Konzilspapstes Johannes XXIII. Mit ihrem Protest gegen Menschenrechtsverletzungen zur Zeit der Militärdiktaturen und ihrem Einsatz für die Armen, Landlosen und Entrechteten interpretierte die lateinamerikanische Kirche das konziliare Programm von den „Zeichen der Zeit“. In den 1980er-Jahren setzte dann Kardinal Ratzinger alles daran, die Befreiungstheologie zu zerschlagen.

Er hat sie als marxistisch unterwanderte Ideologie diskreditiert und ihre Exponenten diszipliniert. Schlagkräftigstes Instrument war auch in Lateinamerika die Personalpolitik: Statt Bischöfe wie Enrique Angelelli oder Oscar Romero, die ihren Einsatz für diese Kirche des Volkes mit dem Leben bezahlten, setzte der Vatikan nunmehr linientreue Oberhirten, nicht selten aus dem Opus Dei, ein.

Zweideutige Texte und die Grundoption des Aggiorniamento

Gegen die rückwärts gewandte Lesart des Konzils berufen sich Reformtheologen heute auf den „Geist des Konzils“. Mögen die Konzilstexte noch so ambivalent sein: Man kann mit ihnen nicht einfach alles legitimieren. Das Konzil ging von einer Grundoption aus, von der alle Texte durchdrungen sind: vom Aggiornamento, der Verheutigung. Zur Bestätigung der traditionellen Lehrpositionen und des alten, hierarchischen Kirchenbilds hätte es allerdings kein Konzil gebraucht. Massgebend sind darum seine reformerischen Impulse.

Die Frauenfrage wurde ignoriert

Es bleibt besonders befremdlich, dass das Konzil, das sich mit der modernen Welt aussöhnen wollte, das Thema Frau in der Kirche und die Anfragen der feministischen Theologinnen nicht beachtete. Konzilspapst Johannes XXIII. hatte in seiner Enzyklika ‚Pacem in Terris’ von 1963 die Emanzipation der Frau als Zeichen der Zeit gedeutet, in dem sich das Wirken des Gottesgeistes zeigt. Das II. Vatikanische Konzil selber blieb weit hinter dem berühmten Lehrschreiben zurück. Obwohl es die Kirche „als Sakrament der Einheit des Menschengeschlechts“ verstand und die Frauen in die „allgemeine Berufung zur Heiligkeit“ zwangsläufig mit einschloss, schwieg es sich auf Druck der konservativen Minderheit über den Platz der Frauen in Kirche und Welt aus.

Auch die Frauenordination blieb unerwähnt, obwohl das Thema von aussen an das Konzil herangetragen wurde. Die Schweizer Frauenrechtlerin Gertrud Heinzelmann hatte in einer Konzilseingabe „als Klage und Anklage einer halben Menschheit“ die Kirche zum Widerruf des frauenverachtenden Gedankenguts und zur Zulassung der Frau zum Priesteramt aufgefordert. Zwar wurde die Eingabe weltweit beachtet, das Konzil fühlte sich aber in keiner Weise bemüssigt, sie zu behandeln.

Die Dokumente des II. Vatikanischen Konzils
www.vaticarsten.de/theologie/theologiedokumente/vatii/vatiiindex.htm
www.vatican.va/archive/hist_councils/ii_vatican_council/

Autor: Michael Meier
Quelle: Tages-Anzeiger

Datum: 31.01.2006

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