Dietrich Bonhoeffers Erbe

Vor 60 Jahren im Morgengrauen des 9. April 1945 wurde im Konzentrationslager Flossenbürg einer der letzten persönlichen Befehle Adolf Hitlers vollstreckt: die Hinrichtung des evangelischen Theologen und Pfarrers der Bekennenden Kirche Dietrich Bonhoeffer. Ein SS-Standgericht verurteilte den 40-Jährigen wegen Hochverrat und Beteiligung am Umsturzversuch vom 20. Juli 1944 zum Tode. Nur wenige Stunden später wurde Bonhoeffer gehängt. Seine letzten Worte an diesem Morgen waren: „Das ist das Ende – für mich der Beginn des Lebens.“ Vorbild im Glauben Nicht nur in den letzten Stunden seines Lebens sind bei Bonhoeffer Glaube, praktizierte Nachfolge und Hoffnung zu einer Einheit verschmolzen. Seine gesamte Lebensgeschichte spiegelt im Nachhinein einen konsequenten Weg. Heute steht Glaube als Nachfolge mit allen Konsequenzen synonym für seinen Namen. Gerade diese Geisteshaltung hat ihn international sowohl in kirchlichen als auch öffentlichen Kreisen zum bekanntesten deutschen Theologen des 20. Jahrhunderts gemacht. Nur einige Beispiele seien erwähnt: 1982 gedachten in England Kirchenvertreter im Beisein von Papst Johannes Paul II. Bonhoeffer als einem von sieben der bedeutendsten Märtyrer unserer Zeit. US-Präsident George W. Bush zählte im Mai 2002 in seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag Bonhoeffer zu den grössten Deutschen des 20. Jahrhunderts. Und für den freikirchlichen Willow Creek-Pastor Bill Hybels ist Bonhoeffer „eine Art persönlicher Held“. Ausserdem gibt es allein hierzulande etwa 80 Kirchengemeinden und ebenso viele öffentliche Schulen, die seinen Namen tragen. Was aber machte den Theologen und Widerstandskämpfer zu solch einer besonderen Leitfigur? „Bonhoeffer ist mit dem Leben für seine Überzeugungen eingestanden. Dadurch gewinnen seine Worte und Schriften besondere Glaubwürdigkeit“, sagt Christoph Strohm, Bonhoefferexperte und Professor an der Evangelischen Fakultät der Universität Bochum. Bemerkenswert ist Bonhoeffer allerdings nicht nur allein seines Glaubenszeugnisses wegen, so wie es bei anderen Märtyrern des Christentums der Fall war. Er überzeugt ebenso durch seinen bedingungslos gelebten Widerstand gegenüber der nationalsozialistischen Staatsführung Hitlers. Indem Bonhoeffer seine Grundsätze mit schlichter Frömmigkeit verbindet, macht ihn dies gleichermassen zu einem Vorbild für Menschen des gemeinschaftlichen Lebens wie auch des politischen und sozialen Engagements. Doch wie entwickelte sich dieses Martyrium? Wie kam es dazu, dass ein christlicher Pazifist als einer von wenigen den Kampf gegen die Nationalsozialisten aufnahm und in den aktiven Widerstand überging? Dem Rad in die Speichen fallen Dietrich Bonhoeffer wird am 4. Februar 1906 in Breslau als sechstes von acht Kindern der Eheleute Karl und Paula Bonhoeffer geboren. Sein Vater ist anerkannter Wissenschaftler für Psychiatrie und Neurologie und Direktor der Berliner Charité, die Mutter stammt aus einer adeligen Familie. Im Hause Bonhoeffer herrscht Selbstdisziplin, Bescheidenheit und der protestantische Glaube. Dennoch sind alle überrascht, als Dietrich im Alter von 13 Jahren zum ersten Mal den Wunsch äussert, Theologie zu studieren. Es bleibt dabei. Gleich nach seinem Abitur 1923 nimmt er das Studium in Tübingen auf. Es folgt die Promotion in Berlin, ein Vikariat in einer deutschen Gemeinde in Barcelona und ein Studienjahr in New York. Als am 30. Januar 1933 Adolf Hitler und seiner Nationalsozialistischen Partei die Macht übertragen wird, kommt die Familie Bonhoeffer zu dem Urteil: „Hitler bedeutet Krieg.“ Nur wenige Wochen später protestiert Dietrich Bonhoeffer zum ersten Mal öffentlich. Ursache ist das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“, das die Entlassung aller nichtarischen Beamten vorsieht. In seiner später veröffentlichten Rede „Die Kirche vor der Judenfrage“ fordert er nicht nur die Solidarität mit den Opfern, sondern auch ein aktives Handeln gegenüber dem Regime: Die Kirche solle durch organisierten Protest „dem Rad in die Speichen fallen.“ Kirche habe diese Verantwortung, wenn der Staat in seiner Aufgabe für Recht und Ordnung versagt. „Öffne deinen Mund für die Stummen!“ Doch Bonhoeffer bleibt mit seiner Ansicht grösstenteils allein. Zu sehr ist die evangelische Kirche 1933 damit beschäftigt, ihre eigene Position gegenüber dem neuen Staat zu klären. Erst als die Nationalsynode der evangelischen Kirche beschliesst, mit Hilfe des Arierparagraphen getaufte Juden aus der Kirche auszuschliessen, entwickelt sich aus einer Protestbewegung evangelischer Christen eine Widerstandsfront – die „Bekennende Kirche“. Ihr Ziel ist es, Kirche und Evangelium nicht in den nationalsozialistischen Sumpf ziehen zu lassen. 1934 stellt sie sich mit ihrer „Theologischen Erklärung von Barmen“ gegen die Kirchenlehre des Staates und der nationalsozialistisch geprägten „Deutschen Christen“, bleibt aber politisch loyal. Bonhoeffer ist das zu wenig: „Es muss endlich mit der theologischen Zurückhaltung gegenüber dem Staat gebrochen werden. Es ist ja doch alles Angst. ‚Tu deinen Mund auf für die Stummen!’ (Sprüche 31,8) – wer weiss denn das heute noch in der Kirche, dass dies die mindeste Forderung der Bibel in solcher Zeit ist.“ Doch abermals bleibt Bonhoeffer mit seiner Forderung nach politischem Widerstand der Kirche allein. Sein Gedanke, dass jeder Mensch dazu berufen ist, sich stellvertretend für andere einzusetzen, wenn er verantwortlich leben will, wird von nun an Leitmotiv seiner Theologie und seines Handelns. Daraus entwickelt sich auch sein späteres Grundverständnis von Kirche: „Kirche ist nur Kirche, wenn sie für andere da ist“ – selbst wenn das weit reichende Konsequenzen bedeute. Nachfolge aus der Bergpredigt Nachdem er für zwei Jahre eine Pfarrstelle in London übernommen hatte, kehrt Bonhoeffer 1935 wieder nach Deutschland zurück, um einem neu gebildeten oppositionellen Flügel der Bekennenden Kirche beizutreten. Als Leiter deren Predigerseminars in Zingst und Finkenwalde (bei Stettin) wird „Herr Pastor“ beziehungsweise „Bruder Bonhoeffer“ – wie er sich von den Studierenden nennen liess – zu einer zentralen Gestalt des Kirchenkampfs und zum Kopf der Bekenntnisfront. In diesen frühen 30er-Jahren erlebt der Theologe auch eine geistliche Wende: „Ich kam zum ersten Mal zur Bibel“, sagt er 1936 rückblickend. Insbesondere die Bergpredigt packt ihn. Für ihn ist sie die Gebrauchsanweisung zum täglichen Leben in der christlichen „Nachfolge“. Aber nur dann, wenn man sie und ihre Forderungen wie beispielsweise Gewaltlosigkeit und Feindesliebe mit innerem Gehorsam befolgt. Diese Auslegung hat für Bonhoeffer ganz praktische Folgen. Um beispielsweise dem Dienst in Hitlers Wehrmacht zu entgehen, worauf damals die Todesstrafe stand, wich Bonhoeffer 1939 kurzerhand in die USA aus. Mit unruhigem Gewissens kehrt er bald darauf zurück: „Ich muss während dieser schweren Zeit der Geschichte unseres Landes mit den Christen in Deutschland zusammenleben“. Seiner Ansicht nach hätte er sonst nach Kriegsende kein Recht am Wiederaufbau kirchlichen Lebens gehabt. Von da an engagiert er sich aktiv im Widerstand. Im Sinne der Bergpredigt bedeutet dies: ein gewaltloses „Widerstehen bis aufs Blut“, was soviel heisst, wie das Unrecht durch das eigene Leiden zu offenbaren – sogar bis zum eigenen Tod. Für ihn zählt die Verantwortung gegenüber der Zukunft Deutschlands, der Kirche und Gott mehr als seine eigene gesicherte Existenz. Aus Nächstenliebe schuldig werden? Durch seinen Schwager Hans von Dohnanyi, der Oberst in der Abwehr war, gelangt Bonhoeffer 1940 als Kurier des Geheimdienstes in einen Status, der ihn von der Wehrpflicht befreit. Arbeitete nun Bonhoeffer plötzlich für das Regime? – Keineswegs. Unter ständiger Verschleierung ist er für den politisch-militärischen Widerstand um Geheimdienst-Leiter Admiral Wilhelm Canaris tätig. Mit Hilfe seiner ökumenischen Beziehungen bereitet er so konkrete Pläne für den Frieden nach einem Umsturz vor. Doch der aktive Widerstand hat zwei Probleme: Zum einen die Verständigung mit den Kriegsgegnern Deutschlands und zum anderen die Beseitigung Hitlers. Darf man einen Tyrannen durch ein Attentat stoppen? Für Bonhoeffer bedeutete das im Sinne des christlichen Glaubens Schuld. In der Folge löste er sich von dem Gedanken ein heiliges Leben im Sinne einer engeren Auslegung der Bergpredigt zu führen. Seine neue christliche Denkweise, schreibt er in seiner „Ethik“ nieder. Darnach schliesst Verantwortung in vielen Fällen auch die Bereitschaft mit ein, Schuld auf sich zu nehmen. Denn entweder töte man Hitler oder man werde durch das Schweigen mitschuldig am weiteren Sterben und Hitlers Vernichtungspolitik. Bonhoeffer kommt zu dem Schluss, dass aktive Nachfolge auch heissen könne, aus Nächstenliebe heraus schuldig werden zu können bzw. zu müssen, um Schlimmeres zu verhindern, und im Endeffekt nichts übrig bleibe, als auf die Schuldvergebung durch Jesus Christus zu hoffen. Beten und Tun des Gerechten Für Bonhoeffer stand verantwortliches Handeln im Mittelpunkt christlicher Ethik. Allerdings geschahen seine Aktivitäten und das „Dasein für andere“ nicht unabhängig von einem vorherigen Gebet. Das „Beten und Tun des Gerechten“ bedeutete also immer wieder zu prüfen, welche Tat im Einklang zur Bibel und zum Willen Gottes steht. – Somit bleibt die Auseinandersetzung mit Bonhoeffers ethischem Verhaltenszeugnis auch nach 60 Jahren aktuell und eine Herausforderung. Denn genau wie damals gibt es auch in unserer Zeit für viele Gewissensentscheidungen des Lebens kein Patentrezept. Immer wieder sind Christen und Kirchen, Führungskräfte und Arbeitnehmer, Nachbarn und Verwandte – schlichtweg Menschen in und zu Verantwortlichkeiten gefragt. Man muss nicht mit jeder von Bonhoeffers theologischen Thesen übereinstimmen. Aber jeder Mensch sollte für sich selbst prüfen: Wie würde ich mich verhalten, wenn vor meinen Augen ein Unrecht geschieht oder wenn man mich dazu anhält, eine Sache zu unterstützen, die gegen meine Glaubensüberzeugung ist? Und was wäre die Richtschnur meines Tuns? Bonhoeffer beantwortete seine offenen Fragen anhand seiner Sicht des christlichen Glaubens – ohne sich davon abschrecken zu lassen, dabei wohlmöglich sein Leben zu verlieren. „Er hat sich ernsthaft und mutig auf neue Herausforderungen eingelassen und doch nicht seinen Glauben aufgegeben, sondern um die jeweils angemessene Gestalt in der neuen Situation gerungen“, sagt Professor Christoph Strohm. So wurde er auch im April 1943 aufgrund des „Diensts am Nächsten“ verhaftet. Dohnanyi und er flogen auf, weil sie eine Gruppe von Juden in die Schweiz geschleust hatten. Zum Tode wurden die beiden jedoch erst später wegen Beteiligung am Widerstand des 20. Juli 1944 verurteilt. Bis zuletzt zog Bonhoeffer die Kraft für seine Konsequenz aus der biblischen Hoffnung. Sein bekanntestes Gedicht „Von guten Mächten“, das während der Gefangenschaft entstand, zeugt davon. Alles nimmt der Nachfolgende aus der Hand eines gütigen und gnädigen Gottes – sogar den Tod. Buchtipps Dietrich Bonhoeffer aktuell.
Dietrich Bonhoeffer

Biografie, Theologie, Spiritualität. R. Mayer u. P. Zimmerling, 272 Seiten, EUR 16,90 Brunnen, Giessen/Basel.

Zeugen einer besseren Welt. Christliche Märtyrer des 20. Jahrhunderts. K.-J. Hummel u. C. Strohm (Hg.), 477 Seiten, EUR 14,80, Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig.

Datum: 22.08.2005
Autor: Stefan Rüth
Quelle: Neues Leben

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