Die Kirchen Europas schwiegen zur Shoah

Jüdischer Friedhof in Prag.
Die Kirchenführer hätten Christen zu mutiger Hilfe motivieren können: Saul Friedländer an der Frankfurter Buchmesse 2006.

Am Holocaust-Gedenktag (27. Januar) schmerzt auch das Versagen der Kirchen. Das Fazit des Holocaust-Historikers Saul Friedländer ist niederschmetternd: Die allermeisten katholischen und protestantischen Kirchenführer protestierten nicht, während die Nazis mordeten, obwohl sie von den Deportationen und bald auch von den Vernichtungslagern im Osten Kenntnis hatten. Warum?

Schon im August 1941 hatte der Nachrichtendienstler Helmuth von Moltke, ein standfester Gegner der Nazis, seiner Frau von einer „Blutschuld, die zu unseren Lebzeiten nicht gesühnt und nie vergessen werden kann“, geschrieben. In seinem Holocaust-Buch „Die Jahre der Vernichtung“ erwähnt der in den USA lehrende jüdische Historiker Saul Friedländer auch jene Personen und Kreise in Deutschland, die in irgendeiner Form Widerstand leisteten.

Die Einführung des Judensterns und der Beginn der Deportationen aus Deutschland in jenem Jahr zwangen die Kirchen im Land Luthers zur Stellungnahme. Doch die Weisungen des Breslauer Kardinals Bertram an die deutschen Katholiken vom 17. September betrafen bloss die zum Christentum konvertierten Juden. Die „Deutschen Christen“, die das Evangelium und die christlichen Werte den heidnischen Vorgaben der Nazis unterworfen hatten, waren begeistert: Der Judenstern versetzte sie in die Lage, Judenchristen von den Gottesdiensten und dem gesamten Gemeindeleben auszuschliessen.

Ein einziger Protestbrief

Als Bewegung gegen das Einströmen des braunen Heidentums in die Kirche hatte sich nach Hitlers Machtergreifung 1933 die „Bekennende Kirche“ gebildet. In der Barmer Erklärung von 1934 hielt sie fest: „Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben. Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne und müsse die Kirche als Quelle ihrer Verkündigung ausser und neben diesem einen Worte Gottes auch noch andere Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes Offenbarung anerkennen“. In der Folge bedrängten die Machthaber die Bekenner.

„Sich steigernde Härte“

Die Deportationen führten zu verschärften Auseinandersetzungen in den Kirchen. Eine Denkschrift, die Bischof Theophil Wurm, die führende Persönlichkeit der Bekennenden Kirche, im Dezember 1941 an Hitler richtete, vermerkte „die sich steigernde Härte in der Behandlung der Nichtarier“ – mehr nicht. Laut Friedländer war Wurm der einzige Kirchenführer, der einen privaten Protestbrief an Hitler richtete. Der Bischof, der seinen Sohn und seinen Schwiegersohn an der Ostfront verloren hatte, forderte die Reichsführung am 16. Juli 1943 auf, der „Verfolgung und Vernichtung zu wehren, der viele Männer und Frauen im deutschen Machtbereich ohne gerichtliches Urteil unterworfen werden“.

Bekennende Kirche zum Schweigen gebracht

Die Vernichtungsmassnahmen, schrieb Wurm, stünden „in schärfstem Widerspruch zu dem Gebot Gottes“, sie verletzten „das gottgegebene Urrecht menschlichen Daseins und menschlicher Würde überhaupt“. Der Brief wurde nicht beantwortet, fand aber weite Verbreitung. Weil Bischof Wurm darin und in einem weiteren Schreiben gegen die drohende Aufhebung von Mischehen protestiert hatte, wurde er scharf verwarnt. Die Drohung „brachte Wurm und die Bekennende Kirche zum Schweigen“ (S. 545).

Auch jene katholischen Bischöfe, die Ende 1941 mutig gegen die staatlichen Attacken auf ihre Kirche protestieren wollten, schwiegen zur Judenfrage. Der (2005 seliggesprochene) Münsteraner Bischof von Galen, der mit einem gewissen Erfolg gegen die Ermordung von Behinderten kämpfte, hat gemäss Friedländer selbst in Privatbriefen zur Verteidigung der Juden „nie auch nur ein einziges Wort“ geäussert. Nachdem er das Versagen der französischen Kirchenoberen skizziert hat, kommt der Historiker auf Bemühungen im Verborgenen zu sprechen: „Auf dem gesamten Kontinent haben christliche Institutionen in der Tat jüdische Kinder und in einigen Fällen auch jüdische Erwachsene versteckt“ (S. 449).

Das Schweigen des Papstes

Papst Pius XII. erfuhr aus zahlreichen Quellen vom Vernichtungsfeldzug. Der Führer der ukrainischen Unierten, Metropolit Scheptyckyj, hatte die in Ostpolen einmarschierenden Deutschen als Befreier vom Sowjet-Joch begeistert willkommen geheissen. Im August 1942 schrieb er jedoch, jetzt sähen alle ein, „dass das deutsche Regime vielleicht böser und diabolischer ist als das bolschewistische… Die Zahl der in unserer Region umgebrachten Juden liegt sicher höher als 200 000“.

Der Papst antwortete dem Metropoliten – auf die Ermordung der Juden ging er mit keinem einzigen Wort ein. Die Angst vor einer Bombardierung Roms trieb ihn um, wie westliche Diplomaten, von seinem hartnäckigen Schweigen erbittert, notierten. Der britische Gesandte Osborne forderte den Heiligen Stuhl zum Protest auf und wurde beschieden, „der Papst könne nicht ‚bestimmte’ Grausamkeiten verdammen“. Friedländer bedauert ausdrücklich, dass der Vatikan wichtige Akten noch unter Verschluss hält. Und zitiert, was der päpstliche Nuntius in Deutschland dem zum Protest bereiten Bischof Preysing sagte: „Nächstenliebe ist schön und gut, aber die grösste Nächstenliebe besteht darin, der Kirche keine Schwierigkeiten zu bereiten.“

Kirchenführer versagten

Der Autor stellt heraus, was 65 Jahre später schwer nachvollziehbar ist: „Nicht eine einzige gesellschaftliche Gruppe, keine Religionsgemeinschaft, keine Forschungsinstitution oder Berufsvereinigung in Deutschland und in ganz Europa erklärte ihre Solidarität mit den Juden“ (S. 19). Viele hätten nach den enteigneten Gütern gegiert. So konnten sich „nationalsozialistische und mit ihnen verwandte antijüdische politische Strategien bis zu ihren extremsten Konsequenzen entfalten“ – ohne nennenswerte Gegenkräfte.

Warum gab es von Kirchenführern so wenig Widerstand gegen die Shoah? Friedländer hält fest, das Schweigen des Papstes habe zum Ausbleiben offener Proteste katholischer Geistlicher beigetragen. Christen hätten von Geistlichen keine Anleitung zur Pflicht, Juden zu helfen, erhalten und so auch Verhaftungsaktionen und Deportationen nicht behindert. Zudem unterschieden die meisten Christen die „gewöhnlichen Juden“ von den zum Christentum übergetretenen; der winzigen Minderheit galt die meiste Aufmerksamkeit.

Fundamentale Ungleichheit hingenommen

Katholische wie protestantische Kirchenführer hätten in den meisten Staaten eine Gesetzgebung hingenommen, die Juden sozial und wirtschaftlich diskriminierte, schreibt Friedländer. „Diese Doktrin der fundamentalen Ungleichheit von Christen und Juden (…) schuf eine ‚Grauzone’ für das individuelle christliche Gewissen.“ In dieser Zone konnten laut Friedländer altes „Misstrauen und Verachtung gegenüber Juden (…) etwaige Antriebe von Mitleid und Nächstenliebe ganz leicht aufwiegen“ (S. 604).

Stillschweigend unterstützten „Hunderttausende (möglicherweise Millionen) von Deutschen und anderen Europäern“ das Treiben der Nazis. Nicht nur Angst habe die Menschen passiv bleiben lassen, sondern auch „das Fehlen jeder Identifizierung mit den Juden und das Ausbleiben entschiedener und nachdrücklicher Ermutigung zur Hilfeleistung für die Opfer von seiten der führenden Vertreter der christlichen Kirchen und Führung der Widerstandsbewegungen“ (S. 507).

Entschlossene Israeli

Die damalige Verlassenheit der Juden, denen der Himmel verschlossen schien, wirkt heute nach in der Entschlossenheit der Israeli, sich selbst zu helfen, sich zu verteidigen und militärische Mittel einzusetzen. Hitlers „Mein Kampf“ ist in arabischen Staaten ein Bestseller. Wer kann den Juden verargen, dass sie die aktuellen Hasstiraden gegen den Staat, den die Völkergemeinschaft ihnen nach 1945 zugestand, ernst nehmen?

Mehr zum Buch von Saul Friedländer „Die Hölle, das sind wir: Der Holocaust als Mahnung“

Datum: 27.01.2007
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch

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