Wie soll der demokratische Rechtsstaat dem Islam begegnen?

Islam

Im Abstimmungskampf um das Anerkennungsgesetz im Kanton Zürich spielt der Umgang mit den moslemischen Organisationen eine Schlüsselrolle. Die Grundfrage dazu lautet aber: Wie soll der demokratische Staat überhaupt mit der immer stärker werdenden islamischen Minderheit umgehen? Kann sich diese überhaupt in unser demokratisches System einordnen?

Die Luzerner Juristin Jolanda Stadelmann referierte zu diesem Thema an der Tagung des Fachkreises „Recht“ der VBG am 8 November 2003 in Zürich. Vor den versammelten Juristinnen und Juristen verwies Stadelmann gleich zu Anfang auf die Tatsache, dass im Kanton Luzern zum Beispiel der moslemische Religionsunterricht an zwei Schulen bereits Tatsache sei. Auch weitere Kantone würden sich früher oder später mit diesen und ähnlichen Anliegen der moslemischen Minderheit zu befassen haben.

„Die Schweiz ist eine Einwanderungsgesellschaft“, stellte Stadelmann einleitend fest. Und der Islam sei in unserem Land bereits zur zweitgrössten Religions-Gemeinschaft nach den Christen geworden. Wie aber soll jetzt der Staat mit dieser Religionsgemeinschaft, an der uns vieles fremd ist, und die ein Staatsverständnis kennt, das unserem demokratischen System zuwiderläuft, umgehen.

Die Juristin unterschied dazu fünf grundrechtspolitische Konzepte. In der Schweiz und in Deutschland sei eine

Politik der Neutralität

gegenüber den Religionen – christlichen und nichtchristlichen – vorherrschend. Diese Politik wolle grundsätzlich kein religiöses Bekenntnis fördern, aber auch keines behindern. Die Religionen sollten Freiräume haben, ihre Kulte ausüben. „Neutralität“ kann heissen, dass keine Religion unterstützt wird oder aber alle gleichmässig. Die Schwierigkeit, das Prinzip umzusetzen, äussert sich zum Beispiel bei Kruzifixurteilen. Ist der Staat neutral, indem er das Kruzifix in der Schulstube duldet, oder aber wenn er es verbietet. Mit welcher Entscheidung verhält sich der Staat tolerant?

Ein Problem äussert sich dort, wo es um das Gewährenlassen von Religionsgemeinschaften mit totalitären und fundamentalistischen Zügen geht. Die Tendenz geht heute dahin, dass der Staat nur eingreift, wenn die Organisation sich sozial schädlich oder gar kriminell verhält. Was aber soll er tun, wenn Intoleranz gegen innen, zum Beispiel gegen Frauen – herrscht? Hier gilt der Grundsatz: Wenn die Mitgliedschaft in der Organisation freiwillig ist, soll sich der Staat neutral verhalten. Wenn aber Grundwerte angetastet werden wie das Recht auf körperliche Unversehrtheit, muss er eingreifen.

Die Politik der Identität

Sie zielt auf die Erhaltung der eigenen kulturellen Identität, der Traditionen der Mehrheitsbevölkerung. Aus dieser Haltung heraus kritisiert zum Beispiel der Luzerner Ex-Regierungsrat und Jurist Walter Gut die Urteile gegen Kruzifixe. Denn dieses Symbol ist Ausdruck der Identität einer mehrheitlich katholischen oder doch christlichen Bevölkerung.

Die Politik des Minderheitenschutzes

Sie hat in der Schweiz einen recht hohen Stellenwert. Sie ist Basis für den Schutz zum Beispiel die rätoromanische Kultur. Sie will aber vor allem die eigenen Staatsbürger schützen und nicht die Einwanderer.

Die Politik der Anerkennung

will nicht nur tolerieren, sondern auch schützen. So hat zum Beispiel das oberste Gericht der USA die Kinder von Amischen von den letzten beiden Schuljahren befreit und damit die religiöse Praxis dieser konservativen christlichen Religionsgemeinschaft anerkannt.

Die Politik des Multikulturalismus

zielt auf eine aktive Erhaltung und Förderung der kulturellen Vielfalt unterschiedlichster Bevölkerungsgruppen. Sie wird vor allem von den beiden klassischen Einwanderungsländern Australien und Kanada angewandt. Sie soll der Urbevölkerung, aber auch Einwanderern helfen, ihre kulturelle Identität zu bewahren. Während ein Teil der Konzepte auf Integration oder gar Assimilation setzt, um mögliche Spannungen abzubauen, hat die Politik des Multikulturalismus ein Ja zu den Unterschieden, zumindest wenn sie nicht gegen fundamentale gemeinsame Werte der Gesellschaft verstossen.

Staat unterscheidet öffentliche und private Sphäre

Wenn es um Intervention und Rechtsprechung geht, unterscheidet der Staat zwischen der öffentlichen und der privaten Sphäre. In der Privatsphäre gilt das Prinzip der höchstmöglichen Zurückhaltung des Staates. Wo es um eine öffentliche Angelegenheit geht, ist er strikter als im Privaten. Beispiel: In der Strafanstalt Regensburg ging es darum, ob den Moslems Möglichkeiten für das Freitagsgebet gegeben werden müssen. Das Bundesgericht hat dies bejaht. Allerdings fragt es sich, wieweit es überhaupt möglich ist, solche Rechte allen zu gewähren. So ist zum Beispiel die muslimische Forderung, auf öffentlichen Friedhöfen keine muslimischen Gräber aufzuheben, nicht praktikabel. Ein Bundesgerichtsurteil hat hier den Anspruch auf ewige Friedhofsruhe nicht anerkannt. Es hat aber auf die Möglichkeit verwiesen, dass Muslime private Friedhöfe errichten, wo ihre Religionsfreiheit nicht beeinträchtigt ist.

Der Anspruch, dass in der öffentliche Schule die Glaubens- und Gewissensfreiheit nicht beeinträchtigt werden soll, steht nicht (mehr) in der Bundesverfassung. Das Aufhängen von Kruzifixen gilt sogar seit 1993 als verfassungswidrig. Das Bundesgericht hat auch entschieden, dass das Tragen des Kopftuches bei einer Lehrerin verboten werden kann. Bei Schülerinnen wird das Kopftuchtragen allerdings toleriert, wie auch andere religiöse Symbole. Auch die Dispens von Moslems vom Religionsunterricht ist möglich, und muslimische Schülerinnen können sich laut Bundesgerichtsentscheid vom Schwimmunterricht dispensieren lassen. Grundsätzlich müssen Staat und Schule neutral sein, Kinder und Eltern sollen dagegen möglichst grosse Freiheit haben.

Islamische Privatschulen zulassen?

Sollen auch islamische Privatschulen zugelassen werden? Grundsätzlich ist ein Verbot nicht möglich, aber die Anforderungen müssen relativ hoch sein. Die Schule muss mindestens den Standard einer staatlichen Schule haben.

In der Schweiz steht nach wie vor das Schächtverbot zur Diskussion. Der Staatsrechtler Kälin beurteilt es als problematisch. Er plädiert für eine Aufhebung des Verbotes mit (Qualitäts-)Auflagen, die auch überwacht werden. Ein Verbot der Polygamie würde zwar nicht gegen ein Grundrecht verstossen, doch die Schweiz anerkennt im Ausland geschlossene polygame Ehen. Sie schafft den Spagat, indem sie nur den Nachzug einer Ehefrau gestattet.

Tolerant gegen Intolerante?

Zur Diskussion stand die Frage nach der Gültigkeit des Grundsatzes „Keine Toleranz gegenüber den Intoleranten“. Könnte das etwa heissen, dass in unserem Land keine Moscheen gebaut werden dürfen, solange in islamischen Ländern der Bau von Kirchen verboten ist? Das Problem: Wir würden dabei die Religionsfreiheit einer Religionsgemeinschaft einschränken. Ist das legitim, nur weil andere das auch tun? Nach unserem Rechtsverständnis nicht. Ein Diskussionsteilnehmer erwähnte dazu, der Islam habe ein klares Staatsverständnis, nicht aber das Christentum. Im Islam gebe es nur die Einheit von Religion und Staat. Beim Christentum stehe dagegen die Trennung von Staat und Religion im Vordergrund. Und das macht natürlich die Entscheidungen schwieriger. Ein weiterer Teilnehmer meinte dazu: Wer selbst weiss, wo er steht, kann toleranter gegen andere sein. Grundsätzlich kann das auch für den Staat gelten. Seine Toleranz gegenüber Menschen aus intoleranten Staaten würde somit zu seiner Stärke.

Quelle: Livenet/ VBG

Datum: 11.11.2003
Autor: Fritz Imhof

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