Terrorismus – nicht vom Elend gespiesen

Nazli Ilicak
François Furet
Koran

Wenn zwei Jahre nach dem 11. September 2001 die Frage nach den Hintergründen und dem Nährboden des Terrorismus wieder aufkommt, sollte ein verbreiteter Fehler korrigiert werden: dass Terrorismus sich aus Elend speist, durch unerträgliche Lebensbedingungen provoziert wird. Dafür plädiert der Psychologiedozent Urs Aeschbacher in der Neuen Zürcher Zeitung.

Die gängige These wurde nach den Attentaten von New York und Washington wieder und wieder vertreten: „Nicht im Islam, in der Ungerechtigkeit wurzelt der Terror“, überschrieb etwa die Basler Zeitung im November 2001 einen Beitrag der ‚aufgeklärten‘ türkischen Muslimin Nazli Ilicak. Die Meinung, Fanatismus erwachse aus Armut, lag unmittelbar nach den Anschlägen auch für den Nahostspezialisten Arnold Hottinger nahe.

Hottinger sagte der Berner Zeitung (14. September 2001), man finde die Attentäter in Krisengebieten wie Palästina, Irak und Afghanistan: „Wenn man nichts mehr zu verlieren hat, ist man zu allem bereit.“ Wenige Tage später wusste es die Welt besser (wogegen in arabischen Ländern noch lange eine Verschwörung von Feinden des Islam behauptet wurde): Die Terroristen gehörten der Al-Qaeda an – und die meisten waren Saudis. Die Ermittlungen zeigten dann, dass sie keineswegs Elendsverhältnissen entsprungen waren.

Trotzdem, so die NZZ, behaupten führende Politiker wie der deutsche Ausseminister Joschka Fischer und einflussreiche Autoren wie der Sozialist Jean Ziegler weiterhin, dass „fanatische Terrorakte letztlich im Elend wurzeln“. Ziegler meint in seinem neusten Buch nach gut materialistischer Denkweise, dass „der religiöse Fanatismus, der Integralismus jeglicher Provenienz - sei er christlich, jüdisch, islamisch, hinduistisch oder was immer - sich aus Elend und Ausgrenzung speist“.

Terror – zuerst in Europa, in der Französischen Revolution

Urs Aeschbacher findet diese These „in der von Ziegler behaupteten Allgemeinheit unhaltbar“ – und geht zuerst in die europäische Terrorgeschichte zurück. „Die europäische Geschichte kennt zur Genüge fanatische Terrorbewegungen, die keineswegs aus dem Elend, sondern mitten aus dem Bürgertum stammen.“ Laut dem Historiker François Furet bringt gerade die Demokratie paradoxerweise Menschen hervor, „die das soziale und politische System verabscheuen, in das sie hineingeboren sind; die die Luft hassen, die sie atmen“. Wenn zu solchem Selbsthass noch „ideologische Ergriffenheit, Gruppendynamik und Pathos der Tat“ hinzuträten, könne jederzeit eine „kompromiss- und rücksichtslose revolutionäre Leidenschaft“ entstehen.

Die französische Revolution durchlief eine schreckliche Phase des Terrors: Robespierre, ein Jurist aus gutem Haus, wollte alle, die seine Auffassung nicht teilten, mit der Guillotine ausrotten. Laut Aeschbacher kamen auch die „Anführer und die Hauptprotagonisten des NS-Terrors in der Weimarer Republik und im Dritten Reich nicht aus dem Elend“. Ihr Hass auf Juden, Liberale und Kommunisten entsprang einer Idee, von der sie besessen waren.

Terroristen hatten „überdurchschnittlichen Berufschancen“

Auch die Attentäter des 11. Septembers waren keine verzweifelten Burschen von der Strasse, sondern, so Aeschbacher, „gut ausgebildete Leute mit überdurchschnittlichen Berufschancen. Ihr Anführer Atta entstammte dem gehobenen Mittelstand Kairos. Omar Sheikh, der Atta das letzte Geld überwies, hatte in London gute Schulen und eine Eliteuniversität durchlaufen. Und auch der Drahtzieher Usama bin Ladin entstammte bekanntlich nicht dem Elend, sondern einer der reichsten Familien der Welt. Nach allem, was man aus Bekenner- und Hetzvideos sowie schriftlichen Äusserungen dieser Leute weiss, ging bzw. geht es ihnen um Religion. Es handelt sich um islamistische Überzeugungstäter.“

Nach Aeschbachers knapper Analyse wollen die Islamisten den Gottesstaat. „Jede Gesellschaft, in welcher nicht nach dem Buchstaben von Koran und Scharia gelebt und gerichtet wird, gilt ihnen als verderbt und daher nicht existenzberechtigt. Als Quelle dieser Verderbnis betrachten sie vor allem die westliche Moderne mit ihren menschengemachten Gesetzen, ihrem Individualismus und ihrer Liberalität, ihrer hedonistischen Lebensart. Diesem Westen, und vor allem und zunächst dessen amerikanischer Führungsmacht, haben sie tödliche Feindschaft geschworen.“

Aufrufe zum Töten im Koran

Die Fanatiker beziehen sich auf Fluchworte im Koran, in denen zur Ermordung von „Ungläubigen“ aufgerufen wird. „Wer, wie die Islamisten, überzeugt ist, dass der allgegenwärtige Einfluss des Westens den Islam verdirbt, wird aus solchen Versen leicht einen göttlichen Mord- und Zerstörungsbefehl herauslesen. Dass sie dabei die ebenfalls vorhandenen Aufrufe zu Frieden und Toleranz in ihrer heiligen Schrift ignorieren und sich schliesslich in jedem Sinne ausserhalb der Menschlichkeit stellen, haben sie durchaus mit Fanatikern anderer Religionen gemeinsam (auch mit ‚christlichen‘)“, schreibt der Psychologiedozent.

Die Extremisten kämpfen indes nicht nur gegen den technologisch überlegenen, unverschämt reichen Westen und die Globalisierung. Sie wollen auch die islamische Welt auf den Kopf stellen, weil sie die eigenen Gesellschaften und Regimes als verdorben ansehen. „Und wie immer stellt der Aufruf, mit totalem persönlichem Einsatz in einer verschworenen Gemeinschaft eine rettungslos morsche Gegenwart durch eine bessere neue Welt ersetzen zu helfen, besonders für junge Menschen ein starkes und verlockendes Identitätsangebot dar.“ Aeschbacher verweist auf die Erfolge der Islamisten bei Studentenwahlen an muslimischen Universitäten: „Radikale Idealisten haben selten Nachwuchsprobleme.“

Schiitische Verehrung für jene, die ihr Leben geben

Was junge Menschen, die gute Chancen fürs Leben haben (bessere als ihre Landsleute), zum Äussersten treibt und zu Selbstmordattentätern werden lässt, ist im Letzten gleichwohl rätselhaft. Der Terrorismusexperte Walter Laqueur vermutet „Menschen, die leicht bereit sind, charismatischen Führern und Heilsbotschaften (wie dem Jihad) zu folgen, deren kritischer Sinn unterentwickelt ist, die besonders begeisterungsfähig sind und mehr als durchschnittlich naiv, die nicht fragen wollen, sondern glauben“.

Im Islam schiitischer Ausprägung werden seit dem 7. Jahrhundert jene verehrt, die sich für die Sache Allahs aufopfern – die Stadtautobahnen in der iranischen Hauptstadt Teheran sind nach solchen Shahid-Helden benannt. Ihnen wurden und werden besondere Privilegien im Jenseits, grössere Nähe zu Allah im Tod zugesprochen. (Der christliche Begriff des ‚Märtyrers‘, des friedlichen, durch sein Gewissen endgültig bestimmten Glaubenszeugen, ist hier nicht am Platz; er wird vollends pervertiert, wenn der Suizid durch eine selbst gewählte Bluttat eintritt).

Durch die Khomeiny-Revolution im Iran, den Krieg mit dem Irak und den Afghanistankrieg breitete sich der Hang zur selbstmörderischen Tat auch unter Sunniten aus. In der Meinung, dass ihnen dadurch grösseres Heil zuteil werde, steigen seit Jahren Palästinenser mit Sprenggürteln in israelische Busse (und ihre islamistischen Lehrer halten sie nicht zurück). Mit dieser religiösen Vorstellung im Kopf steuerten offenbar auch die Attentäter des 11. September die gekaperten Jets ins World Trade Center und ins Pentagon.

Genügen Argumente und die Einladung zur Zusammenarbeit?

Darum kann man sich fragen, ob Aeschbachers Therapievorschläge genügen. Er plädiert dafür, der Verengung auf eine einzige radikale Idee, die jedes Opfer verlangt und rechtfertigt, frühzeitig mit Argumenten zu begegnen. „Im Falle der Islamisten bedeutet das, dass auch die grosse Mehrheit der gemässigten Muslime und vor allem die islamische Geistlichkeit in diese Aufgabe und Verantwortung einzubeziehen sind. Mit Blick auf die bei uns lebenden muslimischen Gemeinschaften bedeutet es die Forderung nach grösstmöglicher Transparenz und Zusammenarbeit in Bezug auf eine Fanatismusprävention auf ethisch-religiöser Ebene.“

Nötig sind wohl auch Analysen, die die enormen Klüfte und Spannungen im Islam angesichts der Globalisierung und der Rückständigkeit seines zentralen Gebiets, der arabischen Welt, erhellen. Der Islam-Experte Vincenzo Oliveti hat im Buch „Terror’s Source, The Ideology of Wahhabi-Salafism and its Consequences“ (Birmingham 2001, 2002), in dem er die Lehre der Wahhabiten darlegt, einen beunruhigend aktuellen Beitrag geleistet.

Der wahhabitische Islam ist die Staatideologie Saudi-Arabiens. Dies bedeutet, dass nicht nur Nicht-Muslime, sondern alle Nicht-Wahhabiten (z.B. Schiiten) Diskriminierung erleiden. Ausserhalb Saudi-Arabiens bezeichnen sich die Anhänger der wahhabitischen Lehre als Salafisten – wie die algerischen Entführer der Sahara-Touristen.

Alte Sicherungen ausgeschaltet

Oliveti sieht die Lehre der Wahhabiten nicht als eine besonders altertümlich-strikte Form des Islam. Er bezeichnet sie im Gegenteil als Sekte: als eine neuere, auf saudischem Boden herangezüchtete, „aggressive und repressive“ Entartung der Religion Mohammeds, welche die alten, von Gelehrten der islamischen Frühzeit eingebauten Sicherungen gegen Fanatismus ausgeschaltet habe.

Die Wahhabiten lehnen laut Oliveti die Überlieferung und die Ijma‘, den verbindlichen Konsens der Gelehrten, ab; sie wollen nichts von allegorischer Auslegung des Koran und von islamischer Philosophie wissen; „sie müssen dem, was irgendjemand sonst denkt, keine Beachtung schenken“. Nach der Analyse ist die Bewegung instabil und ihre weitere Entwicklung unabsehbar.

Salafistische Indoktrinierung

Die erste Ölkonzession des Herrscherhauses Saud an Standard Oil of California datiert von 1933. Die Wahhabiten haben die heiligen Stätten in Mekka und Medina in ihrer Hand. Mit den Geldern aus dem Erdölexport wurde der Fanatismus seit den 70er Jahren in alle Welt getragen. Zehntausende von Moscheen und Koranschulen wurden errichtet, um den wahhabitischen Islam von Indonesien über Zentralasien und Europa bis nach West- und Südafrika gegenüber älteren, toleranteren Auslegungen der islamischen Tradition durchzusetzen.

Viele der in Europa wirkenden Imame (muslimische Gemeindevorsteher) haben in Saudi-Arabien studiert, auch gebürtige Europäer können sich der Wucht der wahhabitischen Lehre nicht entziehen. Laut dem Umschlagtext von Olivetis Buch „kontrolliert die salafistische Bewegung Hunderte von religiösen Schulen, Waisenhäusern und andere Organisationen auf der ganzen Welt, in welchen jungen Menschen diese neue und hasserfüllte Sicht der Welt eingetrichtert wird“.

Erst mussten Bomben in Riad hochgehen...

Schon vor dem 11. September galt der Saudi-Staat, was Menschenrechte betrifft, als einer der repressivsten der Welt. Doch erst nach den Anschlägen erhöhten die USA den Druck auf die Regierung Riad, den Geldfluss zu Stiftungen zu stoppen, die fanatische Aktivitäten finanzieren.

Und erst nach den Terror-Anschlägen von Riad im Mai 2003 begann die saudische Regierung, entschlossen gegen Extremisten im eigenen Land durchzugreifen. Waffenverstecke wurden ausgehoben und Gruppen von Fanatikern festgenommen, wobei es oft zu Schiessereien kam. Viele Geistliche, die Intoleranz und Hass predigten, wurden ihres Amtes enthoben.

Bassam Tibi: Islamismus wird in Westeuropa verniedlicht

Washington hat dem Terrorismus den Krieg erklärt. Für Westeuropa dagegen diagnostiziert der in Deutschland lehrende Islamprofessor Bassam Tibi eine „Verniedlichung des Islamismus“. Die deutsche Aufregung über die Schandtat „liess sichtlich schnell nach“, schrieb er ein Jahr nach den Anschlägen im St. Galler Tagblatt.

Tibi wendet sich gegen den führenden Philosophen Jürgen Habermas, der zu uneingeschränkter Toleranz gegenüber „fremden Zumutungen“ aufgerufen und statt der Islamisten Präsident Bush angeklagt hatte: „Hierbei wird nicht erkannt, dass Islamisten Rechtsradikale und Terroristen sind. Für den Umgang mit ihnen benötigt man keine Sentimentalisierung, sondern Sicherheitspolitik. Im Geist des Gutmenschen betreiben diese Europäer aber lieber Selbstbezichtigung, anstatt sich ihrer Verantwortung bewusst zu werden und die Dinge zu verstehen.“

Livenet-Artikel „Selbstmordattentäter sind keine Märtyrer“: http://www.livenet.ch/www/index.php/D/article/157/7061
Religiöse Intoleranz in Saudi-Arabien: http://www.livenet.ch/www/index.php/D/article/157/6495
Ernüchterung nach den Anschlägen in Riad, Mai 2003: http://www.livenet.ch/www/index.php/D/article/152/8127

Datum: 08.09.2003
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch

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