Wenn das „Haus des Islam“ zerfällt

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Nach dem 11. September 2001 haben sich Vertreter des Islam im Westen und Wissenschaftler mit allen Kräften bemüht, den friedlichen Charakter des Islam herauszustreichen. Sie haben die Gewaltbereitschaft der Islamisten scharf vom friedfertigen Charakter des Islam als Religion abgesetzt.

Allerdings ist der Islam die Weltreligion, die derzeit mit allen anderen grossen Religionen im Konflikt liegt – zum ersten Mal in der Geschichte. Dies schreibt Akbar Ahmed, ein führender Experte des zeitgenössischen Islam, in einem Essay für den Online-Dienst der BBC. Er führt diese Tatsache auf ein „einzigartiges Zusammentreffen“ verschiedener geopolitisches Faktoren zurück.

Ahmed, der an der American University in Washington den Lehrstuhl für internationale Beziehungen innehat, zählt die Konfliktregionen auf: Mit dem Judentum ist der Islam im Nahen Osten im Clinch, mit dem Christentum auf dem Balkan, in Nigeria, Sudan und sporadisch auf den Philippinen und in Indonesien. Mit Hindus liegen Muslime in Südasien im Streit; die Buddhisten gegen sich aufgebracht haben die Taliban, als sie die Buddha-Statuen von Bamian sprengten. In der chinesischen Westprovinz Xinjang kämpfen uigurische, islamisch motivierte Rebellen gegen die gelbe Übermacht.

Globalisierung entwurzelt

„Der Islam ist die eine Weltreligion, die auf Kollisionskurs mit ihren Nachbarn zu sein scheint.“ Die Frage nach dem Warum beantwortet Ahmed zum einen mit der Vermutung, dass „wir in eine Welt eintreten, der die Ehre abhanden kommt“ (‚post-honour world‘). In der raschen Globalisierung seien zahllose Menschen ihrer Ehre beraubt und die Grundlagen traditioneller Gemeinschaften erschüttert worden. Grosse Gruppen würden entwurzelt und verlören dabei das Verständnis für die Probleme anderer, schreibt Ahmed. „Sie entwickeln Intoleranz und bringen sie wütend zum Ausdruck.“

Dies sei nicht nur ein Problem islamischer Länder, schreibt der Islam-Gelehrte. „Keine Gesellschaft ist immun.“ Auch Präsident Bush habe nach dem 11. September zu Begriffen von verletzter Ehre und entsprechender Vergeltung gegriffen.

Muslimisches Leiden nach dem 11. September

Ahmed bringt zum anderen auch eine islamische Innenansicht der religiösen Konfrontation. Er erwähnt die Muslime, die beim Anschlag aufs World Trade Center umkamen. Einer von ihnen war sein Cousin. Dessen Vater „stand wie Hunderttausende von Muslimen unter Schock und empfand Abscheu über das Gemetzel.“ Aber friedfertige Muslime wie er, schreibt Ahmed, „leiden doppelt, weil dieses Gemetzel im Namen unserer Religion begangen wurde“.

Das 21. Jahrhundert werde im Zeichen des Islam stehen, meint der Experte, „for better or for worse“, zum Guten oder zum Schlechten. Das habe der 11. September aufgezeigt. Die Terroristen hätten einen der grössten Widersprüche des Jahrhunderts geschaffen: „Der Islam, der sich selbst als eine Religion des Friedens versteht, wird jetzt in Verbindung gebracht mit Mord und Zerstörung“. Dies erschüttert das islamische Selbstverständnis zutiefst.

Haus des Islam – Haus des Krieges

Ahmed greift zur Verdeutlichung seiner These auf ein Begriffspaar zurück, das den Muslimen seit ihrer Frühzeit zur Einteilung der Welt diente: den Gegensatz zwischen dem ‚dar al-harb‘ dem Haus des Krieges, den Ländern, wo der Glaube an Allah das Leben nicht prägt und deshalb Unordnung und Anarchie herrschen, und dem ‚dar al-Islam‘, dem Haus des Islam, wo die Unterwerfung der Menschen unter Allah nach Mohammeds Lehre sich durchgesetzt hat (oder durchgesetzt wurde), das Gemeinwesen bestimmt und ein wohl geordnetes Leben (Frieden nach islamischem Verständnis) ermöglicht.

Den Rest der Welt islamisch ‚befrieden‘

Dass der prominente Gelehrte diese territorial gemeinte Unterscheidung zwischen den beiden Häusern aufgreift, ist bedeutsam. Denn hierzulande wurde sie in der Diskussion über die Weltsicht des Islam meist verschwiegen oder als mittelalterlich und überholt abgetan. Ziemlich einsam standen bisher jene christlichen Islam-Kenner da, die darauf hinwiesen, dass damit islamische Mission gerechtfertigt wurde und wird: nämlich der Versuch, Land um Land dem ‚Haus des Islam‘ zuzuführen und so die ganze Welt zu ‚befrieden‘.

Dabei sprechen etwa die Versuche indonesischer Jihad-Milizen, die alteingesessenen Christen von den Molukken-Inseln zu vertreiben, ja die Inseln zu säubern, eine deutliche Sprache. Die radikalen Islamisten in Südostasien träumen davon, aus mehreren Ländern einen grossen Staat zu schaffen, in dem die Scharia, das islamische Gesetz, gilt. Auch in Afrika provozieren Islamisierungsbestrebungen blutige Konflikte. In Europa versuchen Gelehrte eine mit nationalen Gesetzgebungen kompatible islamische Rechtsprechung zu etablieren.

Die Milliarden saudischer Petrodollars, die seit den siebziger Jahren weltweit in den Bau von Moscheen und Koranschulen gesteckt wurden, zeigen den Willen, von Mekka aus den strikten Islam zu verbreiten. Und dass viele Muslime sich grundsätzlich nicht mit einem Staat Israel mitten in der arabischen Welt abfinden wollen, hat nicht nur mit der Bedeutung Jerusalems zu tun, sondern auch mit der Meinung, ein Land, das einmal der Ordnung Allahs unterworfen war, dürfe nie mehr in die Hände von Nicht-Muslimen fallen.

‚Muslime fühlen sich überall belagert‘

Der Islam-Professor Akbar Ahmed spricht nun aber ganz anders als die erwähnten christlichen Islam-Interpreten von den beiden Häusern. Er meint nämlich im Blick auf die 25 Millionen im Westen lebenden Muslime, die islamische Teilung der Welt in einen harmonischen und einen unruhigen Bereich habe in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ihren Sinn weitgehend verloren. „Muslime können ihre Religion in den USA und anderen Ländern frei praktizieren und es geht ihnen gut. Dagegen wurden sie im Irak verfolgt.“

Durch die vermehrte Kommunikation realisieren heute auch Muslime in islamischen Ländern zunehmend, dass sie weniger frei sind und weniger aus ihrem Leben machen können, als in einer nicht-islamischen, säkularen Gesellschaft möglich wäre. Zu alledem geschahen vor eineinhalb Jahren die Terroranschläge von New York und Washington: „Nach dem 11. September ist die Unterscheidung völlig verschwunden. Überall fühlten sich die Muslime belagert. Die ganze Welt war ‚dar al-harb‘, Haus des Krieges geworden.“

Die ganze Welt als ‚dar al-harb‘ – und nun suchen gar westliche Truppen das islamische Kernland Irak zu erobern: Die Araber, die die Mitte der islamischen Weltgemeinschaft zu sein beanspruchen, stehen vor einer Katastrophe. Die Neue Zürcher Zeitung schreibt in einem Leitartikel zum Thema: „Als Alternative zur Resignation und zur Ratlosigkeit, welche die arabische Politik heute prägen, bieten sich der Islamismus und der Terrorismus an.“

Einfühlsamer Dialog nötig

Ist das ‚Haus des Islam‘ nicht mehr als eine Illusion? Akbar Ahmed gehört zu den im Westen lebenden Muslimen, die – auf ihre Weise – an dieser Vision einer durch den Islam zum Frieden geleiteten Welt festhalten.

Ahmed fordert dringend den Dialog zwischen den Kulturen, das „einfühlende Verstehen anderer Zivilisationen“. Nur so könne den zerstörerischen Begleiterscheinungen der Globalisierung begegnet werden. Gemeinschaften müssten lernen, einander zu vertrauen. Dafür müssten die Machthaber nicht nur im Westen, sondern „auch in Kairo, Islamabad, Kabul und Teheran“ ihre Strategien überdenken.

Hoffnung auf Gerechtigkeit und Mitgefühl

Ansätze zum fruchtbaren Dialog sieht der Islam-Gelehrte in der Geschichte (Maurenreich in Südspanien, Grossreichs Akbars des Grossen in Indien) und aktuell in respektvollen interreligiösen Gesprächen. Ahmeds Wunsch-Formel für das neue Jahrtausend enthält realistischerweise viele ‚Wenn‘: „Wenn Gerechtigkeit und Mitgefühl in der muslimischen Welt aufblühen – und dies wahrgenommen wird –, wenn ihre Herrscher integre Persönlichkeiten sind und wenn Muslime ihre Religion ehrenvoll praktizieren dürfen, dann wird der Islam ein guter Nachbar sein für Nicht-Muslime, die ausserhalb seiner Grenzen leben.“ Und auch die Nicht-Muslime innerhalb seiner Grenzen könnten dann, schreibt Ahmed, ein gutes Leben erwarten.

Gleichberechtigung – auch für Nicht-Muslime

Damit deutet er an, dass Christen (wie Angehörige anderer Religionen) in islamischen Ländern rechtlich zurückgesetzt sind. Und oft leben sie in noch ärgeren Umständen: unterdrückt, an den Rand gedrängt, wenn nicht gar brutal verfolgt. Und das nicht erst seit der Konfrontation des Islam mit westlichen Mächten und der Globalisierung. Wenn Iraner heute Jesus Christus als Retter und als Herrn der Geschichte erkennen, sich taufen lassen und zu ihrem Glauben stehen, müssen sie mit der Ermordung durch die Geheimpolizei der Islamischen Republik rechnen.

Eine Reaktion auf den Beitrag Ahmeds, von der BBC ins Internet gestellt, weist auf die kleinen nicht-islamischen Bevölkerungsanteile in den meisten Ländern des ‚dar al-Islam‘ hin und vergleicht sie mit den grossen Minderheiten in nicht-muslimischen Ländern. Daran sei der Grad der Toleranz abzulesen: „In den meisten islamischen Ländern müssen Minderheiten entweder fliehen oder zum Islam übertreten.“

Akbar Ahmed verschweigt, dass die Freiheit, die Religion zu wählen, im ‚dar al-Islam‘ dem Einzelnen traditionell nicht gewährt wird. Aber erst dann, wenn muslimische Geistliche, Machthaber und Gesellschaften diese Freiheit gewähren, begeht die islamische Welt tatsächlich den Weg des Friedens.

Leserbriefe

Datum: 01.04.2003
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch

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