Lernstörungen bei Kindern

Werden die Gründe angegangen oder vernebelt?

In der Westschweiz haben religiöse Gruppen und Lehren mit therapeutischem Anspruch Auftrieb. Darunter zählen Fachleute auch die esoterische Behauptung von den sogenannten Indigo-Kindern: Unangepasste, aufsässige Kinder hätten deshalb Mühe im Alltag und in der Schule, weil sie zu einer neuen, spirituell höheren Gattung Mensch gehörten.
Ein modischer Wahn: Indigo-Kinder
Kinder beim Videogame

Deutsche Wissenschaftler sind inzwischen daran, ganz andere Ursachen für Lernschwierigkeiten mit Experimenten nachzuweisen: Horrorvideos und brutale Computerspiele fördern die Medienverwahrlosung; die heftigen Eindrücke, die auf das Gehirn einhämmern, beschädigen seine Lernfähigkeit.

Die Lernschwierigkeiten ihrer Kinder beunruhigen unzählige Eltern. Sie greifen vermehrt zu Büchern und besuchen Seminare, welche Abhilfe versprechen. Und sie finden dabei immer mehr esoterische Angebote.

Die interkantonale Religions-Informationsstelle (CIC) in Genf verzeichnete letztes Jahr am meisten Anfragen zu ‚therapeutischen’ Lehren, Gruppen, die alternative Heilmethoden in religiösem Gewand anbieten, und Bewegungen, „deren therapeutische Dimension den Kern der Lehre ausmacht“.

Laut Nathalie Narbel vom CIC überschwemmen spirituelle Angebote den Gesundheitsbereich. Vermarktet werden sie etwa in Esoterik-Vorträgen und –Seminaren und an alternativ-medizinischen Salons in Lausanne und Genf.

‚Indigo-Kinder’: Schlüssel zur Zukunft der Menschheit?

Gegenüber Livenet betont Nathalie Narbel, dass oft kaum von einer Bewegung gesprochen werden kann, sondern sich neue bizarre Lehren unorganisiert ausbreiten. Manchmal genügt ein Buch: ‚Die Indigo-Kinder’ verführt Eltern dazu, bei ihren unangepassten und hyperaktiven Sprösslingen eine besondere geistige Wesensart und höhere spirituelle Intelligenz anzunehmen und Medikamente wie Ritalin abzusetzen.

Vor fünf Jahren sei das Buch von Jan Tober und Lee Carroll in den USA erschienen und ins Französische übersetzt worden, sagt Narbel. (Wie eine kurze Internet-Recherche ergibt, hat sich auch im deutschsprachigen Raum eine Gemeinschaft von Indigo-Gläubigen gebildet.)

Die zwei Verfasser versteigen sich zur Behauptung, ein Grossteil der heute geborenen Kinder habe diese höhere Intelligenz, welche an einer indigoblauen Aura um den Kopf zu erkennen sei. Nun gibt es laut Narbel in der Westschweiz bereits „viele Therapeuten, die diese Lehre verbreiten, und jeder macht es auf seine Weise, denn die Lehre ist wirr (incohérent). Dies wirkt sich auf Familien und auf Schulen aus“. Das CIC erhält immer wieder Anfragen zu diesem Bereich der Esoterik.

Jeden Tag vor der Glotze: Virtuell ballern, Horror und Gewaltsex

Die Lernschwierigkeiten vieler Kinder werden heute von Fachleuten auf das so genannte Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom zurückgeführt, mit dem oft eine Überaktivität einher geht (Zappelkinder). Um die Zunahme dieser Störung zu erklären, braucht niemand auf Indigo-Pfade abzuirren; es gibt andere Gründe dafür. Nun sind Intelligenzforscher, Medien- und Hirnwissenschaftler und Kriminologen im deutschen Bundesland Niedersachsen daran, mit Experimenten den Zusammenhang zwischen übermässiger Mediennutzung und schlechten Schulleistungen zu zeigen.

Wie die NZZ am Sonntag berichtet, gilt inzwischen jeder vierte männliche Deutsche im Alter von 12-17 Jahren als „medienverwahrlost“. Diesen Begriff wenden die Fachleute auf jene Jugendlichen an, die regelmässig harte Action-, Horror- oder Pornostreifen sehen oder sich am Bildschirm ihren Weg freischiessen. Dies hat zur Folge, seit Anfang der Neunzigerjahre, dass die Schulleistungen der Jungen gegenüber denen der Mädchen deutlich abfallen – nicht erst im Teenage. „Und die Schere klafft immer weiter auseinander.“

Gelerntes wird durch Gewalteindrücke gelöscht

Die deutschen Forscher sprechen gemäss der NZZ am Sonntag von vier Wirkungsmechanismen: Erstens geht die Zeit vor der Glotze fürs Lernen verloren. Zweitens „behindert das Miterleben nervenzerreissender Aktionen die Verfestigung bereits aufgenommener Lerninhalte oder löscht diese sogar“. Drittens wird durch Videospiele und Gewaltfilme das verhindert, was zum Lernen gehört: Bewegung und andere Sinneserlebnisse wie etwa Gerüche. Viertens gehen die virtuellen Ballerhelden kaum mit Freunden um und reden wenig, sondern neigen zu harschen und Gewalt-Reaktionen.

Eltern haben Verantwortung frühzeitig wahrzunehmen

Eltern tun gut daran, den Medienkonsum ihrer Kinder zu kontrollieren und einzuschränken (was immer schwieriger wird, da Spiele und menschenverachtende Videos leicht auf Scheiben gebrannt und weitergereicht werden). Indem sie sich Zeit für gemeinsame Unternehmungen und Spiele nehmen, können sie Entscheidendes dafür tun, dass die Kids nicht emotional verarmen und in der Schule scheitern. Damit mindern sie auch die Gefahr, dass die Jugendlichen später in Sekten Zuflucht suchen.

Je mehr Verantwortung Eltern übernehmen, desto weniger haben Institutionen wie das oben erwähnte ‚Centre intercantonal d’information sur les croyances’ zu tun. Das CIC, eine in der Schweiz einzigartige staatliche Fachstelle, wurde Ende 2001 von den Kantonen Genf, Waadt, Wallis und Tessin gegründet, nachdem die mörderischen Gruppenrituale der Geheimsekte der Sonnentempler in den Neunzigerjahren die Öffentlichkeit tief verunsichert hatten.

Das CIC erhielt im Jahr 2003 dreimal mehr Anfragen als im Vorjahr (365 gegenüber 114), vor allem von Einzelpersonen und Amtsstellen. Derzeit bearbeitet das kleine Team (180 Stellenprozente) monatlich 35 Anfragen.

Jahresbericht 2003 des CIC: www.cic-info.ch/rapp2003.pdf

Datum: 25.05.2004

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