Sonderfall Europa: Ist Leben ohne Religion besser?

Religion ist nie cool. Religion macht glühend: Walter Kaspar.
Peter Sloterdijk

Die Aufklärung hat nach Ansicht von Kurienkardinal Walter Kasper die religiösen Bedürfnisse der Menschen nicht verdrängen können. Die Verweltlichung in Europa in den letzten 300 Jahren sei eine "Sonderentwicklung, die wir sonst nirgends finden", sagte Kasper in der deutschen Wochenzeitung "Die Zeit".

Nun aber kämen manche Fragen zurück, weil die Selbstbefreiung ihre Verheissungen nicht erfülle und Enttäuschung hervorbringe (der Philosoph Immanuel Kant hatte Aufklärung als „Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“ bestimmt). Es zeige sich, sagte Kasper, "dass der Mensch von seinem Wesen her religiös ist und dass in ihm diese Frage brennt".

Der Präsident des "Päpstlichen Rates für die Einheit der Christen" äusserte sich in einem Streitgespräch mit dem Philosophen Peter Sloterdijk. Dieser widersprach dem Geistlichen in seiner Bewertung der Aufklärung. Die relative Entchristlichung Europas seit der Französischen Revolution sei eine "recht fundamentale Tatsache". Man sollte in ihr nicht nur eine Anomalie sehen. Infolge der Säkularisierung liefere die Religion nicht mehr das "Interpretationsmodell für alle Lebensbereiche". Mit dem Streitgespräch eröffnet die "Zeit", eines der renommiertesten Blätter Europas, eine siebenteilige Serie über die Weltreligionen.

Licht und Schattenseiten von Religion

Nach Kaspers Überzeugung zeigt sich ein wieder erstarktes Interesse an Religion auch in steigenden Besucherzahlen in Rom. Es gebe eine enorme Zunahme der Pilger- und Touristenströme. Allerdings habe die so genannte Wiederkehr der Religionen eine gewisse Ambivalenz. Zum Teil kämen wieder Praktiken in Übung, "die man früher als Aberglauben bezeichnet hätte". Der Präsident des Einheitsrates räumte ein, dass die Religion positive und negative Seiten haben könne. Es gebe "ein Wesen und ein Unwesen der Religion". Letzteres könne bis zur Verbindung von Religion und Gewalt gehen.

Das "Wesen" jedoch liege, im ursprünglichen Sinn des Wortes Religion, in der "Rückbindung" an eine höhere Macht. "Religion ist nie cool. Religion macht glühend", so Kasper. "Natürlich kann das in Fanatismus umschlagen, aber es kann sich auch in Liebe, in den Einsatz für Gerechtigkeit, für Frieden und Freiheit in der Welt umsetzen und so unglaubliche Kräfte freisetzen."

"An geistlicher Macht gewonnen"

Kasper bekannte zugleich, dass der Verlust weltlicher Macht für die Kirche ein "Reinigungsprozess" gewesen sei. Sie habe dadurch an geistlicher Macht, an Vollmacht, gewonnen. "Die Unterscheidung von Politik und Religion hat die Kirche überzeugender und letztlich einflussreicher gemacht", so der frühere Bischof von Rottenburg-Stuttgart. Sloterdijk hatte zuvor festgestellt: "Heute, wo die Kirche viel von ihrer Gewalt verloren hat, nehmen viele Menschen an ihr eher die Geste der helfenden Macht wahr."

Datum: 09.02.2007
Quelle: Kipa

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