Glaube und Religion: Differenzen ertragen?

Der Basler Philosoph Hans Saner schrieb kürzlich mit Blick auf das Zusammenleben verschiedener Kulturen, es brauche dazu mehr als Toleranz. Diese sei zwar gewiss ein Fortschritt gegenüber der Haltung, Andersdenkenden die Köpfe einzuschlagen oder sie gar zu verfolgen. Aber in der Toleranz schwinge stets mit, dass da etwas geduldet wird, was man eigentlich nicht gut findet und innerlich ablehnt. Man erträgt die Anderen bloss, weil die Folgen der Intoleranz noch schlimmer wären.
Hans Saner

Darum fährt Hans Saner fort, was es wirklich brauche, sei Differenzverträglichkeit. Also die Fähigkeit, andere ein Stück weit anders sein zu lassen, auch wenn wir ihre Lebensart und Ansichten nicht teilen. Gewiss braucht jede Gesellschaft eine gemeinsame Rechtsbasis, die das Zusammenleben ihrer Mitglieder garantiert. Doch in diesem Rahmen verbindender Werte müssen wir lernen, trotz Differenzen miteinander auszukommen.

Das betrifft das nahe Zusammenleben verschiedener Kulturen, wenn die eigenen Nachbarn eine andere Sprache reden, einer anderen oder keiner Religion angehören, ihre Kinder anders erziehen, als Mann und Frau anders miteinander umgehen, politisch anders denken, den Garten anders pflegen usw. Solche Unterschiede stören den Wunsch nach einheitlichen Normen, weil dadurch die eigene Lebensart ihre Selbstverständlichkeit verliert. Daher braucht es die Fähigkeit, auf Differenzen nicht empfindlich, sondern verträglich zu reagieren.

Differenzverträglichkeit ist ein Leitwort auch für Religion und Glauben. Jede Ökumene lebt von der Einsicht, dass im Zusammenleben mit Andersgläubigen die gemeinsamen Werte grösser sind als die Differenzen. Das Ziel ist kein religiöser Eintopf, in dem von allem etwas steckt und alle Eigenheiten aufgehoben sind. Sondern es geht um die Kunst, im Blick auf die lebenswichtigen Aufgaben des menschlichen Lebens von unterschiedlichen Voraussetzungen aus sinnvoll zusammen zu arbeiten.

Das Gemeinte betrifft nicht nur unser Verhältnis zu anderen Religionen und Konfessionen, sondern ist immer mehr gefragt im Rahmen der eigenen Glaubensgemeinschaft. Die gemeinsame Taufe ist keine Gewähr, dass alle Kirchenmitglieder in religiösen Dingen dasselbe denken und empfinden. In manchen Fragen fühle ich mich mit Angehörigen anderer Konfessionen näher verbunden als mit Mitgliedern der eigenen Kirche.

Auch viele Katholiken und Katholikinnen glauben nicht rundum so, wie es von den kirchlichen Autoritäten als Einheitsform gewünscht wird. Ähnliche Differenzen erleben manche Eltern im Blick auf den Glauben ihrer Kinder. Soll eine verbindende Basis trotzdem bestehen bleiben, genügt es nicht, andere Gesinnungen knurrend zu dulden, weil man ja nicht anders kann. Gefragt ist die Fähigkeit, Andere auch anders sein zu lassen, wo sie unseren Vorstellungen nicht entsprechen.

Differenzverträglichkeit wirft aber auch die Frage auf, wie weit die Einheit unter den Christen gehen soll. Differenzen akzeptiern, stehen lassen und zusammenarbeiten? Positionen aufgeben? Peter Schmid hat sich Gedanken dazu gemacht.

Für die Einheit der Christen arbeiten – aber wie?

Peter Schmid

Jesus Christus hat Menschen gesammelt, damit sie die kommende Herrschaft Gottes ankündigen und schon jetzt miteinander den Charakter dieser Herrschaft Gottes zur Geltung bringen. Leben und Kraft von Gott sollen die Gemeinschaft der Christen prägen, so dass schon jetzt etwas von seiner guten, segensreichen Herrschaft (die sich erst in Zukunft vollendet) sichtbar und erlebt wird.

Eine Voraussetzung dafür ist Einheit: Jesus diente den Menschen, indem er eins war mit dem Vater. Er rang am Ende seines Wirkens darum, dass die neuartige Gemeinschaft, die er unter seinen Freunden begründet hatte, erhalten bliebe. Er betete, dass ihre Einheit durch den Geist Gottes vertieft würde. - Wenn sie Jesus wahrhaft nachfolgen, seinem Vorbild nachleben, haben Christen auch heute für diese Gemeinschaft der Gläubigen zu beten und daran zu arbeiten, sagt der bedeutende amerikanische Theologe Thomas C. Oden.

Globale Netzwerke

Was vor 2000 Jahren durch Jesus von Nazareth begann, mit zwölf Männern und wenigen Frauen, ist heute die grösste Religionsgemeinschaft der Welt. Aber: Die eine Gemeinschaft, die die Apostel als Zeugen der Auferstehung von Jesus begründeten, zerfiel nach wenigen Generationen in Teile. Die Kirchengeschichte hat eine fast unübersehbare Vielfalt von Gemeinschaften, von Kirchen entstehen lassen, unter anderem weil bestehende Kirchen sich erneuernden Impulsen regelmässig verschlossen. Sie grenzten Abweichler und Erneuerer aus, taten sie in den Bann, verbrannten sie und vernichteten ihre Schriften. Einige Kirchen nehmen sich selbst so wichtig, dass sie anderen das Kirche-Sein absprechen.

Dagegen haben vor allem evangelische Christen im 19. und 20. Jahrhundert den Auftrag von Jesus neu ernst genommen, an der Einheit der Christen zu arbeiten. Nach zwei Weltkriegen wollten diese Christen erst recht beitragen zum Brückenbau zwischen Völkern und Kulturen und das Evangelium global miteinander zur Geltung bringen. 1948 wurde der Ökumenische Rat der Kirchen (ÖRK) gegründet. Die römisch-katholische Kirche blieb ihm fern. Seit Jahren steckt der ÖRK mit Sitz in Genf tief in der Krise, nicht nur finanziell. Die orthodoxen Mitglied-Kirchen gehen zunehmend auf Distanz.

Welche Einheit für heute und morgen?

Dies bringt erneut die doppelte Frage aufs Tapet: Worin besteht die Einheit der Christen? Wie ist dafür zu arbeiten? Der US-Theologe Thomas C. Oden, Professor für Theologie und Ethik an der renommierten Drew-Universität, weist darauf hin, dass Christen unter Einheit ganz verschiedene Dinge verstehen. Und Oden findet, dass gewisse Bemühungen um Einheit dem ursprünglichen, in der Bibel dargelegten Verständnis von Einheit eher entsprechen als andere. (Der Aufsatz Odens findet sich in AIM, der Monatszeitschrift der Indischen Evangelischen Allianz vom November 2002.)

Der amerikanische Theologe kennt sowohl die Genfer Oekumene (er verfolgte schon die Vollversammlung in Evanston 1954) als auch das globale Netzwerk der Nicht-Katholiken, die Weltweite Evangelische Allianz WEA. Er hat die letzte Vollversammlung des ÖRK 1998 in Simbabwe wie auch die Generalversammlung der WEA in Malaysia 2001 erlebt. Indem er ÖRK und WEA voneinander abhebt, zeigt Oden auf, was dem Zusammenhalt, der Zusammenarbeit und der Einheit der Christen förderlich ist.

Organisationen verbinden – Christen miteinander aktivieren

Der ÖRK in Genf ist eine Organisation von traditionellen Kirchen, so genannten Denominationen, die „unter dem Trennenden leiden“. Seine Aufgabe ist laut Oden, Kirchenführungen in einen förmlichen Dialog zu bringen, der zu sichtbarer Einheit führt. Die Weltweite Evangelische Allianz WEA dagegen ist ein Verbund von nationalen und regionalen Kirchenverbänden und Allianzen und evangelischen Missionen und Werken. Sie zielt auf lose Arbeitsgemeinschaft, so dass die Beteiligten miteinander tätig sind in der Verkündigung des Evangeliums und im Aufbau nationaler Bewegungen. Im Raum der nationalen Allianzen steht nicht das organisatorische Verbinden im Vordergrund. Laut Oden gehen die Allianz-Christen davon aus, „dass die Zeit der Denominationen vorbei ist. Sie ziehen die Vielfalt christlicher Arbeit gemäss dem Auftrag von Christus vor und vertrauen darauf, dass der Heilige Geist dem Leib von Christus (der gesamten Kirche; Red.) Einheit bringt.“

Der ÖRK beansprucht das Etikett ‚ökumenisch‘ für sich allein, als die einzige Organisation von Protestanten, die mit den Orthodoxen den Dialog pflegt. Laut Thomas Oden zu Unrecht. Er kritisiert, dass der ÖRK oft „evangelische Anliegen, Missionen, Initiativen und ihr spektakuläres Wachstum ignoriert“. Die Genfer Bewegung habe kaum zur Kenntnis genommen, dass die wachsende Hälfte der weltweiten Christenheit nicht einer liberalen, modernistischen Theologie verpflichtet, sondern bekenntnishaft evangelisch (‚evangelikal‘), charismatisch und pfingstkirchlich geprägt sei.

Aus diesen dynamischen Strömungen habe der der ÖRK zwar einige Vertreter in seine Komitees berufen, doch deswegen könne er noch lange nicht beanspruchen, sie einzuschliessen. „Die (bibelorientierten) Evangelischen haben in ÖRK-Angelegenheiten praktisch nichts zu sagen... Unter den Bürokraten des ÖRK besteht weiterhin starker Widerstand gegen evangelisches Zeugnis, das zur Umkehr ruft.“

Evangelisch inspirierte Anfänge

Dabei waren es vor 150 Jahren Vertreter evangelischer Missionsbewegungen, die ökumenisch zu denken begannen. Diese evangelischen Christen prägten die Frühzeit der ökumenischen Bewegung mit, sagt Oden, aber „Vertreter der liberalen Theologie übernahmen ihre Leitung und verbrauchten ihr Kapital, ihr Ansehen und ihre Stützsysteme mit vermeintlich prophetischen politischen Stellungnahmen“. Die Macht in Genf hatten während vieler Jahre linke Ideologen, die Sympathien für marxistische Regimes und Befreiungsbewegungen pflegten, „über verschiedene Befreiungstheologien phantasierten und Illusionen über globale antikapitalistische Revolutionen hegten“. Darüber hinaus habe der ÖRK laut Oden Formen sexueller Befreiung befürwortet, welche bibelorientierte Evangelische wie auch gute Orthodoxe und Katholiken nicht mit gutem Gewissen bejahren könnten.

Thomas Oden beschreibt den ÖRK als hierarchische Organisation, die Kirchenführungen (jede mit ihrer eigenen Bürokratie) zusammenbringen will. Den Allianz-Christen dagegen widerstrebt zentrale Kontrolle; sie setzen auf örtliche Initiativen, die auf dem Boden der biblischen Aufträge zur Verkündigung und zum Dienst an den Menschen wachsen (Oden spricht von Vertrauen in ‚Grassroots-Leiterschaft‘). Weil die Weltweite Evangelische Allianz WEA fast keinen Apparat habe, sei sie viel flexibler; sie habe weniger Eigenes zu verteidigen. „Sie sieht ihre Aufgabe nicht in der Kontrolle oder Koordination von Leitern, sondern will die vielfältigen Gaben des Heiligen Geistes in Aktion unterstützen. Evangelische Missionen sind im allgemeinen flexibler, weniger hierarchisch und weniger bürokratisch. Daher erscheint die Weltweite Evangelische Allianz besser positioniert als der ÖRK, um die wirkungsvolle Proklamation des Evangeliums im 21. Jahrhundert zu unterstützen.“

Unterstützung für Mächtige – Ermutigung für Gewerbetreibende

Thomas Oden hat an den letzten Vollversammlungen der beiden Bewegungen teilgenommen. Der ÖRK habe 1998 in Harare seine Unterstützung für den korrupten Diktator von Simbabwe bekräftigt und den Schuldenerlass für die ärmsten Länder in einer Weise befürwortet, die dem Missbrauch von Entwicklungsgeldern durch Regierungen Vorschub leistete. Die WEA habe sich in Kuala Lumpur auch für Entschuldung ausgesprochen, aber diese mit Strategien der Förderung von Kleinstunternehmern verbunden. Und sie habe den muslimischen Staatschef Malaysias zu einer klärenden Stellungnahme zur Religionsfreiheit veranlasst.

Allianz-Christen sollten die Kirchengeschichte kennen

Allerdings kritisiert Thomas Oden nicht nur eine Seite. „Weder der ÖRK noch die WEA verkörpern angemessen das Gebet unseres Herrn, dass wir ‚alle eins sein‘ sollen.“ Der Genfer Weltkirchenrat habe den Schatz einer plausiblen ökumenischen Vision verspielt. Die WEA anderseits, in der die Eigenständigkeit der einzelnen Gemeinden hochgehalten werde (Kongregationalismus), habe die „historische Vision von der Einheit der Christen noch nicht genügend erfasst“. Die Evangelischen seien sich auch noch nicht bewusst, wie ihr Zeugnis in der Kirchengeschichte (der Geschichte der ‚alten‘ Kirchen) verwurzelt sei.

Ganzheitlicher Dienst an den Menschen braucht klare Lehre

Nach Odens Einschätzung verbinden die Christen unter dem Dach der evangelischen Allianz die Verkündigung des Evangeliums zunehmend mit ganzheitlichem Dienst an den Menschen, mit Hilfstätigkeit. Zwar will der ÖRK dies auch, sagt Oden, aber er gründe das praktische Handeln der Christen nicht in einer leuchtstarken Lehre der Offenbarung der ewigen Wahrheit durch Gott. Auch die persönliche Beziehung der Gläubigen zu Christus stehe in der Genfer Oekumene nicht im Vordergrund.

Die Evangelischen sehen die Einheit der Christen allein in der Wahrheit des Evangeliums begründet, des Kernstücks der Bibel, die sie als Gottes Wort ernst nehmen. Dagegen widerstrebt es Genfer Ökumenikern (laut Oden ‚stark infiziert vom postmodernen Relativismus-Käfer‘), sich mit Themen wie der Wahrheit der Heiligen Schrift zu befassen.

Weniger Berührungsängste

Oden sieht die Vormachtstellung des ÖRK abbröckeln. Zum einen markieren immer mehr orthodoxe Vertreter Distanz zu Grundlinien der Genfer Ökumene, zum zweiten erkennt heute der Vatikan die WEA als bedeutenden Gesprächspartner an. Es berührt den erfahrenen Beobachter der ökumenischen Szene seltsam, dass Allianz-Evangelische mit Katholiken eher im Gespräch sind als mit liberalen Protestanten. „Die ökumenischen Initiativen auf orthodoxer und römisch-katholischer Seite erkennen neuerdings, dass sie mit Evangelischen, die die klassische christliche Lehre hochhalten, viel mehr gemeinsam haben als mit liberalen Ökumenikern. Sie beginnen zu realisieren, dass sie viel zu viel Energie in einen begrenzten Dialog mit dem schmal abgestützten ÖRK gesteckt haben.“

Unter äusserem Druck rücken Christen – sogar Kirchenleiter – eher zusammen, wie das Beispiel Indiens zeigt, wo der Führer der radikalen Hindus die Christen aufgefordert hat, ihre Heilige Schrift der indischen Kultur anzupassen. Mitte November fand in der Hauptstadt Neu Delhi ein ökumenisches Festival statt. Die alten und die jungen Kirchen, Katholiken, Orthodoxe und Evangelische aller Schattierungen feierten miteinander Christus als den Fürsten des Friedens in einer von Spannungen zerrissenen Gesellschaft. Zum Festival luden der Präsident des Nationalen Kirchenrats, der Präsident der Evangelischen Allianz und der Vorsitzende der Bischofskonferenz gemeinsam ein; so wurde den Indern die Kirche als eine vorgestellt.

Was können evangelische Christen für die Einheit des Leibes von Christus tun? Thomas C. Oden fordert in seinem Aufsatz auf zum Dialog mit denen, die nicht abgefallen sind vom Glauben. „Es kann keinen billigen Frieden des vermeintlichen Dialogs mit denen geben, die vom Glauben abgefallen sind oder sich rasch zum Abfall hin bewegen, indem sie in sexuellen und politischen Aktivismus, in Pantheismus oder in die Lehre der Allversöhnung verfallen“ (Pantheisten unterscheiden Gott nicht von der Welt). Allerdings bewahrheitet sich auch in den Kirchen von heute das Gleichnis Jesu vom Weizen und dem Unkraut, die miteinander aufwachsen bis zur Reife. Oden, der sich im Lauf seines langen Lebens vom modernistisch-liberalen zum orthodox-evangelischen Theologen gewandelt hat, plädiert für offene Augen: Christen sollen wahrzunehmen versuchen, in allen Kirchen, was der Heilige Geist wirkt.

Quelle: Kipa, Livenet

Datum: 23.12.2002

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