„Auch im Glauben brauchen junge Menschen starke Gefühle“

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Junge Menschen suchen starke Erfahrungen, die von den Gefühlen und den Sinnen ausgehen. Das sagt der Religionssoziologe Jörg Stolz, Leiter des Observatoriums der Religionen an der Universität Lausanne.

Die sinkende Religiosität bei jungen Menschen ist seines Erachtens weitgehend auf eine fehlende religiöse Sozialisierung zurückzuführen. Und: Religiosität und Kirchenbesuch sind laut Stolz stark miteinander verbunden.

Valérie Bory: Die traditionellen Religionen verlieren an Terrain. Wie sieht der religiöse Glaube junger Menschen heute aus?
Jörg Stolz: Um Antworten darauf zu finden, muss man die Jungen und die allgemeine "Religiosität" zueinander in Beziehung setzen. Unter den jungen Menschen trifft man auf weniger Religiosität als bei den älteren, wenn man die christliche Religiosität anschaut - also jene von Menschen, die regelmässig zur Kirche gehen und die im Grossen und Ganzen an die Existenz Gottes glauben sowie daran, dass Gott sich durch Jesus Christus geoffenbart hat.

Die Tatsache, dass die heutigen Jungen viel weniger "religiös" sind als die Erwachsenen reifen Alters, hat mit der religiösen Sozialisierung zu tun. Die Ältesten haben in einer Epoche gelebt, in der ihnen die Familie viel religiöse Kultur mitgegeben hat. Im Gegensatz dazu haben die heutigen Jungen sehr wenig religiöse Sozialisierung durch ihre Familie erhalten - das gilt auch für die Schule, wenn auch weniger deutlich. Diese fehlende oder schwache Sozialisierung ist der wichtigste Faktor, der die sinkende "Religiosität" bei den jungen Menschen erklärt.

Was die Glaubensüberzeugungen der Jungen betrifft: Gibt es Unterschiede zwischen Kirchgängern und Kirchenabstinenten?
Ja. Unter den 16- bis 30-Jährigen, die nie zur Kirche gehen, sind immerhin 22 Prozent der Ansicht, dass ein Gott existiert, der seinen Sohn Jesus Christus auf die Welt gesandt hat. Jene unter den 16- bis 30-Jährigen, die von sich sagen, dass sie einige Male pro Jahr zur Kirche gehen, sind bereits zu 53 Prozent dieser Ansicht. Die individuelle Religiosität und der Besuch der Gottesdienste sind stark miteinander verbunden. Heute wird manchmal behauptet, dass Glauben und Kirchenzugehörigkeit zwei ganze verschiedene Dinge sind. Das stimmt so nicht. Es gibt im Gegenteil einen sehr starken Zusammenhang zwischen Gläubigkeit und religiöser Praxis.

Junge Menschen decken ihren Glaubensbedarf stark anderswo als bei den traditionellen Kirchen, sagen Sie…
Ja, da haben wir das ganze Spektrum der so genannt parallelen Religiosität. Davon angezogen werden Menschen, die an Glückbringer glauben, an Hellseher, an die Astrologie, die Magie, die Parapsychologie. Junge Menschen glauben viel mehr an solche Dinge als ältere.

Demgegenüber ist es falsch zu meinen - und es ist dies ein häufiger Fehler, den auch Religionssoziologen machen -, dass in einem allgemeinen Sinne immer dasselbe Niveau von Religiosität existiert. Dieser Ansicht sind jene, die den Menschen als von Natur aus religiös halten und deshalb meinen: Verschwindet eine bestimmte Ausprägung von Religion, taucht gleichzeitig eine andere auf. Das trifft nicht zu. Auf weltweiter Ebene sieht man, so scheint mir, eher das Gegenteil: Das Religiöse verliert an Boden.

Wie erklären Sie sich das?
Weil die Menschen immer weniger religiös sozialisiert sind, ersetzen sie das, was die Religion brachte, durch nichtreligiöse Dienstleistungen. Will man zum Beispiel Schuld bereinigen, so geht man zum Psychoanalytiker. Statt einem Jugendverein in der Kirche anzugehören, macht man in einem Fussballklub mit. Statt an einem Gottesdienst teilzunehmen, unternimmt man einen Spaziergang…

Aber zwischen dem Spaziergang, dem Fussballspiel und der Ausübung einer religiösen Tätigkeit besteht eigentlich kein Zusammenhang. Heisst dies, dass die Welt der Freizeit auch jene Zeiten besetzt hat, die der religiösen Aktivität gewidmet waren?
Ja, in einem gewissen Sinne ist das so. Geht es darum, dem Leben einen Sinn zu geben, so kann die Psychoanalyse als Ersatz des Religiösen betrachtet werden. Dasselbe gilt für die so genannte "Wellness"-Aktivitäten heute: sich um seinen Körper kümmern, sich entspannen, neue Energien finden - für den modernen Menschen hat dies alles fast religiöse Züge.

Wenn ein Rückgang des Religiösen feststellbar ist - gibt es auch eine Zunahme der erklärten Atheisten?
Zwischen einer 1989 gemachten Befragung und einer aus dem Jahr 1999 ist eine leichter Rückgang des Religiösen festzustellen. Das spiegelt die Säkularisierung wieder, die jetzt überall dominiert. Wieviele sagen: Ich bin sicher, dass es keinen Gott gibt? 5 Prozent der 16- bis 30-Jährigen sagten 1999, Gott existiere nicht. Eigentlich ist das ein sehr tiefer Prozentsatz. Er zeigt, dass sich die grosse Mehrheit der jungen Erwachsenen im Unklaren ist: "Ja, möglicherweise gibt es Gott oder ein höheres Wesen, aber ich weiss es nicht." Tatsache ist aber auch, dass in den letzten Befragungen die Zahl der Atheisten tendenziell wächst.

Weshalb sind die Jungen so interessiert an grossen Jugendtreffen?
Eine der Möglichkeiten, jungen Menschen zu starken Erfahrungen zu verhelfen, liegt in der Durchführung grosser Treffen. Da hat es so viele Menschen, die versammelt sind und denselben Glauben teilen, dass fast automatische starke Momente entstehen.

In der modernen Gesellschaft unterscheiden sich die Altersgruppen deutlich voneinander: Was Junge gut und lustig finden, unterscheidet sich immer deutlicher von dem, was ältere Menschen interessant oder schön finden. Die Kirchen versuchen dennoch, für alle da zu sein, gleichzeitig die Jungen und die Alten einzubinden, doch das gelingt immer schlechter. Der Kleidungsstil, die Musik, die Sprache - all das ist anders. Gruppen oder religiösen Bewegungen, die eine ganz bestimmte Altersschicht ansprechen, haben mehr Erfolg.

Autorin: Valérie Bory

Datum: 28.05.2004
Quelle: Kipa

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