Liebe zu Gott

Liebe ist der Sinn des Menschenlebens; sie ist keine »Tugend«, sondern Ergriffensein

Die Liebe ist die Summe aller göttlichen Forderungen, das vornehmste Gebot (Matth. 22,37-40). Diese Forderung tritt nicht erst von aussen an den Menschen heran. Sie ist in seinem Wesen begründet.

Der Mensch ist seiner Herkunft nach gottähnlich. Gott ist Liebe. Daher kommt es dem Menschen zu, zu lieben: das ist die Bestimmung, der Sinn und Zweck, der einzig in Betracht kommende Inhalt seines Lebens.

Das Neue Testament versteht unter Liebe nicht eine »Tugend«, also etwas Angelerntes, etwas, wozu man sich erziehen, was man sich durch Vorhalten eines Gesetzes oder Ideals abnötigen kann. Sondern Liebe ist etwas Urgewaltiges, ein mächtiges Ergriffensein aller Tiefen des Gemüts, ein Mitschwingen aller Seelenkräfte.

Liebe ist nicht eine Angelegenheit blasser Gedanken, sie ist die Sprache des Blutes, sie kommt aus heissem Herzen, sie beherrscht den Pulsschlag des Menschen. Das ist die einfache Bedeutung des alten Wortes: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und von allen deinen Kräften.«

Nur der Schöpfer, und was von ihm kommt, ist würdig der menschlichen Liebe

Weil der Mensch zum Lieben erschaffen ist, kann er nicht anders als lieben. Durch den Riss, der in sein Wesen gekommen ist, ist er aber der echten, ihn über ihn selbst hinaushebenden Liebe nicht mehr fähig; seine Liebe ist meist eine verirrte, gebundene. Er vergeudet seine edelsten Kräfte an Dinge, die dessen nicht würdig sind.

Johannes, der Apostel der Liebe, wirft sich mit der ganzen Wucht seiner Sendung zwischen den Menschen und das, was tief unter seiner Bestimmung liegt: »Habt nicht lieb die Welt, noch was in der Welt ist« (1. Joh. 2,15). Welt heisst hier alles gottferne Tun und Treiben der Menschen; »was in der Welt ist« bezeichnet jedes Ding, sofern es keinen Zusammenhang mit Gott hat; jedes Geschöpf, sofern es vom Schöpfer gelöst ist.

Auch das alles kann ja mächtige Antriebe im Menschenleben hervorrufen, kann das Blut in Wallung bringen, kann ein gewaltiges Spiel der Kräfte bewirken. Aber es ist doch alles zu gering, um ein Menschenleben auszufüllen. Der Adler kann im Käfig von zwanzig Meter Ausmass auch fliegen, aber das ist kein Adlerflug. Der Mensch kann im Bannkreis des Gottfernen sich auch leidenschaftlich regen, unter allerlei Opfern und Hingabe ringen und schaffen - er bleibt damit in einem Umkreis, der ihm zu eng ist. Seine besten, edelsten Kräfte kann er hier nicht entfalten.

Wahrhaft menschliche Ausmasse kommen erst ins Menschenleben, wenn es von der Liebe zum Schöpfer selbst ergriffen ist: Du sollst lieben Gott, deinen Herrn.

Liebe entsteht durch Begegnung

Es kann nicht oft genug gesagt werden, dass das Neue Testament unter der Liebe zu Gott nicht ein blutleeres, gedankenhaftes, gezwungenes Streben versteht, sondern eine heilige Leidenschaft, einen Sturm und Drang ohnegleichen und doch auch tiefste Ruhe, völliges Stillesein, die ganz gelassene Heiterkeit dessen, dem nichts mehr zu wünschen übrigbleibt.

Diese Liebe entsteht wie alle Liebe nur durch eine Begegnung. Ebensowenig wie man einen bloss gedachten Menschen lieben kann, kann man durch religiöse Vorstellungen zur Liebe Gottes gelangen. »Darin besteht die Liebe: nicht dass wir Gott geliebt haben, sondern dass er uns geliebt hat und gesandt seinen Sohn« (1. Joh. 4,10).

In der Person des Sohnes, den er sendet, begegnet der Allmächtige dem Menschen, und unter dieser Begegnung springt der Funke über, entzündet sich das heilige Feuer, sprudelt es auf aus verborgenen Tiefen. Die Liebe entsteht durch Begegnung; sie besteht durch dauernde Berührung. Sie kann nicht fern sein, sie ist ihrem Wesen nach Gemeinschaft.

Auch das schmerzliche Vermissen der Nähe Gottes wird im Neuen Testament Liebe genannt

Und doch gibt das Neue Testament uns das Recht, von einer Liebe zu Gott zu sprechen, auch da, wo der Mensch noch irgendwie von seinem Schöpfer geschieden ist. Auch in der Fremde kann man die Heimat lieben. Diese Liebe äussert sich vor allem in einem tiefen Sehnen, sie ist eine Liebe mit Schmerzen.

Ist sie aufrichtig, so ist sie keine blosse Stimmung. Sie ist Hingabe des Willens, Richtung des gesamten Tuns auf die göttlichen Ziele, die man erkannt hat. Dieser Liebe der Fernen, der Heimwehkranken, der in der Ferne Treuen gilt die Zusage: »Mein Vater und ich werden kommen und Wohnung bei ihm machen.«

Solche nicht mit dem Verstand, sondern mit dem Einsatz aller Kräfte Suchende erleben es gewiss einmal, dass der, den sie suchen, ihnen begegnet. Dann ist ihr Schmerz gestillt, ihr Leid getröstet. Wo verzehrende Sehnsucht war, ist nun Seligkeit. Wo man dürstete, schöpft man aus dem Vollen. Wo man die grosse, heilige Leidenschaft nur ahnte, da ist sie mit unerhörter Gewalt gekommen.

Denn über den Menschen kam der, von dem er herkommt und für den er von Anfang an bestimmt ist. Der Zug zu Gott, der schon immer irgendwie da war, ist jetzt übermächtig geworden über alles andere.

Wo Liebe zum Schöpfer ist, da ist auch Liebe zu seinen Werken

Ist der Mensch einmal der Gottheit nahe, so ist alles in seinem Leben durch die grosse Gottesliebe bestimmt und durchleuchtet. Er liebt die Schöpfung mit ihrer Fülle und Schönheit nicht minder als irgendein anderer, sondern reiner und stärker.

Keiner hat sich in der Natur so ausgekannt, keiner ihren Pulsschlag so unmittelbar gespürt, keiner jeden kleinsten Lebensvorgang in ihr so liebend verstanden wie der Menschensohn. Sein Verhältnis zur Natur ist dadurch so lebendig, dass er in jeder ihrer Bewegungen das Wirken des Vaters schaut: Er lässt die Sonne aufgehen, er nährt die Vögel, kleidet die Lilien, bewahrt das unvorsichtige Sperlingsjunge vor dem Sturz.

Die Liebe ist der gewaltige Zug im Menschen zurück zur oberen Heimat, zum Vater, und darum auch zu allen Werken des Vaters, vor allem zum Menschen.

Datum: 10.12.2009
Autor: Ralf Luther
Quelle: Neutestamentliches Wörterbuch

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