Leben

Leben ist Hoheit

Was Leben ist, kann nicht geschlossen werden aus den Ausdrücken, die dafür in den Sprachen der Bibel stehen. Es hat noch keine Sprache durch ein dafür geprägtes Wort sagen können, was Leben ist, ebenso wie keine Wissenschaft es durch eine Formel hat definieren können.

Dafür stellt das Neue Testament das Leben anschaulich vor uns. Johannes sagt: »In Christus war das Leben«, und Christus sagt selbst: »Ich bin das Leben.« Das Leben, das im Menschensohn war, trat zutage in seiner Hoheit.

Alles Leben hat eine Unabhängigkeit, eine Hoheit gegenüber dem Unlebendigen; je höher ein lebendiges Wesen steht, um so grösser seine Freiheit, sich zu bewegen, zu wirken, zu gestalten (Pflanze, Tier, Mensch; welcher Unterschied auch zwischen Mensch und Mensch!).

Inmitten erstarrter Zeitverhältnisse, wo jeder eigentlich zwangsläufig das wird, was er wird, hat Jesus eine Freiheit sich zu bewegen, eine Hoheit zu handeln und zu gestalten, die eben nur dort ist, wo Leben ist.

Leben ist göttliche Qualität

Die Felsblöcke der Wüste liegen starr und steinern da - der Vogel schwingt sich hoch über sie in die Lüfte. Dort endlose Quantität - hier unvergleichliche Qualität.

Das Leben Jesu hat so unauslöschliche Spuren hinterlassen in der Geschichte, nicht weil sein Wirken sich in Raum und Zeit so weit erstreckt hätte, sondern weil es so einzigartig war. Er sagt: Meine Worte sind Geist und Leben (Joh. 6,63).

Darum ist das kleine Bändchen mit seinen Worten durch ganze Bibliotheken nicht zu ersetzen. Leben ist göttliche Qualität; wo die fehlt, sucht man die Quantität ins Uferlose zu steigern; man türmt Unternehmung auf Unternehmung und kommt damit doch nicht weiter, als man war. Nicht menschlich gesteigert, sondern göttlich geartet (qualifiziert) war das Leben der Apostel und der ersten Gemeinde.

Leben ist Überfluss aus dem Urquell

Das Leben in Christus zeigt sich in der Ursprünglichkeit seines Wesens, in der Selbstverständlichkeit seines Tuns. Nirgends hat man den Eindruck, dass er sich das Gute abzuringen oder mit Mühe aus sich zu schöpfen braucht: es ist immer ein göttlicher Überfluss des Guten da bei ihm.

Das ist so, weil der Schöpfer selbst in ihm gegenwärtig ist. Sein Überfluss strömt aus dem Reichtum des Urquells. Jesus sagt: »Ich bin gekommen, dass sie das Leben und den Überfluss haben sollen« (Joh. 10,10). Er bringt auch anderen das aus der Fülle des Schöpfers mächtig quellende Leben, das ewige Leben. Das wahre Leben ist göttliches Leben, das in Jesus Christus denen geschenkt wird, die an ihn glauben.

Dieser Lebensbeginn ist gegenwärtig, die Vollendung ist zukünftig. Ein solches Leben ist mehr als die romantische Lebendigkeit oder die Goethe'sche Belebung durch die Antike. Beide suchen aus den verschütteten menschlichen Urkräften zu schöpfen. Weil sie nicht zur göttlichen Quelle durchdringen, lassen sie doch die letzte Ursprünglichkeit vermissen.

Das Leben, das Christus bringt, äussert sich in der mehr als menschlichen Urgewalt der Liebe. »Wir wissen, dass wir aus dem Tod in das Leben gekommen sind, denn wir lieben die Brüder« (1. Joh. 3,14).

Leben ist Zusammenfassung der Gegensätze

Das Leben in Christus zeigt sich daran, dass in ihm die grössten Gegensätze eine völlige Einheit bilden. Das Leben im Organismus fasst die verschiedensten Organe, deren jedes seine ganz besonderen Kräfte und Fähigkeiten hat, zusammen zu einem Ganzen, so dass sie alle in einer Richtung wirken.

Bei Menschen von ausgesprochener Lebendigkeit findet man Charaktereigenschaften, die sich »grundsätzlich« ausschliessen, die aber doch unveräusserlich zu derselben Person gehören. Je grösser die Spannungen zwischen diesen Gegensätzen, um so mehr Grösse und Kraft in einem Leben.

Wie unerhörte Kontraste finden wir in der Art des Menschensohnes!

  • Er hat eine Langmut, die durch nichts aus der Fassung zu bringen ist (wie etwa das Tragen des Unverstandes seiner Jünger), aber zu Zeiten bricht es aus ihm hervor wie aus einem Vulkan (Tempelreinigung).
  • Er kann unermesslich gütig sein, weicher als jede Frau (gegen die Zerbrochenen und Verschüchterten), aber er kann auch stahlhart sein und messerscharf im Kampf (gegen die Heuchler).
  • Er kann zittern und zagen wie das schwächste Kind, und er kann aufrecht, ohne mit einer Wimper zu zucken, jeglicher Gefahr die Stirn bieten.

Das alles hat aber bei ihm einen Sinn und wirkt in einer Richtung. So ist es, weil er das Leben in sich hat. Wo das Leben fehlt, da sind die Gegensätze abgestumpft, oder sie fallen auseinander.

Die gesetzliche (gottferne) Frömmigkeit bewirkt einen Zustand, wo der Mensch weder fähig ist, richtig zu trauern, noch sich zu freuen, weder richtig freundlich zu sein, noch von Grund aus zu zürnen, weder wirklich Geduld zu haben, noch richtig dreinzufahren. Oder es kommt bei gesetzlich (das heisst leblos) Frommen dazu, dass sie einseitig trauern oder zürnen oder freundlich sind.

Der Anschluss an Christus gibt Leben

Ist in der Gemeinde Leben, so sind die verschiedenen Menschen in ihr ganz von selbst beisammen; fehlt das Leben, so sind sie durch nichts zusammenzubringen.

Und nun, Christus sagt: »Ich bin das Leben« (»ich bin der Weinstock«). Das heisst: Wo Menschen den Anschluss an ihn haben, haben auch sie das Leben, ist auch bei ihnen Hoheit über die Umgebung, Freiheit von Verhältnissen; haben auch sie göttliche Qualität und den Überfluss, der aus den Tiefen der Gottheit quillt; sind auch bei ihnen die Gegensätze eins.

Datum: 10.12.2009
Autor: Ralf Luther
Quelle: Neutestamentliches Wörterbuch

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